Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 40/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


H 40/03
H 62/03

Urteil vom 10. Mai 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Hadorn

S.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Walter Studer,
Badstrasse 17, 5400 Baden,

gegen

H 40/03
Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau, Beschwerdegegner,

und

H 62/03
Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

(Entscheid vom 14. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 24. September 1998 verpflichtete die Ausgleichskasse des
Kantons Aargau S.________, einziges Verwaltungsratsmitglied der in Konkurs
gefallenen Firma U.________ AG, für nicht mehr erhältliche
Sozialversicherungsbeiträge zuzüglich Verzugszinsen, Mahngebühren und
Betreibungskosten Schadenersatz im Umfang von Fr. 51'648.60 zu leisten.

B.
Auf Einspruch von S.________ hin klagte die Kasse auf Bezahlung des erwähnten
Betrages. S.________ liess um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung
ersuchen. Dieses Begehren wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
mit Beschluss vom 14. Januar 2003 ab. Mit Entscheid vom selben Tag hiess es
sodann die Klage gut.

C.
S.________ lässt gegen beide kantonalen Entscheide
Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, diese seien aufzuheben,
die Klage der Kasse sei abzuweisen, und es sei ihm die unentgeltliche
Rechtspflege für das kantonale sowie das vorliegende Verfahren zu erteilen.
Eventuell sei die Sache zu näheren Abklärungen betreffend die unentgeltliche
Prozessführung vor der Vorinstanz an das kantonale Gericht zurückzuweisen.

Die Ausgleichskasse beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde im
Schadenersatzprozess sei abzuweisen, während das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde betreffend die
unentgeltliche Rechtspflege schliesst. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.

Weil die beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden insoweit miteinander verbunden
sind, als sich die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege erübrigt, falls
der Beschwerdeführer im Schadenersatzprozess obsiegen sollte, rechtfertigt es
sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu
erledigen (BGE 128 V 126 Erw. 1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 128 V 194 Erw.
1).

2.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Das kantonale Versicherungsgericht hat unter Hinweis auf Gesetz (Art. 52 AHVG
in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung) und Rechtsprechung (vgl. statt
vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b) die Voraussetzungen richtig dargelegt, unter
welchen Organe juristischer Personen den der Ausgleichskasse wegen
Missachtung der Vorschriften über die Beitragsabrechnung und -zahlung (Art.
14 Abs. 1 AHVG; Art. 34 ff. AHVV in den jeweils anwendbaren Fassungen)
qualifiziert schuldhaft verursachten Schaden zu ersetzen haben. Ferner trifft
zu, dass die materiellen Bestimmungen des ATSG vorliegend nicht zur Anwendung
kommen. Darauf wird verwiesen.

4.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer Schadenersatz zu leisten
hat. Dass die Ausgleichskasse einen Schaden erlitten hat, steht ebenso fest
wie die Organstellung des Versicherten. Sodann ist der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen der nicht rechtzeitigen Bezahlung der
Sozialversicherungsbeiträge und dem der Kasse erwachsenen Schaden erfüllt.
Indessen ist näher zu prüfen, ob sich der Beschwerdeführer exkulpieren kann.

4.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Bezirksgericht Baden habe der
Firma eine Nachlassstundung gewährt und einen Sachwalter eingesetzt. In der
Folge sei bei der Bank A.________ ein Sperrkonto eingerichtet worden, auf
welchem die Firma einen Betrag von Fr. 113'412.- einbezahlt habe. Mit diesem
Geld seien sämtliche privilegierten Forderungen, darunter diejenige der
Ausgleichskasse, sichergestellt worden. Mit Schreiben vom 10. Februar 1997
habe die Bank dem Bezirksgericht bestätigt, dass die Firma den erwähnten
Betrag auf dem Sperrkonto deponiert und der Sachwalter das alleinige
Verfügungsrecht über dieses Geld habe. Am 15. Juli 1997 habe der Sachwalter
die Bank angewiesen, den auf die Ausgleichskasse entfallenden Anteil von Fr.
55'389.05 zu überweisen. Unter solchen Umständen habe der Beschwerdeführer
davon ausgehen dürfen, dass die Forderung der Kasse vollumfänglich beglichen
werde. Erst nachträglich habe sich herausgestellt, dass die Bank gestützt auf
ein in den allgemeinen Geschäftsbedingungen enthaltenes Verrechnungsrecht das
Geld auf dem Sperrkonto zur Begleichung ihrer Guthaben gegenüber der Firma
verwendet und den Zahlungsauftrag des Sachwalters nicht ausgeführt habe.
Dieses Verhalten der Bank sei treuwidrig und könne dem Beschwerdeführer im
vorliegenden Verfahren nicht entgegengehalten werden.

4.2 Aus den Akten ergibt sich, dass diese Darstellung des Sachverhalts
zutrifft. Demnach hat der Beschwerdeführer wohl die
Sozialversicherungsbeiträge nicht immer pünktlich abgeliefert, sie jedoch im
Rahmen des Nachlassverfahrens vollumfänglich sichergestellt. Die Bank hat
sodann in ihrem Schreiben vom 10. Februar 1997 ausdrücklich eingeräumt, dass
einzig der Sachwalter verfügungsberechtigt sei. Dieser wiederum hat die
Zahlung aller Ausstände zu Gunsten der Ausgleichskasse in Auftrag gegeben.
Nachdem die Bank zuvor die ausschliessliche Berechtigung des Sachwalters
bestätigt hatte, bestand für den Beschwerdeführer kein Grund, daran zu
zweifeln, dass diese den Zahlungsauftrag ausführen werde. Insbesondere konnte
der Versicherte so oder anders keinen Einfluss darauf nehmen, dass die Bank
das Sperrkonto für Verrechnungen mit eigenen Forderungen benutzen und die
Zahlungsaufträge des Sachwalters ignorieren werde. Zwar liesse sich ihm
vorwerfen, er hätte stärker auf der Zahlung des Ausstandes an die
Ausgleichskasse insistieren müssen. Indessen ist angesichts des Geschehenen
davon auszugehen, dass die Bank auch in einem derartigen Fall verrechnet
hätte. Der Beschwerdeführer hatte sich somit in der schützenswerten Absicht,
die ausstehenden Forderungen der Ausgleichskasse sicherzustellen, bei der
Bank in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben, welches ihm faktisch unmöglich
machte, für die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge besorgt zu sein
(Urteile L. vom 11. März 2002, H 47/01, und M. vom 17. Februar 1994, H
131/93). Insofern kann dem Beschwerdeführer keine Grobfahrlässigkeit im Sinne
von Art. 52 AHVG vorgehalten werden, weshalb eine Haftung für den
eingeforderten Schadenersatz entfällt.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig, da es nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen geht (Art. 134 OG e contrario). Nach
dem Gesagten obsiegt der Beschwerdeführer in letzter Instanz, weshalb die
Gerichtskosten der Ausgleichskasse aufzuerlegen sind (Art. 156 Abs. 1 OG).
Zugleich hat diese dem Versicherten eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 159 Abs. 1 OG). Damit wird dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
für das vorliegende Verfahren gegenstandslos. Zudem erübrigt sich zu prüfen,
ob die Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung
im kantonalen Prozess erfüllt waren. Vielmehr wird die Vorinstanz dem
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Verfahrens zusprechen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verfahren H 40/03 und H 62/03 werden vereinigt.

2.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. Januar 2003 betreffend
Schadenersatz nach Art. 52 AHVG aufgehoben und die Klage der Ausgleichskasse
des Kantons Aargau abgewiesen.

3.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. Januar 2003 betreffend
unentgeltliche Rechtsverbeiständung wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
angefochtene Entscheid aufgehoben wird.

4.
Die Gerichtskosten von total Fr. 4000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer)
werden der Ausgleichskasse des Kantons Aargau auferlegt.

5.
Die Ausgleichskasse des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht eine Entschädigung von Fr.
3000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

6.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine
Partei-entschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Aus-gang
des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

7.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesamt für Sozialversi-cherung
zugestellt.

Luzern, 10. Mai 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: