Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 102/2003
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I 102/03

Urteil vom 12. Januar 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari und nebenamtlicher Richter
Weber; Gerichtsschreiberin Durizzo

B.________, 1948, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Peter von
Moos, Kasernenplatz 2, 6003 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 23. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
B. ________, geboren 1948, leidet seit ihrer Kindheit an starken
Hüftbeschwerden (Epiphysenlösung). Seit 1975 war sie in einem Elektrogeschäft
als Verkäuferin und Büroangestellte und, nach kontinuierlicher Reduzierung
der Ladenöffnungszeiten, seit 1984 zusätzlich als Raumpflegerin tätig.
Nachdem sich erwiesen hatte, dass sie sich einer Operation mit Einsatz einer
Hüftprothese würde unterziehen müssen, meldete sie sich am 3. März 1995 zum
Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 16.
Dezember 1996 sprach ihr die IV-Stelle Luzern mit Wirkung ab 1. Juni 1996
eine Viertelsrente bzw. bei Vorliegen eines wirtschaftlichen Härtefalles eine
halbe Invalidenrente zu. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens ergab sich, dass
der Versicherten die Arbeitsstelle im Elektrogeschäft per Ende Februar 2000
gekündigt worden und sie nunmehr nur noch als Raumpflegerin bei verschiedenen
Arbeitgebern, auf Grund ihrer gesundheitlichen Probleme mit reduziertem
Pensum, tätig war. Nach Einschätzung der von der IV-Stelle beauftragten
Gutachter der BEFAS Beruflichen Abklärungsstelle Stiftung X.________ war
B.________ nur noch eine leichte, wechselbelastende Tätigkeit mit einem
Pensum von 20 % zumutbar, die aktuell ausgeübte Arbeit im Reinigungsdienst
nur in einem beschützenden Umfeld, d.h. in Zusammenarbeit mit einer Kollegin
möglich (Abklärungsbericht vom 18. Juli 2001). Demgegenüber ermittelte die
IV-Stelle auf Grund der offenbar tatsächlich ausgeübten Tätigkeit einen
Invaliditätsgrad von 64 % und sprach der Versicherten mit Verfügung vom 26.
Oktober 2001 eine halbe Invalidenrente zu.

B.
B.________ liess beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Beschwerde
erheben mit dem Antrag, die Verfügung vom 26. Oktober 2001 aufzuheben und den
Invaliditätsgrad auf 80 % festzusetzen. Das Gericht holte weitere
Lohnauskünfte der verschiedenen Arbeitgeber ein und ermittelte gestützt auf
diese Erhebungen einen Invaliditätsgrad von 65,34 %, weshalb es die
Beschwerde mit Entscheid vom 23. Dezember 2002 abwies.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, den
Entscheid der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an sie
zurückzuweisen. Während die IV-Stelle Luzern auf Abweisung schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung. In
ihrer Replik hält die Beschwerdeführerin an ihren Ausführungen fest und
beanstandet insbesondere, dass ihre Arbeitskollegin von der Vorinstanz nicht
als Zeugin befragt worden sei.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zu den
Voraussetzungen und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
IVG), zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten
nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; vgl. auch BGE 104 V
136 Erw. 2a und b), zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, je mit
Hinweisen) und zur richterlichen Beweiswürdigung von Arztberichten (RKUV 1991
Nr. U 133 S. 312; vgl. auch BGE 125 V 352 Erw. 3a und b) richtig dargelegt.
Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz
über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach Erlass der streitigen
Verfügung (hier 26. Oktober 2001) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

2.
Die Vorinstanz ist gestützt auf die von ihr eingeholten Lohnauskünfte zum
Schluss gekommen, dass die Beschwerdeführerin im Jahr 2001 effektiv
durchschnittlich 16,31 Stunden pro Woche als Raumpflegerin gearbeitet habe,
und hat angenommen, dass ihr eine Erwerbstätigkeit in diesem Umfang auch
zumutbar sei.

2.1 Nach den Bescheinigungen der Arbeitgeber hat die Versicherte im Jahr 2001
bei der K.________ Fr. 11'921.85 und bei der A.________ AG Fr. 2'394.25
verdient. Bei der P.________ AG erzielte sie nach den Berechnungen des
kantonalen Gerichts einen Lohn von Fr. 4'215.-. Diese gab jedoch gar kein
konkretes Jahreseinkommen an. Bei den offenbar geleisteten 148 Arbeitsstunden
und einem Lohn von Fr. 26.- pro Stunde ergibt sich unter Berücksichtigung
einer Gratifikation von Fr. 185.- ein Jahreslohn von Fr. 4'033.-, bei einem
Stundenlohn von Fr. 26.25 resultiert lediglich eine Differenz von Fr. 37.-.
Angesichts der nur geringen prozentualen Abweichung des von der Vorinstanz
ermittelten Invaliditätsgrades von 65,34 % zu einem solchen von 66,66%,
welcher Anspruch auf eine ganze Invalidenrente geben würde, ist das
Invalideneinkommen möglichst genau zu ermitteln. Die Vorinstanz wird daher
bei der P.________ AG nochmals die (bis dato unbeantwortete) Frage nach dem
(Brutto-)Lohn der Beschwerdeführerin für das Jahr 2001 zu stellen haben.

2.2 Die Beschwerdeführerin hat bereits im vorinstanzlichen Verfahren geltend
gemacht, dass sie ihre Pensen bei den Firmen K.________ und P.________ AG nur
habe erfüllen können, weil sie sich die Arbeit mit ihrer Freundin M.________
habe teilen und diese sie sporadisch bei gesundheitlichen Ausfällen habe
ersetzen können. Letztere hätten sich bei der P.________ AG im Jahr 2001 so
stark gehäuft, dass die Freundin schliesslich permanent die Hälfte der Arbeit
erledigt habe. M.________ hat dies am 29. August 2002 und am 31. Januar 2003
schriftlich bestätigt. Das kantonale Gericht hat diese Angaben als nicht
massgebend bezeichnet, da der Arbeitgeber keine krankheitsbedingten
Abwesenheiten genannt habe und die Angaben von M.________ weder mit einer
Lohnbestätigung noch sonstwie spezifiziert würden. Wenn sie jedoch schon
eigene Erhebungen zur Feststellung des Invalideneinkommens durchführt, hätte
die Vorinstanz nach dem im Sozialversicherungsprozess herrschenden
Untersuchungsgrundsatz (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit
Hinweisen) auch der Behauptung nachgehen müssen, das bei der K.________ und
bei der P.________ AG erzielte Erwerbseinkommen habe die Versicherte zusammen
mit M.________ erwirtschaftet. Dass die Beschwerdeführerin bei
krankheitsbedingten Ausfällen offenbar selber einen Ersatz gesucht hat, um
nicht den Arbeitgeber zu behelligen, mag zwar arbeitsvertragsrechtlich im
Lichte von Art. 321 OR nicht unproblematisch sein. Jedoch kann dies gerade
bei der Reinigung von Büroräumlichkeiten nicht als völlig unüblich bezeichnet
werden, da der Arbeitgeber dort häufig gar keinen intensiven direkten Kontakt
mit dem Reinigungspersonal hat, zumal dieses seine Arbeit häufig erst nach
den üblichen Büroöffnungszeiten ausübt. In ihrem Schreiben vom 31. Januar
2003 ergänzt M.________ denn auch, dass sie von der Beschwerdeführerin selbst
bezahlt worden und der Arbeitgeber darüber nicht orientiert gewesen sei.
Entsprechende Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit einer Kollegin waren im
Übrigen bereits im Abklärungsbericht der BEFAS enthalten. Nach Einschätzung
von deren Gutachtern kann die Beschwerdeführerin schliesslich in einer
leidensangepassten leichten, wechselbelasteten Tätigkeit lediglich ein Pensum
von maximal 20 % leisten. Auch diese Angaben hätten für die Vorinstanz Anlass
sein müssen, das von ihr ermittelte Invalideneinkommen zu hinterfragen,
weicht die Arbeitsunfähigkeit gemäss beruflicher und ärztlicher Abklärung
doch erheblich von dem von ihr errechneten Invaliditätsgrad ab.

2.3 Die Angelegenheit ist daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Es
wird in geeigneter Form (Zeugenbefragung oder allenfalls Einholen von
schriftlichen Auskünften auf konkret formulierte Fragen) bei M.________ in
Erfahrung zu bringen haben, in welchem Ausmass sie tatsächlich im Jahr 2001
als Ersatz für die Beschwerdeführerin tätig gewesen ist und in welchem
Ausmass sie von ihr direkt entschädigt wurde.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt schliesslich die vorinstanzliche Ermittlung des
Valideneinkommens und macht geltend, sie würde ohne Behinderung zu 100 % als
Verkäuferin arbeiten. Wie das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, ist
für die Ermittlung des Einkommens, welches die versicherte Person ohne
Invalidität erzielen könnte (Valideneinkommen), entscheidend, was sie im
massgebenden Zeitpunkt nach dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich verdienen würde (RKUV 1993 Nr. U
168 S. 100 f. Erw. 3b mit Hinweis). Die Einkommensermittlung hat so konkret
wie möglich zu erfolgen. Es ist daher in der Regel vom letzten Lohn vor
Eintritt der Gesundheitsschädigung auszugehen (ZAK 1980 S. 593 mit Hinweisen;
Meyer-Blaser, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in:
Murer/Stauffer [Hrsg.], Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, S. 205). Bereits in ihrer Anmeldung
bei der Invalidenversicherung gab die Beschwerdeführerin an, sie sei zu ca.
60 % bei der Firma E.________ im Verkauf und im Büro und daneben als
Raumpflegerin tätig. Dass die Vorinstanz darauf abgestellt hat, ist daher
nicht zu beanstanden. Die Höhe des mit Fr. 53'470.30 ermittelten
Valideneinkommens ist nach dem unter Erwägung 2.1 Gesagten jedoch insofern
nicht richtig, als der bei der P.________ AG erzielte, auch hier relevante
Verdienst noch zu überprüfen und entsprechend zu berücksichtigen ist.

4.
Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung von
Versicherungsleistungen, weshalb von der Erhebung von Gerichtskosten
abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist der
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 23. Dezember 2002
aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie,
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu
entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Luzern hat B.________ für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
der AHV-Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes, Bern, und dem Bundesamt
für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 12. Januar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: