Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 72/2003
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H 72/03

Urteil vom 25. Juli 2003
II. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber
Grunder

Ausgleichskasse Gastrosuisse, Heinerich Wirri-Strasse 3, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

P.________, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 24. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 27. November 2002 wies die Ausgleichskasse Gastrosuisse das
Gesuch der 1959 geborenen P.________ um Herabsetzung der noch ausstehenden,
auf Grund von Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit geschuldeten
AHV/IV/EO-Beiträge für die Jahre 1996 bis 2000 im Betrage von Fr. 15'000.10
ab mit der Begründung, bei einem Notbedarf von Fr. 3'292.- und verfügbaren
Mitteln von Fr. 4'476.- sei der Versicherten die Bezahlung der vollen
Beitragsschuld zumutbar.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher die Herabsetzung der
Beitragsschuld auf Fr. 8'310.70 beantragt wurde, hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Graubünden gut (Entscheid vom 24. Januar 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Ausgleichskasse die Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids.

P. ________ hat keine Stellungnahme abgegeben. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Entscheid
Bundesrecht verletzt, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Ferner ist Art. 114 Abs. 1 OG zu beachten, wonach das Eidgenössische
Versicherungsgericht in Abgabestreitigkeiten an die Parteibegehren nicht
gebunden ist, wenn es im Prozess um die Verletzung von Bundesrecht oder um
die unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts geht.

2.
Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Bestimmung über die Voraussetzungen
für eine Herabsetzung der Beiträge aus selbstständiger Erwerbstätigkeit (Art.
11 Abs. 1 AHVG) sowie die hiezu ergangene Rechtsprechung, namentlich zum
Begriff des Notbedarfs (vgl. auch BGE 104 V 61 Erw. 1a), zutreffend
wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat unter Hinweis auf ZAK 1979 S. 47 erwogen, bei
Vorliegen besonderer Umstände sei es gerechtfertigt, bei der Ermittlung des
Notbedarfs nicht auf das betreibungsrechtliche Existenzminimum abzustellen.
Gemäss Angaben der Beratungsstelle für Schuldenfragen Graubünden, die die
Beschwerdegegnerin mit der Schuldensanierung beauftragt hatte, belaufen sich
sämtliche fälligen Verpflichtungen auf Fr. 46'834.75 (inklusive
Beitragsschuld). Es könne damit gerechnet werden, dass sämtliche anderen
Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten werden. So habe die
Gemeinde S.________ einem Teilerlass der Steuerschuld zugestimmt. Würde die
Ausgleichskasse auf der Begleichung der Beitragsforderung beharren, führte
dies unweigerlich zum Scheitern des Sanierungsplanes und damit zum Konkurs.
Das könne der Beschwerdegegnerin nicht zugemutet werden, zumal sie
alleinerziehende Mutter einer 16 Jahre alten Tochter sei, sodass
antragsgemäss die Beitragsverpflichtungen auf Fr. 8'310.70 herabzusetzen
seien.

3.2 Dieser Auffassung ist nicht beizupflichten. Wie die Ausgleichskasse
zutreffend einwendet ist nach ständiger Rechtsprechung die Herabsetzung der
geschuldeten Beiträge nach Art. 11 Abs. 1 AHVG nur bei ausserordentlicher
wirtschaftlicher Bedrängnis zulässig, weshalb die Unzumutbarkeit der vollen
Beitragsentrichtung nur dann gegeben ist, wenn die vorhandenen Mittel den
Notbedarf des Pflichtigen, der seinem betreibungsrechtlichen Existenzminimum
entspricht, nicht decken (BGE 120 V 274 Erw. 5a mit Hinweis). Die
Beschwerdegegnerin erzielt unbestrittenermassen einen Einnahmenüberschuss von
mindestens Fr. 1'184.-, was die Annahme unzumutbarer Beitragsentrichtung
grundsätzlich ausschliesst. Nicht entscheidend ist, ob die Beschwerdegegnerin
bei Bezahlung der vollen Beitragsschuld zahlungsunfähig würde, da die
Möglichkeit besteht, mit der Ausgleichskasse Abzahlungsvereinbarungen zu
treffen (nicht veröffentlichtes Urteil G. vom 21. Juli 2000, H 145/00).
Unbehelflich ist sodann, dass sich die Pflichtige subjektiv in einer
bedrängten Lage wähnt, da es aus Gründen der rechtsgleichen Behandlung einer
objektiven Notlage bedarf (ZAK 1980 S. 531). Weiter ist auch die Erwägung der
Vorinstanz, es sei bei der Zumutbarkeitsbeurteilung anderen Aspekten, wie
Schuldverpflichtungen gegenüber Drittgläubigern, insbesondere Steuerschulden,
sowie den familiären Umständen Rechnung zu tragen, bundesrechtswidrig. Gemäss
ZAK 1984 S. 171 schliesst der in ständiger Rechtsprechung angewandte Begriff
der Unzumutbarkeit der Beitragszahlung aus wirtschaftlichen Gründen bewusst
die Berücksichtigung von anderen Elementen aus, welche eine Beitragszahlung
subjektiv als hart erscheinen lassen. Mangels anderer eindeutig zu
handhabender Kriterien wäre sonst Tür und Tor für eine willkürliche Praxis
auf dem Gebiete der Herabsetzung oder des Erlasses von Beiträgen geöffnet,
wenn nach der allgemeinen sozialen oder finanziellen Stellung des Pflichtigen
differenziert würde. Deshalb gehören namentlich Steuerschulden nicht zu den
ins Existenzminimum miteinzubeziehenden Verpflichtungen des täglichen Lebens.
Nichts Gegenteiliges ist dem in ZAK 1979 S. 46 veröffentlichten Urteil S. vom
28. September 1978 zu entnehmen. Wie die Ausgleichskasse zutreffend darlegt
wies das Eidgenössische Versicherungsgericht die Sache an die Verwaltung
zurück, weil sie es unterlassen hatte, das betreibungsrechtliche
Existenzminimum zu ermitteln. Es erwog, die Verwaltung werde dabei dem
Umstand Rechnung zu tragen haben, dass der vermögenslose Pflichtige mit eher
bescheidenen Einkommensverhältnissen für zwei Familien aufzukommen und die
geschiedene Ehefrau einer Herabsetzung ihres Unterhaltsanspruchs zugestimmt
habe. Im vorliegenden Fall sind bei der Ermittlung des betreibungsrechtlichen
Existenzminimums die Unterhaltsverpflichtungen der Beschwerdegegnerin
gegenüber der in ihrem Haushalt lebenden Tochter sowie dem beim Vater
wohnenden Sohn berücksichtigt worden. Abschliessend ist auf das Urteil W. vom
26. Juli 2002 (AHI 2003 S. 72 Erw. 4b) hinzuweisen, wonach alleine
entscheidend ist, ob der vermögenslose Pflichtige über ein das
betreibungsrechtliche Existenzminimum übersteigendes Einkommen verfügt. Wird
in diesem Sinne ein Einnahmenüberschuss erwirtschaftet, ist die
Beitragsschuld unvermindert zu bezahlen. Nicht von Belang ist dabei der
Zeitraum, innerhalb welchem die Zahlungsverpflichtung getilgt werden kann.
Daher ist auch der im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemachte Einwand der
Beschwerdegegnerin, durch die Herabsetzung der Beiträge werde ein Ende ihrer
finanziellen Notlage absehbar, nicht stichhaltig.

4.
Es geht nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen (Erw. 1 hievor), weshalb das Verfahren
kostenpflichtig ist (Art. 134 OG e contrario). Gemäss Art. 156 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 135 OG werden die Gerichtskosten in der Regel der
unterliegenden Partei auferlegt. Die Gegenpartei trägt im Falle des
Unterliegens somit grundsätzlich das Kostenrisiko, auch wenn sie den
vorinstanzlichen Entscheid nicht zu vertreten und am bundesgerichtlichen
Verfahren nicht teilgenommen hat (BGE 123 V 156 ff.). Im vorliegenden Fall
rechtfertigt es sich aber nicht, der Beschwerdegegnerin die Kosten des
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahrens tragen zu lassen, da die Vorinstanz
ihrem Entscheid eine offensichtlich bundesrechtswidrige Praxis unterlegt hat.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 24. Januar 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Ausgleichskasse Gastrosuisse wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss
in Höhe von Fr. 900.- zurückerstattet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 25. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: