Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 150/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


I 150/03

Urteil vom 30. September 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Hochuli

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Birmensdorferstrasse 94, 8003 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

betreffend H.________, 1945,

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 4. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1945 geborene, als Maschineningenieur HTL für die Firma X.________ in
B.________ (nachfolgend: Arbeitgeberin) arbeitende H.________ litt anfänglich
nur auf dem linken Auge unter grauem Star, weshalb er sich am 30. Januar 1995
bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug anmeldete. Die
Invalidenversicherung übernahm die am 31. Januar 1995 durchgeführte
linksseitige Kataraktoperation sowie die Nachstarbehandlung vom 17. November
1995 bis 30. Mai 1996 als medizinische Eingliederungsmassnahme (Verfügungen
vom 31. März 1995 und 21. August 1996). Wegen ab Juli 1996 auch auf dem
rechten Auge beginnendem grauem Star reichte der Versicherte am 3. Dezember
2001 ein neues Leistungsgesuch ein. Mit Verfügung vom 19. Februar 2002 lehnte
die IV-Stelle eine Leistungspflicht hinsichtlich der am 21. August 2001
durchgeführten Staroperation am rechten Auge ab, weil der Versicherte für die
Ausübung seiner Erwerbstätigkeit nicht auf Binokularsehen angewiesen sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der HELSANA Versicherungen AG (nachfolgend:
HELSANA; obligatorische Krankenpflegeversicherung des H.________) hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 4. Februar 2003 gut und
wies die IV-Stelle an, "die medizinischen Massnahmen im Zusammenhang mit der
Kataraktoperation rechts vom 21. August 2001 zu gewähren".

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids.

Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichten die HELSANA und der Versicherte auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Invaliditätsbegriff
(Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen des Anspruchs auf
Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und den Anspruch
auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG) zutreffend
dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen dazu, dass Art. 12 IVG
namentlich die gegenseitige Abgrenzung der Aufgabenbereiche der
Invalidenversicherung einerseits sowie der Kranken- und Unfallversicherung
andererseits bezweckt (BGE 104 V 81 Erw. 1 mit Hinweis), dass die Übernahme
der Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art.
12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit
Hinweisen), dass aber eine Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener
Sehfähigkeit des anderen Auges nur dann von der Invalidenversicherung
übernommen werden kann, wenn der Defekt die versicherte Person dermassen in
der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des
Eingriffs die Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre (AHI 2000 S.
296 f. Erw. 4b). Darauf wird verwiesen.

1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in
Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: vom 19. Februar 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt
(BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember
2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Fest steht, dass bei H.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde
vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b,
97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen).
Unbestritten ist ferner, dass das Alter des Versicherten - er befand sich im
massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (19. Februar 2002) in seinem
58. Lebensjahr - der Übernahme der Kataraktoperation vom 21. August 2001
durch die Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit
des zu erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegen steht (BGE 101 V 50
Erw. 3b).

3.
Das kantonale Gericht vertrat die Auffassung, das Tätigkeitsspektrum des
Versicherten bedürfe keiner weiteren Abklärung, da gestützt auf dessen
Angaben gegenüber der HELSANA gemäss Bericht vom 10. Juni 2002 davon
auszugehen sei, dass er in erheblichem Ausmass Bildschirmarbeiten zu
verrichten habe und insbesondere bei CAD-Anwendungen (Computer Aided Design)
auf räumliches Sehen angewiesen sei. Dagegen wendet das Beschwerde führende
BSV ein, obwohl CAD-Programme dreidimensionale Eindrücke von körperlichen
Gegenständen vermitteln könnten, würden solche mit Hilfe des Computers
erzeugte Bilder auf dem Bildschirm zweidimensional dargestellt, weshalb zur
Wahrnehmung dieser Darstellungen gerade kein räumliches Sehvermögen
erforderlich sei. Der Versicherte sei nicht auf Binokularsehen angewiesen und
auch der Blendeffekt habe keine wesentliche Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit zur Folge. Aus medizinischer Sicht habe die Indikation zur
Durchführung der Kataraktoperation zweifellos bestanden.

Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit des Versicherten beantwortet werden kann.

3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung
zur Übernahme der Kataraktoperation am zweiten Auge (vgl. AHI 2000 S. 294) im
Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend, dass die Staroperation am
zweiten Auge (nach erfolgter Übernahme am ersten Auge) - bei Erfüllung der
übrigen Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische
Eingliederungsmassnahme durch die Invalidenversicherung zu übernehmen ist,
wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im Rahmen des
ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser Tätigkeiten die
Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht bejaht wird. In
denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische Mindestanforderungen an
die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf diese Visusgrenzwerte
abzustellen, so dass sich in erwerblicher Hinsicht eine detaillierte
Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.

3.2 Den Akten ist nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V
195 Erw. 2, je mit Hinweisen) zu entnehmen, welche konkreten Tätigkeiten
H.________ im Rahmen seiner Berufsausübung zu verrichten hat. Alle
aktenkundigen Hinweise auf die einzelnen Aufgaben im Rahmen seiner Anstellung
bei der Arbeitgeberin beruhen ausschliesslich auf seinen eigenen
Beschreibungen gegenüber der HELSANA. Die Bystronic Laser AG äusserte sich
bisher nicht zur Art der Beschäftigung. Unklar ist auch, ob - und
gegebenenfalls in welchem Ausmass - der Versicherte einzelne Aufgaben an
Mitarbeiter delegieren kann. Die Angaben des H.________ vom 10. Juni 2002,
auf welche die Vorinstanz abstellte, bedürfen in dieser Hinsicht ergänzender
Abklärungen. Die Verwaltung, an welche die Sache vorweg zu diesem Zweck
zurückzuweisen ist, wird deshalb in geeigneter Form - z.B. durch Einholung
eines Pflichtenheftes und Befragung der Arbeitgeberin - das
Tätigkeitsspektrum des Versicherten abklären.

3.3
Steht fest, welches die visuell anspruchvollste Tätigkeit des H.________ ist,
wird die IV-Stelle einen fachärztlichen Bericht zur diesbezüglichen
Notwendigkeit des Binokularsehens einholen, der nicht allein auf die
subjektiven Angaben des Versicherten abstellt, sondern vielmehr für die
streitigen Belange umfassend ist, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben wird und der
konkreten medizinischen Situation Rechnung trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353
Erw. 3a). Soweit der einseitige Ausfall der Sehfähigkeit durch Angewöhnung an
den Verlust des stereoskopischen Sehens zumutbarerweise kompensiert werden
kann (vgl. z.B. die viermonatige Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in
der Führerausweis-Kategorie B gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober
1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV;
SR 741.51]), hat dies der Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu
Stellung zu nehmen. Zusätzlich wird er die Frage betreffend die Auswirkungen
von störenden Blendeffekten beantworten müssen. Erfolgt die augenärztliche
Beurteilung dieser Fragen - wie hier - erst nach bereits durchgeführter
Operation, sind sie medizinisch prognostisch aufgrund der Verhältnisse vor
der fraglichen Operation (AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen) zu
beantworten, wobei es zur Aufgabe des Arztes oder der Ärztin gehört, dazu
Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die
versicherte Person ohne die am 21. August 2001 durchgeführte Staroperation am
rechten Auge arbeitsunfähig geworden wäre (vgl. BGE 125 V 261 Erw. 4 mit
Hinweisen).

3.4 Fehlt es an den erforderlichen Grundlagen zur Beantwortung der Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit des Versicherten (vgl. Erw. 3.2 hievor), sind der angefochtene
Entscheid und die Verwaltungsverfügung aufzuheben. Die Sache ist an die
IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese bei den ergänzenden Abklärungen nach
den Erwägungen Ziffer 3.1 bis 3.3 vorgehen und anschliessend über das
Leistungsgesuch betreffend die am 21. August 2001 durchgeführte Staroperation
am rechten Auge neu verfügen wird.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen,
dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 4. Februar
2003 und die Verwaltungsverfügung vom 19. Februar 2002 aufgehoben werden und
die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird, damit sie, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über das Leistungsgesuch
betreffend die am 21. August 2001 durchgeführte Staroperation am rechten Auge
neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und der IV-Stelle Bern
zugestellt.

Luzern, 30. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: