Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 145/2003
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I 145/03

Urteil vom 27. August 2003
II. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber
Schmutz

S.________, 1972, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 26. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1972 geborene S.________ ist gelernte Tiefbauzeichnerin. Sie verliess den
Lehrbetrieb im Sommer 1993 ein Jahr nach dem Lehrabschluss, und wechselte auf
den 1. August 1994 zur Firma X.________ AG, Ingenieure und Planer. Auf Grund
der schlechten Auftragslage wurde das Arbeitsverhältnis per 31. Dezember 1996
aufgelöst. Ab dem 1. Januar 1997 bis zum 30. September 1999 war die
Versicherte mit einem Beschäftigungsgrad von 50 % als Zeichnerin bei der
Firma Y.________ AG angestellt. Hinzu kamen Taggelder der
Arbeitslosenversicherung. Am 5. Februar 1997, 19. April 1997 und 16. Mai 1997
war sie als Beifahrerin und als Fahrerin von Personenwagen an
Verkehrsunfällen beteiligt und erlitt jeweils ein HWS-Distorsionstrauma. Es
entwickelten sich ein rechtsbetontes chronisches Zervikobrachialgiesyndrom
und eine funktionelle Armschwäche rechts. Seit April 1998 ist sie in
regelmässiger psychiatrischer Behandlung. Der Hausarzt Dr. med. Z.________
und der Psychiater Dr. med. T.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, schätzten die Versicherte ab dem 29. März 1999 und bis auf
weiteres als vollständig arbeitsunfähig ein. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) erbrachte die gesetzlichen Leistungen und
schloss den Fall ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern am 27. Oktober 2000 ab. Im Oktober 1999
meldete sich S.________ bei der Invalidenversicherung an und beantragte
Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit sowie eine Invalidenrente.
Vor dem Erlass einer Leistungsverfügung liess sie den Antrag auf berufliche
Massnahmen durch ihren Rechtsvertreter zurückziehen und dafür gesundheitliche
Gründe geltend machen. Mit Verfügung vom 22. Mai 2002 sprach ihr die
IV-Stelle Bern gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 50 % ab 1. Dezember
1998 eine halbe Invalidenrente mit der entsprechenden Zusatzrente für den
Ehegatten zu. Sie stützte ihren Entscheid im Wesentlichen auf das vom Zentrum
für Medizinische Begutachtung (ZMB) zuhanden der IV-Stelle erstellte
MEDAS-Gutachten vom 23. August 2001.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 26. Januar 2003 ab.

C.
S.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Invalidenversicherung zu
verpflichten, ihr ab 29. März 1999 an Stelle der halben eine ganze Rente
auszurichten; eventuell seien zusätzliche medizinische Abklärungen
vorzunehmen.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 22. Mai
2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im
vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen
anwendbar.

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff
der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28
Abs. 1 und 1bis IVG), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen
Versicherten (Einkommensvergleichsmethode [Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 104 V 136
Erw. 2a und b]) sowie zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 105 V 158 Erw.
1) und zum Beweiswert ärztlicher Berichte (BGE 125 V 352 f. Erw. 3 mit
Hinweisen) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente hat. Dem Grundsatz nach nicht mehr streitig ist der Anspruch
auf eine halbe Invalidenrente für die Zeit vom 1. Dezember 1998 bis zum 29.
März 1999 (vgl. aber Erw. 5-7).

4.
Die Beschwerdeführerin bringt vor, das MEDAS-Gutachten vom 23. August 2001,
auf das Verwaltung und Vorinstanz sich bei ihren Entscheiden abstützten,
stehe hinsichtlich der Frage der Restarbeitsfähigkeit im Widerspruch zu den
Aussagen in sämtlichen anderen ärztlichen Stellungnahmen und berücksichtige
auch die ab Ende März 1999 eingetretene erhebliche Verschlechterung ihres
Gesundheitszustandes nicht.

4.1 In dem betreffenden Gutachten attestierte die Kommission für medizinische
Begutachtung des ZMB der Beschwerdeführerin eine kombinierte
Persönlichkeitsstörung mit histrionischen, paranoiden und zwanghaften
Anteilen sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Sie beurteilte sie
auf Grund der psychiatrischen und psychosomatischen Symptomatik in ihrer
(früheren) Tätigkeit als Tiefbauzeichnerin zu 50 % eingeschränkt. Es sei der
Versicherten eine Willensanstrengung zur mindest partiellen Überwindung ihres
psychischen Leidens zumutbar und die Reintegration im Arbeitsprozess liege
auch in ihrem eigenen psychohygienischen Interesse. Die Gutachter räumten
ein, dass der Versicherten eine eher ungünstige Prognose zu stellen sei. Da
bei ihr eine deutlich verminderte Belastbarkeit bestehe, sei sie in ihrem
Rendement um 50 % reduziert, wobei eine vollschichtige Tätigkeit in einer
psychologisch verständnisvollen Umgebung, die auf Aggressionen nicht mit
Gegenaggressionen reagiere, geeignet wäre.

4.2 Im Gegensatz dazu schätzten der Hausarzt Dr. med. Z.________  und der
Psychiater Dr. med. T.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, die Versicherte ab dem 29. März 1999 bis auf weiteres als
vollständig arbeitsunfähig ein (Arztberichte vom 20. September 1999, 15.
Oktober 1999 und 25. Oktober 1999).

4.3 Der nächstbehandelnde Psychiater, Dr. med. M.________, Spezialarzt FMH
für Psychiatrie und Psychotherapie, attestierte der Beschwerdeführerin am 11.
November 2001 eine medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit von höchstens 25
% für eine leichtere, den Beschwerden optimal angepasste Arbeit. Er gab an,
die Versicherte habe wiederholt an ihre Ausbildung als Tiefbauzeichnerin
anzuknüpfen versucht. Da das räumliche Vorstellungsvermögen versage, könne
sie zwar noch Grundrisse erstellen, hingegen keine Schnittebenen mehr. Wegen
der ausgeprägten gesundheitlichen Einschränkungen, die sich in den
neurologischen Tests dargestellt hätten, sei eine Rückkehr in den alten Beruf
nicht mehr möglich.

5.
Die Vorinstanz befand, das MEDAS-Gutachten erfülle sämtliche von der
Rechtsprechung (vgl. den Hinweis in Erw. 2) geforderten Kriterien, und mass
ihm vollen Beweiswert zu. Den Arztberichten der Dres. med. Z.________,
T.________ und M.________ sprach sie denselben ab. Diese vorinstanzliche
Beweiswürdigung ist aus den nachfolgenden Gründen nicht zu schützen.

5.1 So leuchtet nicht ein, warum die Berichte der Dres. med. Z.________ und
T.________ vom 20. September 1999, 15. Oktober 1999 und 25. Oktober 1999
weniger aktuell - und darum weniger beweiskräftig - sein sollten als das im
August 2001 erstellte MEDAS-Gutachten, war doch über die Frage einer
Rentenzusprechung ab dem 1. Dezember 1998 zu entscheiden. Auch wenn das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung eingetretenen
Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b) (vgl. Erw. 1), so ist - wie die
Vorinstanz zu Recht darauf hingewiesen hat - für die Vornahme des
Einkommensvergleichs grundsätzlich auf die Gegebenheiten im Zeitpunkt des
(hypothetischen) Rentenbeginns abzustellen (128 V 174 Erw. 4a). Zu diesen
Gegebenheiten gehören nicht nur die Verdienstmöglichkeiten, sondern auch die
gesundheitlich-medizinischen Verhältnisse.

5.2 Zudem haben die beiden Ärzte ihre Schätzung (vollständige
Arbeitsunfähigkeit bis auf weiteres ab 29. März 1999) näher begründet. Der
blosse Hinweis im angefochtenen Entscheid auf die "Erfahrungstatsache der im
Hinblick auf die auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher
zu Gunsten der Patienten ausfallenden Aussagen" ersetzt nicht eine
inhaltliche Würdigung der gemachten Angaben. Ausschlaggebend für den
Beweiswert eines ärztlichen Berichts ist nach der Rechtsprechung (vgl. Erw.
2) grundsätzlich weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung
der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder
Gutachten. Nach dem für das Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren geltenden
Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit
Art. 113 und 132 OG) hat das Gericht die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an
förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Bei
einander widersprechenden medizinischen Berichten darf es den Prozess nicht
erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe
anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die andere medizinische These
abstellt (vgl. Erw. 2).

5.3 Im MEDAS-Gutachten wurden die neuropsychologischen
Untersuchungsergebnisse als chaotisch umschrieben, weshalb das
neuropsychologische Testprofil nicht direkt auszuwerten war. Während sich im
Intelligenzbereich eher knapp durchschnittliche Leistungen zeigten, waren
viele Testresultate extrem stark unterdurchschnittlich und konnten nicht
interpretiert werden.

5.4 Es ist im Zusammenhang mit der Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr der
Beschwerdeführerin in den früheren Beruf einer Tiefbauzeichnerin von grosser
Relevanz, ob sie über die für eine solche Tätigkeit notwendigen
intellektuellen Fähigkeiten vorübergehend oder auf Dauer nicht mehr verfügt.
Dr. med. M.________ hat ihr dies in seiner Stellungnahme vom 11. November
2001 zum MEDAS-Gutachten (vgl. Erw. 4.3) abgesprochen und ausdrücklich
angeführt, wegen der ausgeprägten gesundheitlichen Einschränkungen, die sich
in den neurologischen Tests dargestellt hätten, sei ihr eine Rückkehr in den
alten Beruf nicht mehr möglich. Auch in einer leichteren, optimal angepassten
Tätigkeit sei sie nur zu 25 % arbeitsfähig. Die Vorinstanz hat keine Gründe
dafür angegeben, warum sie auf die These der ZMB-Gutachter abstellte und
nicht auf die Einschätzung des behandelnden Psychiaters. Wenn sie dazu
lediglich anführte, Dr. med. M.________ bringe medizinisch keine neuen
Aspekte ein und äussere sich nur pauschal zur Arbeitsfähigkeit, so genügt
dies den im vorliegenden Zusammenhang zu stellenden Anforderungen an eine
inhaltliche Auseinandersetzung mit den gemachten Aussagen nicht, umso mehr,
als selbst die ZMB-Gutachter für eine Rückkehr in den angestammten Beruf
einschränkende Rahmenbedingungen vorsahen ("Rendement von 50 % bei einer
vollschichtigen Tätigkeit in einer psychologisch verständnisvollen Umgebung")
und zusätzlich einräumten, der Versicherten sei eine eher ungünstige Prognose
zu stellen.

5.5 Im Gutachten wurde zudem klar gemacht, dass bei der Erstellung des
psychiatrischen Status Hinweise auf eine bewusste Aggravation oder ein
bewusstes demonstratives Verhalten der Beschwerdeführerin gefehlt hätten, und
dass eine psychopathologische Störung mit erheblichem Krankheitswert bestehe.
Dass hier noch ein zusätzlicher medizinischer Abklärungsbedarf besteht, zeigt
sich auf Grund der im Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren eingelegten
Stellungnahme von Prof. Dr. F.________, Leiter der Psychologischen Diagnostik
des Instituts für Psychologie Q.________, vom 21. Februar 2002, in welcher
sich dieser gegenüber Dr. med. M.________ sehr kritisch zu der ihm
unterbreiteten neuropsychologischen MEDAS-Begutachtung äusserte.

6.
Die Vorinstanz erwog des Weiteren, ohne es näher zu begründen, dass die
Beschwerdeführerin auch in einer Verweisungstätigkeit eine 50-prozentige
Arbeitsfähigkeit zuzumessen sei. Es geht aus den Akten oder dem angefochtenen
Entscheid jedoch nicht hervor, welche anderweitige Tätigkeit die
Beschwerdeführerin ausführen könnte, bei der sie wie im Einkommensvergleich
der kantonalen Instanz ein Einkommen gemäss Anforderungsniveau 3 ("Berufs-
und Fachkenntnisse vorausgesetzt") der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung
(LSE) erzielen könnte. Soweit die vorliegend bekannten Umstände eine
Beurteilung zulassen, ist es jedoch als unwahrscheinlich zu bezeichnen, dass
die Beschwerdeführerin ohne Umschulung ausserhalb der angestammten Tätigkeit
als Tiefbauzeichnerin weiterhin ein Einkommen nach dem Anforderungsniveau 3
erzielen könnte. Sollte es sich auf Grund der noch notwendigen Klärung
medizinischer Fragen erweisen, dass die Beschwerdeführerin in ihrer
angestammten Tätigkeit nicht mehr einsetzbar ist, wird im Einkommenvergleich
das tabellarische Invalideneinkommen nach dem Anforderungsniveau 4 ("Einfache
und repetitive Tätigkeiten") zu berücksichtigen sein, oder es ist zu
begründen, warum die Beschwerdeführerin in einer Verweisungstätigkeit ohne
Ausbildung das (hypothetische) Einkommen einer Person mit Berufs- und
Fachkenntnissen in dieser Verweisungstätigkeit erzielen könnte.

7.
Bei dieser Aktenlage bedarf es der Klärung der offenen Fragen gemäss Erwägung
6 durch die Verwaltung, welche hernach, soweit dieser nach Erwägung 3 noch
streitig ist, erneut über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine ganze
Invalidenrente befinden wird.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 26. Januar 2003 sowie die
Verfügung der IV-Stelle Bern vom 22. Mai 2002 aufgehoben werden und die Sache
an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird, damit diese, nach erfolgten
Abklärungen im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Verfahrens zu befinden haben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 27. August 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der II. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: