Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 296/2003
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H 296/03

Urteil vom 11. Mai 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Riedi Hunold

Z.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Luka
Müller-Studer, Kreuzstrasse 42, 8008 Zürich,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug

(Entscheid vom 21. August 2003)

Sachverhalt:

A.
W. ________ war seit Gründung bis zum 11. Januar 1999 Vize-, danach
Verwaltungsratspräsident der Firma A.________ AG; Z.________ amtete zuerst
als Präsident, ab 11. Januar 1999 bis zu seinem Ausscheiden am 16. März 2000
als Vizepräsident des Verwaltungsrates. Die A.________ AG war seit ihrer
Gründung im Dezember 1998 der Ausgleichskasse Zug als Arbeitgeberin
angeschlossen. Gemäss dem Abklärungsbogen der Ausgleichskasse waren
Rechnungen und Korrespondenz an die Filiale in L.________ zu schicken. 2000
wurde über die Firma der Konkurs eröffnet. Der Kollokationsplan wurde am
...... aufgelegt. Mit Verfügung vom 11. November 2002 verpflichtete die
Ausgleichskasse Z.________ zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene
Beiträge in der Höhe von Fr. 36'304.40.

B.
Nachdem Z.________ Einspruch erhoben hatte, reichte die Ausgleichskasse am 5.
Dezember 2002 Klage ein, mit welcher sie beantragte, Z.________ sei zu
verpflichten, ihr Schadenersatz in der Höhe von Fr. 36'304.40 zu bezahlen.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug hiess mit Entscheid vom 21. August
2003 die Klage im Betrag von Fr. 35'311.50 gut.

C.
Z.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es
seien der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Klage der
Ausgleichskasse abzuweisen; eventualiter sei die Sache an das kantonale
Gericht zurückzuweisen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug und die
Ausgleichskasse schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Nachdem der Beschwerdeführer mit dem vorinstanzlichen Entscheid nur zur
Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Beiträge gestützt auf Bundesrecht
verpflichtet wurde, kann auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vollumfänglich
eingetreten werden (BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis).

1.2 Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Vorweg ist der Einwand des Beschwerdeführers zu prüfen, wonach das kantonale
Gericht sein rechtliches Gehör verletzt habe, indem es angebotene Beweise
nicht abgenommen habe; dadurch habe es auch seine Begründungspflicht verletzt
sowie eine unzulässige antizipierte Beweiswürdigung vorgenommen.

2.1 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV haben die Parteien Anspruch auf rechtliches
Gehör. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits
stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines
Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung einer Person eingreift. Dazu
gehört insbesondere deren Recht, sich vor Erlass des in ihre Rechtsstellung
eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise
beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen
gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder
mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses
geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 129 II 504 Erw. 2.2, 127 I
56 Erw. 2b, 127 III 578 Erw. 2c, 126 V 130 Erw. 2a; zu Art. 4 Abs. 1 aBV
ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 126 I 16 Erw. 2a/aa, 124 V
181 Erw. 1a, 375 Erw. 3b, je mit Hinweisen).
Führen die von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen die Verwaltung oder das
Gericht bei pflichtgemässer Beweiswürdigung zur Überzeugung, ein bestimmter
Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich zu betrachten und es könnten
weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern,
so ist auf die Abnahme weiterer Beweise zu verzichten (antizipierte
Beweiswürdigung; Kieser, Das Verwaltungsverfahren in der Sozialversicherung,
S. 212, Rz 450; Kölz/Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege
des Bundes, 2. Aufl., S. 39, Rz 111 und S. 117, Rz 320; Gygi,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 274; vgl. auch BGE 122 II 469
Erw. 4a, 122 III 223 Erw. 3c, 120 Ib 229 Erw. 2b, 119 V 344 Erw. 3c mit
Hinweis). In einem solchen Vorgehen liegt kein Verstoss gegen das rechtliche
Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b; zu Art. 4
Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 124 V 94 Erw.
4b, 122 V 162 Erw. 1d mit Hinweis).

2.2 Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz eingehend
und in nachvollziehbarer Weise dargelegt, weshalb sie dem Antrag auf
Sistierung des Verfahrens bis zum Abschluss des Strafverfahrens gegen
W.________ sowie der Ansicht des Beschwerdeführers, ihn treffe auf Grund
betrügerischer Machenschaften von W.________ kein Verschulden, nicht gefolgt
ist. Sie ist somit ihrer Begründungspflicht nachgekommen und hat auch keine
unzulässige antizipierte Beweiswürdigung vorgenommen (vgl. Erw. 4.4). Wie die
Vorinstanz in ihrer Stellungnahme zutreffend festhält, kann es nicht Sache
des Sozialversicherungsgerichts sein, sämtliche Konkurs- und
Strafverfahrensakten nach entlastenden Momenten zu durchforsten, ohne dass
der Beschwerdeführer darlegt, in welchem konkreten Verhalten oder einzelnen
Umstand ein Entlastungsgrund liegt. Das rechtliche Gehör ist nach dem
Gesagten nicht verletzt worden.

3.
Die Vorinstanz hat die zeitliche Anwendung des seit 1. Januar 2003 in Kraft
stehenden Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG; BGE 129 V 4 Erw. 1.2; AHI 2004 S. 111, je
mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die Bestimmungen über
die Arbeitgeberhaftung (Art. 52 AHVG; Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit
Art. 34 ff. AHVV) sowie die hiezu ergangene Rechtsprechung, insbesondere über
die subsidiäre Haftung der Organe eines Arbeitgebers (BGE 123 V 15 Erw. 5b;
SVR 2003 AHV Nr. 1 S. 2 Erw. 3, je mit Hinweisen), den zu ersetzenden Schaden
(BGE 126 V 444 Erw. 3a, 123 V 15 Erw. 5b, 121 III 384 Erw. 3bb, je mit
Hinweisen), die erforderliche Widerrechtlichkeit (BGE 118 V 195 Erw. 2a; SVR
2001 AHV Nr. 15 S. 52 Erw. 6, je mit Hinweisen), die Voraussetzung des
Verschuldens (BGE 108 V 186 Erw. 1b, 202 Erw. 3a; ZAK 1992 S. 248 Erw. 4b,
1985 S. 620 Erw. 3b, je mit Hinweisen) sowie den verlangten adäquaten
Kausalzusammenhang (BGE  125 V 461 Erw. 5a, 119 V 406 Erw. 4a; AHI 1996 S.
292 Erw. 4, je mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Die Vorinstanz hat den Schaden in Übereinstimmung mit Gesetz und
Rechtsprechung (vgl. Erw. 3) auf Fr. 35'311.50 reduziert und festgestellt,
dass die Ausgleichskasse diesen in hinreichender Weise substanziiert und
belegt hat (vgl. statt vieler Urteil A. und B. vom 20. August 2002, H 295/01
und 296/01), was vom Beschwerdeführer zu Recht auch nicht bestritten wird.

4.2 Im Weiteren ergibt sich aus den Akten und ist unbestritten, dass die
konkursite Firma ihrer Beitragszahlungspflicht in erheblichem Umfang nicht
nachgekommen ist. Ebenfalls aus den Akten ist ersichtlich, dass der
Beschwerdeführer seine aktienrechtlichen Sorgfaltspflichten verletzt hat,
indem er die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Aufgabe, in casu der
Beitragszahlungspflicht, durch die Arbeitgeberin nicht oder zumindest
ungenügend überwacht bzw. durchgesetzt hat; diese Unterlassung ist ihm als
Widerrechtlichkeit im Sinne von Art. 52 AHVG anzurechnen.

4.3 Die vom Beschwerdeführer zitierte Rechtsprechung, wonach jene Person den
Organbegriff erfüllt, welche in der Lage ist, die Willensbildung der
Gesellschaft massgeblich zu beeinflussen, bezieht sich nur auf faktische
Organe und ist somit vorliegend nicht anwendbar. Der Beschwerdeführer als
formelles Organ der Gesellschaft haftet nach Art. 52 AHVG in jedem Fall (vgl.
etwa ZAK 1989 S. 104 Erw. 4).

4.4 Der nicht geschäftsführende Verwaltungsrat handelt schuldhaft, wenn er
der ihm als formellem Organ zukommenden unübertragbaren und unentziehbaren
Pflicht zur Oberaufsicht der Geschäftsführung, namentlich im Hinblick auf die
Befolgung der Gesetze, nicht nachkommt, also gegenüber dem geschäftsführenden
Verwaltungsrat nicht die nach den Umständen gebotene, auch auf das
Beitragswesen sich erstreckende Aufsicht ausübt, wobei bei einem aus wenigen
Personen bestehenden Verwaltungsrat ein strenger Massstab gilt (vgl. Urteil
V. vom 15. September 2000, H 45/00, mit Hinweisen). So stellt denn auch der
Umstand, dass einem Verwaltungsrat nicht die Kompetenz zur Auslösung von
Zahlungen zukommt, kein entlastendes Moment dar (Urteil S. vom 5. Oktober
2000, H 210/99).

Infolge der Unentziehbarkeit und Unübertragbarkeit der Oberaufsicht über die
Geschäftsführung war der Beschwerdeführer ungeachtet der internen Abmachungen
auch für die Belange der Filiale in L.________ zuständig. Dem
Beschwerdeführer wird nicht vorgeworfen, sich nicht um die Buchführung
gekümmert und den Konkurs der Firma verursacht, sondern sich nicht über die
bestehenden Verbindlichkeiten und deren korrekte Erfüllung informiert sowie
nötigenfalls Massnahmen für deren ordnungsgemässe Bezahlung veranlasst zu
haben; in Kenntnis der kritischen Lage wäre er gehalten gewesen, ungeachtet
des vereinbarten Aufgabengebiets, die Befolgung der Beitragszahlungspflicht
in kurzen Abständen, d.h. monatlich nach Ablauf der Zahlungsperiode, zu
kontrollieren (Urteil B. vom 26. September 2001, H 19/01). Denn der nicht
geschäftsführende (Einzel-)Verwaltungsrat genügt seinen Überwachungspflichten
nicht, wenn er sich nur um die jährliche Rechnungslegung kümmert; vielmehr
hat er bei verweigertem Einblick in die Geschäftsbücher auf seinem
Auskunftsrecht zu beharren, konkrete Massnahmen zu dessen Durchsetzung zu
treffen und bei andauernder hartnäckiger Weigerung seitens der
Geschäftsführung den unverzüglichen Rücktritt zu erklären (Urteil L. vom 8.
Oktober 2002, H 149/02). Der Beschwerdeführer hat es jedoch hingenommen, dass
er in der Filiale in L.________, wo angeblich sämtliche administrative
Tätigkeiten erledigt wurden, keinen Zutritt hatte, und sich erst im Rahmen
der notwendigen jährlichen Rechnungslegung um Informationen bemüht. Er vermag
keine Anhaltspunkte glaubhaft zu machen, welche auf eine rechtzeitige
Intervention seinerseits schliessen liessen. Er ist somit seiner
Aufsichtspflicht nicht im erforderlichen Ausmass nachgekommen, was ihm als
qualifiziertes Verschulden anzurechnen ist.

Dabei kann offen bleiben, ob das Verhalten von W.________ strafrechtliche
Folgen nach sich zieht; denn bei korrekter Erfüllung seiner
Überwachungspflichten hätte der Beschwerdeführer bereits viel früher auf die
angeblich unredlichen Machenschaften, die geltend gemachten Ungereimtheiten
in der Buchhaltung sowie die vernachlässigte Beitragszahlungspflicht
aufmerksam werden müssen. Daran vermöchte auch die Aussage der angerufenen
Zeugin T.________, wonach der Beschwerdeführer im Jahr 2000 die Einberufung
einer Generalversammlung verlangt hatte, nichts zu ändern; denn dies geschah
zu einem Zeitpunkt, in welchem die Firma ihre Beitragszahlungspflicht schon
länger verletzt hatte und der Konkurs absehbar war. Mit der Vorinstanz ist
somit im Rahmen einer antizipierten Beweiswürdigung auf die Einvernahme der
angerufenen Zeugin zu verzichten. Ebenfalls unbeachtlich sind die geltend
gemachten persönlichen finanziellen Verluste im Rahmen des Firmenkonkurses,
da im Einschiessen privater Mittel kein Bestreben zur Bezahlung der
ausstehenden Beiträge erblickt werden kann (Urteil F., S. und B. vom 4.
Dezember 2003, H 173/03, mit Hinweisen).

4.5 Durch seine Passivität hat der Beschwerdeführer das Eintreten des
entstandenen Schadens zumindest begünstigt, indem er keinerlei konkreten
Schritte zur Begleichung der ausstehenden Beiträge unternommen hat. Wäre er
seinen Überwachungspflichten nachgekommen und hätte für die Bezahlung oder
Sicherstellung der geschuldeten Beiträge gesorgt, wäre der Ausgleichskasse
kein Schaden entstanden. Damit ist auch der adäquate Kausalzusammenhang zu
bejahen. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ändert daran auch Art.
759 Abs. 1 OR nichts; denn diese Norm findet im Rahmen der
Schadenersatzpflicht von Art. 52 AHVG keine Anwendung (AHI 1996 S. 293 Erw.
6; Urteil A. vom 21. Januar 2004, H 267/02).

4.6 Nachdem sämtliche Voraussetzungen zur Haftung nach Art. 52 AHVG gegeben
sind, hat die Vorinstanz die Klage zu Recht (teilweise) gutgeheissen.

5.
Da es weder um die Bewilligung noch Verweigerung von Leistungen geht, ist das
Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Der unterliegende
Beschwerdeführer hat demnach die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 11. Mai 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin:
i.V.