Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 92/2003
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H 92/03

Urteil vom 23. Dezember 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Hadorn

G.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Hans-Heinrich
Weber, Frutigenstrasse 2, 3601 Thun,

gegen

Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes, Sumatrastrasse 15,
8006 Zürich, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 10. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Im Konkurs der ihr angeschlossenen Firma W.________ AG, Hoch-und
Tiefbauunternehmung, kam die Ausgleichskasse Schweizerischer
Baumeisterverband mit paritätischen Beiträgen zu Verlust. Am 28. September
2001 forderte die Ausgleichskasse von G.________, laut Handelsregisterauszug
kollektiv zu zweien zeichnungsberechtigter Verwaltungsrat, Schadenersatz für
ausgefallene Sozialversicherungsbeiträge (mitsamt Nebenkosten) in der Höhe
von Fr. 62'347.20.

B.
Nachdem G.________ hiegegen Einspruch eingelegt hatte, erhob die
Ausgleichskasse gegen ihn Schadenersatzklage an das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern mit dem Rechtsbegehren auf Verurteilung zur Zahlung von
Schadenersatz im verfügten Umfange.

In der Klageantwort schloss G.________ auf Abweisung der Klage, weil er seit
vielen Jahren tatsächlich nicht mehr als Verwaltungsrat geamtet habe und der
anders lautende Handelsregistereintrag versehentlich unberichtigt geblieben
sei. Nachdem die Ausgleichskasse auf eine Replik verzichtet hatte, schloss
das Verwaltungsgericht das Instruktionsverfahren ab und ging zur Beurteilung
über. Mit Entscheid vom 10. Februar 2003 hiess es die Schadenersatzklage im
Betrag von Fr. 62'347.20 gegen Abtretung einer allfälligen Konkursdividende
gut.

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben.

Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Der Streit dreht sich einzig um die Frage, ob der Beschwerdeführer die nach
der zu Art. 52 AHVG ergangenen Rechtsprechung erforderliche Stellung eines
subsidiär haftbaren Organes (BGE 113 V 256) innehatte, als der
Beschwerdegegnerin jene Beiträge zustanden, welche sie in dem am 10. November
2000 eröffneten Konkurs, reduziert um den Betrag einer nachträglich
eingegangenen Insolvenzentschädigung und unter Ausserachtlassung der erst
nach dem Datum der Konkurseröffnung fällig gewordenen Beiträge aus der
Nachtragsabrechnung vom 17. Oktober 2000 und der Schlussabrechnung vom 30.
Oktober 2000 eingab.

2.1 Dazu hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in dem vom kantonalen
Gericht als "H 113/99, abrufbar unter www.bger.ch" bezeichneten Urteil C. vom
19. Mai 2000 (BGE 126 V 61) erwogen: die haftungsbegründende
Verantwortlichkeit des Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG dauert in der Regel
bis zum Moment seines tatsächlichen Austritts aus dem Verwaltungsrat an, und
nicht bis zum Zeitpunkt der Löschung seiner Funktion im Handelsregister. Das
gilt jedenfalls in denjenigen Fällen, in denen die Betroffenen, nach ihrer
Demission, keinen Einfluss mehr auf den Gang der Geschäfte und keine
Entschädigung für ihre Verwaltungsratsstellung erhalten haben. Mit anderen
Worten kann ein Verwaltungsrat nur für Schaden haftbar erklärt werden, der
auf die Nichtbezahlung von Beiträgen zurückzuführen ist, welche im Zeitpunkt
seines effektiven Austrittes entstanden und fällig waren. Vorbehalten bleibt
der Fall, in dem der Schaden durch Handlungen verursacht worden ist, deren
Wirkungen sich jedoch erst nach seinem Rücktritt als Verwaltungsrat entfaltet
haben (BGE 126 V 61 Erw. 4a mit Hinweisen). Mit Blick auf die
öffentlich-rechtliche Natur und die Funktion der Haftung nach Art. 52 AHVG
rechtfertigt es sich, diese Rechtsprechung auch auf diejenigen
Konstellationen anzuwenden, in denen das Verwaltungsratsmandat nicht wegen
Rücktritts oder Abberufung beendet wird, sondern zufolge fehlender Wiederwahl
nach Ablauf der gesetzlichen oder statutarischen Amtsdauer, wenn besondere
Verhältnisse im Einzelfall vermuten lassen, dass eine Wiederwahl nicht
stattgefunden hätte. Denn diesen beiden Sachverhalten ist gemeinsam, dass die
Funktion des Verwaltungsrates in der Firma tatsächlich nicht mehr ausgeübt
wird. Dass die Verhältnisse bei stillschweigendem Auslaufen und
Nichterneuerung des Verwaltungsratsmandates nach Ablauf der Amtsdauer nicht
so klar zutage treten wie bei den sich in entsprechenden Erklärungen,
Protokollen usw. niederschlagenden Akten des Rücktritts und der Abberufung,
stellt keinen Grund für eine materiellrechtlich ungleiche Behandlung dar.
Vielmehr ist in der ersten Fallgruppe in beweismässiger Hinsicht zu
verlangen, dass die fehlenden Bindungen, also die vollständige Loslösung des
früheren Organs von der Firma, klar ausgewiesen sind (BGE 126 V 62 Erw. 4b).
Dabei hat der ausgeschiedene Verwaltungsrat für die Folgen seiner
Unterlassung, die Löschung der Verwaltungsratsstellung beim
Handelsregisterführer anzumelden, nicht einzustehen (BGE 126 V 62 Erw. 4c).

2.2 Das kantonale Gericht hat im Lichte dieser Grundsätze den Sachverhalt wie
folgt erhoben und gewürdigt:
"Der Beklagte unterzeichnete im Jahre 1975 als Gründungsmitglied der
W.________ AG die Statuten und übernahm mit weiteren Mitgliedern der Familie
Y.________ die Hoch- und Tiefbauunternehmung von Z.________. Im Jahre 1988
wurde eine Änderung des Handelsregistereintrags erwirkt, wobei der Beklagte
weiterhin als Verwaltungsrat eingetragen blieb. Auch wenn seit 1988 keine
Generalversammlungen mehr abgehalten wurden - wie dies in der Klageantwort
geltend gemacht wird - wird in derselben Rechtsschrift nichts angeführt,
wonach der Beklagte Grund gehabt hätte, aus dem Verwaltungsrat auszuscheiden
(vgl. H 113/99). Auch wenn der Beklagte geltend macht, kein Entgelt für seine
Tätigkeit als Verwaltungsrat erhalten zu haben, liegen die Vorteile der
Beibehaltung des Handelsregistereintrages für den Beklagten auf der Hand. Er
kann weiterhin in der Familienaktiengesellschaft seinen Einfluss ausüben, es
besteht die Möglichkeit, dass er aufgrund seiner Ausbildung als Architekt
Aufträge der Familien-AG erhält, und als Inhaber einer oder mehrerer Aktien
der besagten AG hat er nicht zuletzt vermögensrechtliche Vorteile. Weiter
wird vom Beklagten in keiner Weise geltend gemacht, dass die anderen
Familienmitglieder, die Einsitz im Verwaltungsrat haben, aus irgend einem
Grund ein Interesse an seiner Nichtwiederwahl gehabt hätten. Dass er nicht
wiedergewählt wurde, wird in der Klageantwort lediglich behauptet, in keiner
Weise jedoch belegt. Demnach liegen eben keine besonderen Verhältnisse vor,
die vermuten lassen, dass eine Wiederwahl nicht stattgefunden hätte. Eine
Abwahl kann durch den Beklagten nicht belegt werden und eine faktische
Beendigung des Mandates durch Ablauf der Amtsdauer und damit eine
vollständige Loslösung aus der Familien- AG ist nicht ausgewiesen und kann
daher nicht angenommen werden. Der Beklagte ist somit für den fraglichen
Zeitraum weiterhin als Mitglied des Verwaltungsrates der W.________ AG zu
betrachten."
Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend eingewendet wird, hat das
kantonale Gericht mit diesem Vorgehen den rechtserheblichen Sachverhalt
unvollständig festgestellt. Zum einen handelt es sich bei den
vorinstanzlichen Erwägungen nicht um konkrete Tatsachenfeststellungen (welche
- unter dem Vorbehalt ihrer offensichtlichen Unrichtigkeit - für das
Eidgenössische Versicherungsgericht verbindlich wären; Erw. 1), sondern
grösstenteils um ungesicherte Annahmen und Mutmassungen. Anderseits kann dem
Beschwerdeführer nicht das Fehlen schriftlicher Unterlagen - er wurde zur
Einreichung sachbezüglicher Dokumente von der Ausgleichskasse im
Einspruchsverfahren ohne Erfolg aufgefordert - als Beweisverbot
entgegengehalten werden. Sowohl im Einspruchs- wie im kantonalen
Beschwerdeverfahren hat der Beschwerdeführer konkrete Beweisanträge auf
Einvernahme von Zeugen gestellt, welche, seiner Behauptung zufolge, in der
Lage sein sollen, seine Inaktivität und die unter mehreren Malen
statutenwidrig unterbliebene Wiederwahl in den Verwaltungsrat zu bestätigen.
Da der Untersuchungsgrundsatz auch im Rahmen der Kognition nach Art. 105 Abs.
2 OG (Erw. 1) gilt (BGE 97 V 136 unten f. Erw. 1), ist der vorinstanzliche
Entscheid ohne Weiterungen aufzuheben und die Sache zur Durchführung eines
Beweisverfahrens an das kantonale Gericht zurückzuweisen.

3.
Bei diesem Verfahrensausgang hat der Beschwerdeführer Anrecht auf
Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG), dies zu
Lasten der Beschwerdegegnerin, welche zwar den kantonalen Entscheid nicht zu
vertreten hat, jedoch das Prozessrisiko trägt. Aus dem gleichen Grund hat die
Ausgleichskasse die Kosten des letztinstanzlichen Verfahrens zu tragen (Art.
156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
vorinstanzliche Entscheid vom 10. Februar 2003 aufgehoben und die Sache an
das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückgewiesen wird, damit es, nach
Aktenergänzung im Sinne der Erwägungen, über die Klage vom 19. November 2001
neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 4000.- werden der Beschwerdegegnerin
auferlegt.

3.
Der Kostenvorschuss von Fr. 4000.- wird dem Beschwerdeführer zurückerstattet.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 23. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: