Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 100/2003
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I 100/03

Urteil vom 8. Oktober 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Hadorn

A.________, 1968, Beschwerdeführerin, vertreten durch
das Sozialdepartement der Stadt Zürich, Zentrale Ressourcendienste,
Rechtsdienst, Badenerstrasse 65, 8039 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 12. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
Die 1968 geborene A.________ arbeitete unter anderem von 1. Mai 1991 bis 31.
Januar 1992 als kaufmännische Angestellte in der Firma W.________ S.A. Von
Februar 1992 bis Juni 1993 bezog sie Arbeitslosenentschädigung. In den Jahren
1993 und 1994 war sie verschiedenenorts temporär angestellt. Am 17. Juli 2000
meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Zürich holte verschiedene medizinische Unterlagen ein,
darunter ein Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (Medas) vom 5.
September 2001. Mit Verfügung vom 6. März 2002 sprach die IV-Stelle  bei
einem Invaliditätsgrad von 50 % eine halbe IV-Rente ab 1. Mai 2001 zu.

B.
Beschwerdeweise liess A.________ die Zusprechung einer ganzen IV-Rente sowie
eventualiter berufliche und medizinische Eingliederungsmassnahmen beantragen.
Nach Durchführung einer beruf-lichen Abklärung hielt  nur noch am Antrag auf
eine ganze IV-Rente fest und reichte einen Bericht des Dr. med. L.________,
Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker, vom 29.
August 2002 ein. Mit Entscheid vom 12. Dezember 2002 wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.

C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es sei
ihr ab 1. Mai 2001 eine ganze IV-Rente aus-zurichten. Eventuell sei die Sache
zwecks Einholen eines Obergutachtens an die Verwaltung zurückzuweisen.
Ausserdem lässt A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
ersuchen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzlichen
Vo-raussetzungen für den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung
(Art. 4 Abs. 1 IVG, Art. 28 Abs. 1, 1bis und 2 IVG) sowie die Rechtsprechung
zum Beweiswert medizinischer Unterlagen (BGE 125 V 352 Erw. 3a), zu den
geistigen Gesundheitsschäden (BGE 127 V 298 Erw. 4c) und zum
Einkommensvergleich (BGE 126 V 77 f. Erw. 3b/bb) richtig dargelegt. Darauf
wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall
nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (hier: 6. März 2002) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine ganze IV-Rente.

2.1 Auf Grund der insoweit übereinstimmenden medizinischen Unter-lagen ist
ausgewiesen, dass in schweren Berufen eine volle Arbeitsunfähigkeit besteht,
die somatischen und rheumatologischen Beschwerden hingegen in leichten und
mittelschweren Tätigkeiten keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
verursachen. Die Versicherte begründet ihren Rentenanspruch vielmehr mit den
psychischen Leiden. Diesbezüglich hat die Medas  im Gutachten vom 5.
September 2001 auf eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % in leichten und
mittelschweren Berufen geschlossen. Demgegenüber ging Dr. med. L.________ im
Bericht vom 29. August 2002 von einer vollen Arbeitsunfähigkeit in jeglicher
Beschäftigung aus. Während die Vorinstanz auf das Gutach-ten der Medas
abstellte und den Bericht von Dr. L.________ als nicht überzeugend verwarf,
macht die Beschwerdeführerin geltend, sie sei aus psychischen Gründen voll
arbeitsunfähig. Dr. L.________ habe seinen Bericht nach vier Gesprächen mit
ihr verfasst, während Dr. med. K.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, sie an der Medas nur einmal untersucht habe. Selbst dieser
Arzt attestiere ihr eine 50%ige Restarbeitsfähigkeit nur unter der Bedingung,
dass sie vorher ein Arbeitstraining durchführe. Sodann sei zu beachten, dass
sie seit 1994 keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt habe. Falls nicht auf den
Bericht von Dr. L.________ abgestellt werden könne, sei ein Obergutachten zu
den Widersprüchen zwischen seinem Bericht und dem Gutachten der Medas
einzuholen.

2.2 In seinem Gutachten vom 5. Juli 2001, welches in die erwähnte Expertise
vom 5. September 2001 Eingang fand, führt Dr. med. K.________ aus, die
Beschwerdeführerin sei eine auffällige Persönlichkeit mit insbesondere
emotionell instabilen, ängstlichen und schizoiden Zügen. Wegen ihrer
Schmerzen leide sie zudem an Angstzuständen. Sie könne einerseits
misstrauisch, schroff und abweisend sein, anderseits auch nahe und
vertraulich mit einer Neigung zu raschen Stimmungswechseln. Daher sei sie
voraussichtlich für einen Arbeitgeber und seine Angestellten nicht leicht zu
ertragen. Ein Arbeitstraining mit geduldiger psychologischer Führung könne
ihr den Wiedereinstieg in eine Erwerbstätigkeit erleichtern. Die
Arbeitsunfähigkeit als kaufmännische Angestellte betrage aus psychiatrischer
Sicht 50 %. Das Medas-Gutachten schliesst mit der Prognose, dass trotz der
langjährigen fehlenden Erwerbstätigkeit durch Psychotherapie und
Arbeitstraining eine wenigstens 50%ige Arbeitsfähigkeit wieder erreicht
werden könne.

2.3 Dr. med. L.________ gibt in seinem Bericht vom 29. August 2002 an, die
minutiöse Erhebung der Lebensgeschichte der Beschwerdeführerin habe Neues zum
Vorschein gebracht. Die Versicherte sei in allen Schulen ausgelacht,
gehänselt und geschlagen worden, was zu einer Ausgrenzung und Isolation
geführt habe. Die Eltern hätten dies nicht erkannt, vorwiegend die
somatischen Leiden gesehen und mit der Überweisung in Privatschulen und
Überprotektion reagiert. Erst mit dieser Erkenntnis, dass die
Beschwerdeführerin eine über Jahre hinaus traumatisierte Person sei, liessen
sich die medizinischen Beobachtungen richtig interpretieren. Bisher habe die
Versicherte keine Gelegenheit erhalten, ihre Traumatisierungen zu
verarbeiten. Daher sei sie im Moment als zu 0 % arbeitsfähig zu betrachten.
Von einer psychoanalytischen Psychotherapie könne sie bestimmt profitieren.
Es gehe dabei allerdings um eine langdauernde Behandlung, weshalb sich über
deren Erfolg keine verlässliche Prognose stellen lasse.

2.4 Das Gutachten der Medas beruht auf einer polydisziplinären und
umfassenden Abklärung. Es berücksichtigt insbesondere auch die Kindheit und
das gegenwärtige soziale Umfeld der Beschwerdeführerin sowie die psychischen
Folgen ihrer gescheiterten Ehe. Demgegenüber begründet Dr. L.________ die
vollständige Arbeitsunfähigkeit der Versicherten ausschliesslich mit der
traumatisch verlaufenen, nicht verarbeiteten Jugendzeit. Diese Auffassung
überzeugt nicht, weil die Beschwerdeführerin trotz der von Dr. L.________
erwähnten Traumatisierungen aus ihrer Jugendzeit als junge Frau während
mehrerer Jahre erwerbstätig sein konnte, was gegen die Annahme einer von der
Kindheit herrührenden vollständigen Arbeitsunfähigkeit spricht. Demgegenüber
trägt die Beschreibung der Persönlichkeitsstörung in der medizinischen
Beurteilung durch Dr. K.________ der gesundheitlichen Situation umfassend
Rechnung. Dass die Versicherte diesen Arzt nur einmal, Dr. L.________
hingegen viermal gesehen habe, lässt nicht den Schluss zu, das Gutachten der
Medas sei qualitativ schlechter ausgefallen als der Bericht des Dr.
L.________. Zudem betonen sowohl die Medas wie Dr. L.________, dass eine
adäquate Psychotherapie angezeigt sei und der Gesundheitszustand sich noch
verbessern lasse. Im Rahmen der allen Versicherten obliegenden
Schadenminderungspflicht (BGE 123 V 233 Erw. 3c) ist die Beschwerdeführerin
gehalten, sich den geeigneten Therapien zu unterziehen. Dass sie seit
längerer Zeit nicht mehr erwerbstätig war, ist nicht einfach einer
Invalidität gleichzusetzen. Vielmehr wurde dieser Umstand von der Medas in
ihrer Prognose berücksichtigt. Nach dem Gesagten erscheint die von der Medas
genannte Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer zumutbaren Tätigkeit der
Situation der Versicherten angemessen, ohne dass weitere medizinische
Auskünfte einzuholen wären.

2.5 Die Vorinstanz hat bei ihrem auf Grund dieser Annahmen durch-geführten
Einkommensvergleich nicht geprüft, ob von den Tabellen-löhnen ein Abzug (dazu
BGE 126 V 75) vorzunehmen sei. Diese Frage kann indessen offen bleiben, da
sich selbst bei Gewährung des hiebei maximal zulässigen Abzugs von 25 % kein
Anspruch auf eine ganze Rente ergäbe.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die Beschwerdeführerin hat die
unentgeltliche Verbeiständung beantragt. Sie wird durch den Rechtsdienst des
Sozialdepartements der Stadt Zürich vertreten, somit durch eine Institution
der öffentlichen Sozialhilfe. Bei einer derartigen Vertretung besteht
rechtsprechungsgemäss (BGE 126 V 11; AHI 2000 S. 288) kein Anspruch auf
Entschädigung, auch nicht im Rahmen der unentgeltlichen Verbeiständung. Die
Beschwerdeführerin macht auch nicht geltend, es seien ihr durch die
Inanspruchnahme des erwähnten Rechtsdienstes Kosten entstanden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Er werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird abgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 8. Oktober 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: