Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 90/2003
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H 90/03

Urteil vom 13. Juli 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Bollinger

A.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Karl Gehler,
Hofmann + Partner, Hanfländerstrasse 67, 8640 Rapperswil,

gegen

1. P.________,
2. L.________,
3. Firma M.________,
4. Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen,  Brauerstrasse 54,
9016 St. Gallen, Beschwerdegegner,

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 20. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
A. ________, die seit September 1998 mit ihrer Einzelfirma T.________ im
Handelsregister des Kantons St. Gallen eingetragen war, stellte mit
Arbeitsverträgen vom 28. März 1999 P.________ (als Pizzaiolo und
Geschäftsführer) und L.________ (als Telefonistin, Mithelferin für
Hauslieferungen und allgemeine Arbeiten im Zusammenhang mit der Tätigkeit des
Kurier-Betriebs) ein und schloss mit diesen kurz darauf einen Vertrag vom 1.
April 1999 über "geschäftsinterne Abmachungen". Am 10. Januar 2000 reichte
A.________ der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen die Jahresabrechnung
1999 ein, welche unter anderem die an P.________ und L.________ ausbezahlten
Löhne enthielt. P.________ und L.________ liessen am 15. Mai 2000 die Firma
M.________ mit Sitz in R.________ ins Handelsregister eintragen und ersuchten
mit Anträgen vom 15. Juli 2000 die Ausgleichskasse um Erfassung als
Selbstständigerwerbende rückwirkend ab 1. Januar 2000. Die Einzelfirma
T._________ erlosch zufolge Geschäftsaufgabe am 22. August 2000. Nachdem die
Kasse mit Verfügung vom 6. Dezember 2001 von A.________ die Bezahlung
paritätischer Beiträge verlangt hatte, gelangte diese mit Beschwerde an die
Vorinstanz und machte geltend, die Einzelfirma T.________ sei per 1. April
1999 an P.________ und L.________ verkauft worden. Gemäss der am 1. April
1999 zwischen ihr und ihrem Lebenspartner einerseits sowie P.________ und
L.________ anderseits abgeschlossenen Vereinbarung seien letztere ab jenem
Datum selbstständig erwerbstätig gewesen. Die Ausgleichskasse hob daraufhin
die Verfügung vom 6. Dezember 2001 auf und erstattete die bereits bezahlten
Beiträge zurück. Nachdem A.________ ihren Rekurs zurückgezogen hatte, schrieb
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen das Verfahren ab.
Mit Verfügungen vom 25. Januar 2002 forderte die Ausgleichskasse von
P.________ und L.________ die Bezahlung von Beiträgen zufolge selbstständiger
Erwerbstätigkeit für die Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1999. Mit
Nachzahlungsverfügung vom 20. März 2002 verlangte die Ausgleichskasse
überdies von der Firma M.________ Lohnbeiträge für April bis Dezember 1999.

B.
P.________ und L.________ erhoben gegen die drei Verfügungen vom 25. Januar
und 20. März 2002 Beschwerde und machten geltend, bis am 31. Dezember 1999
unselbstständig erwerbstätig gewesen zu sein. Das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen lud A.________ zum Prozess bei und vereinigte die drei
Verfahren. Mit Entscheid vom 20. Dezember 2002 hiess es die Beschwerden gut,
hob die Beitragsverfügungen vom 25. Januar 2002 sowie die
Nachzahlungsverfügung vom 20. März 2002 auf und wies die Sache zur
Festsetzung der von A.________ zu entrichtenden paritätischen Beiträge an die
Ausgleichskasse zurück.

C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides beantragen. Gleichzeitig ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.
Die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen beantragt die Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Nach Einsicht in die Akten verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Mit Schreiben vom 10. Februar 2004 teilt P.________ mit, er sei nicht mehr
selbstständig erwerbstätig und habe sich von L.________ getrennt; das
Geschäft sei aufgelöst worden.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen und
Rechtsgrundsätze über die Abgrenzung von selbstständiger und
unselbstständiger Erwerbstätigkeit (Art. 5 und 9 AHVG, Art. 6 ff. AHVV; BGE
123 V 162 Erw. 1 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist nicht
anwendbar, da in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen ist einerseits, ob die Beschwerdegegner 2 und 3 für
die Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1999 persönliche Beiträge zu bezahlen
haben oder ob die Beschwerdeführerin für sie paritätische Beiträge zu
entrichten hat. Anderseits ist zu entscheiden, ob die Beschwerdeführerin oder
die Beschwerdegegner 2 und 3 für das übrige Personal paritätische Beiträge
schulden. Beide Streitpunkte sind analog zu entscheiden: Ist die
Beschwerdeführerin in der fraglichen Zeit als Arbeitgeberin der
Beschwerdegegner 2 und 3 zu betrachten, hat sie sowohl für letztere als auch
für die weiteren Angestellten paritätische Beiträge zu bezahlen. Andernfalls
sind die Beschwerdegegner 2 und 3 als Selbstständigerwerbende und Arbeitgeber
zu qualifizieren und entsprechend beitragspflichtig.

3.
3.1 Rechtsprechungsgemäss ist bei der Abgrenzung zwischen selbstständiger und
unselbstständiger Erwerbstätigkeit nicht auf die Rechtsnatur des
Verhältnisses zwischen den Parteien, sondern auf die wirtschaftlichen
Gegebenheiten abzustellen; die zivilrechtlichen Verhältnisse können für die
AHV-rechtliche Qualifikation allenfalls Anhaltspunkte bieten, ohne jedoch
ausschlaggebend zu sein (BGE 123 V 163 Erw. 1 mit Hinweisen). Diese
Rechtsprechung, welche in der Regel zur Anwendung kommt, wenn zwischen den
Parteien ein anderes vertragliches Verhältnis als dasjenige eines
Arbeitsvertrages behauptet wird, ist auch auf den (insoweit untypischen) Fall
anzuwenden, wo trotz schriftlicher Arbeitsverträge das Vorliegen einer
selbstständigen Erwerbstätigkeit behauptet wird.

3.2 Die Vorinstanz behaftete die Beschwerdeführerin ohne genauere Prüfung der
tatsächlichen Verhältnisse bei ihren schriftlichen Äusserungen gegenüber
Steueramt und Ausgleichskasse. Sie unterliess es insbesondere abzuklären, ob
an die Beschwerdegegner 2 und 3 Löhne ausbezahlt worden sind, wer die
zusätzlichen Mitarbeiter angestellt, ihnen Weisungen erteilt und deren
Gehälter bezahlt hat und wer über das Geschäftskonto der Einzelfirma
T.________ verfügungsberechtigt gewesen war. Ohne Beantwortung dieser Fragen
kann die Darstellung der Beschwerdeführerin, wonach die Beschwerdegegner 2
und 3 bereits ab 1. April 1999 den Status von Selbstständigerwerbenden
hatten, nicht überprüft werden. Die Sache ist daher an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit sie die wirtschaftlichen Gegebenheiten genauer
untersuche. Sollte sich herausstellen, dass die Beschwerdeführerin an die
übrigen Mitarbeiter Löhne ausbezahlt hat, hat das kantonale Gericht sodann
der weiteren Frage nachzugehen, ob diese Auszahlung vorschussweise für die
Beschwerdegegner 2 und 3 erfolgte, da diesfalls die Vermutung, wonach die
Gehälter ausbezahlende Person als Arbeitgeberin gilt, nicht greift (ZAK 1987
S. 31). Erst wenn die Sachverhaltsabklärungen kein schlüssiges Ergebnis
zeitigen, darf auf den Umstand abgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin
gegenüber der Ausgleichskasse die Beitragspflicht übernommen hat (ZAK 1999 S.
129, SZS 1997 S. 53; demgegenüber keine unklaren Verhältnisse und somit kein
Abstellen auf das Verhalten gegenüber der Ausgleichskasse im Urteil S. vom
29. Januar 1999, H 21/97), da diejenige Person, welche die Übernahme dieser
Obliegenheit mit anderen, neben ihr als mögliche abrechnungs- und
beitragspflichtige in Frage kommenden Beteiligten abgesprochen hat,
grundsätzlich bei ihrer Zusage zu behaften ist (ZAK 1999 S. 129).

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Die
Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt (Art.
156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Vorliegend rechtfertigt es sich,
die Kosten der Ausgleichskasse aufzuerlegen. Zugleich hat Letztere der
Beschwerdeführerin eine aufwandgemässe Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
159 Abs. 1 OG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. Dezember
2002 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerden
neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von total Fr. 1400.- werden der Ausgleichskasse des
Kantons St. Gallen auferlegt.

3.
Die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen hat der Beschwerdeführerin für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Entschädigung von
Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 13. Juli 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: