Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 247/2003
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H 247/03

Urteil vom 18. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Ursprung und nebenamtlicher Richter Brunner;
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke

L.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Alain Luchsinger,
Stadthausquai 1, 8001 Zürich,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 27. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
L. ________ war als Mitglied des Verwaltungsrats der X.________ AG (vormals
I.________ AG) sowie als Verwaltungsratspräsident der Z.________ AG (vormals
A.________ AG) und der Y.________ AG (vormals F.________ AG) im
Handelsregister eingetragen, jeweils mit Einzelunterschrift. Mit drei
Verfügungen betreffend die drei Gesellschaften, datiert vom 13. Juni 2002
sowie zweimal vom 27. Juni 2002, verpflichtete die Ausgleichskasse L.________
zur Leistung von Schadenersatz in der Höhe von insgesamt Fr. 86'120.35 (Fr.
21'029.50, Fr. 55'638.95, sowie Fr. 9451.90).

B.
Die auf Einspruch von L.________ hin von der Ausgleichskasse gegen diesen
erhobenen Klagen im Betrag von insgesamt Fr. 74'761.35 (Fr. 49'608.80, Fr.
15'943.90 sowie Fr. 9208.65) hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich in Vereinigung der drei Verfahren mit Entscheid vom 29. Oktober 2002
teilweise gut und verpflichtete L.________ zur Bezahlung von Schadenersatz im
Umfange von insgesamt Fr. 66'911.30 (Fr. 41'758.75, Fr. 15'943.90 und Fr.
9208.65).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt L.________ beantragen, es sei das
Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich aufzuheben und die
Klage vollumfänglich abzuweisen.

Das Bundesamt für Sozialversicherung und die Ausgleichskasse verzichten auf
eine Vernehmlassung, letzte unter Verweis auf die Erwägungen im angefochtenen
Entscheid.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden,
als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im
vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in
dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung
für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet
(vgl. BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis).

2.
2.1 Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.2 Im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG ist die Möglichkeit, im Verfahren vor
dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neue tatsächliche Behauptungen
aufzustellen oder neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend
eingeschränkt. Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Beweismittel
zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und
deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften
darstellt (BGE 121 II 99 Erw. 1c, 120 V 485 Erw. 1b, je mit Hinweisen). Zwar
ist der Verwaltungsprozess vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht, wonach
Verwaltung und Gericht von sich aus für die richtige und vollständige
Abklärung des Sachverhalts zu sorgen haben; doch entbindet das die
Rechtsuchenden nicht davon, selber die Beanstandungen vorzubringen, die sie
anzubringen haben (Rügepflicht), und ihrerseits zur Feststellung des
Sachverhalts beizutragen (Mitwirkungspflicht). Unzulässig und mit der weit
gehenden Bindung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts an die
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung gemäss Art. 105 Abs. 2 OG
unvereinbar ist es darum, neue tatsächliche Behauptungen und neue
Beweismittel erst im letztinstanzlichen Verfahren vorzubringen, obwohl sie
schon im kantonalen Beschwerdeverfahren hätten geltend gemacht werden können
und - in Beachtung der Mitwirkungspflicht - hätten geltend gemacht werden
müssen. Solche (verspätete) Vorbringen sind nicht geeignet, die tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG
erscheinen zu lassen (BGE 121 II 100 Erw. 1c, AHI 1994 S. 211 Erw. 2b mit
Hinweisen).

3.
Die Vorinstanz hat die in materiellrechtlicher Hinsicht massgebenden Normen
(Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) und
die Rechtsprechung zur subsidiären Haftbarkeit der Organe, zur
Haftungsvoraussetzung des qualifizierten Verschuldens (BGE 108 V 186 Erw. 1b,
193 Erw. 2b) sowie bezüglich dem dabei zu berücksichtigenden -
differenzierten - Sorgfaltsmassstab (BGE 108 V 202 Erw. 3a; vgl. auch Thomas
Nussbaumer, Die Haftung des Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, in: AJP 9/96
S. 1081) zutreffend wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden.

Zu ergänzen ist, dass die mit dem Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 auf den 1. Januar 2003
in Kraft getretenen Änderungen (Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG, eingefügt durch
Anhang Ziff. 7 ATSG) auf den vorliegenden Fall nicht Anwendung finden, weil
in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind,
die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung
haben (zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil M. vom
23. Oktober 2003, H 69/03, Erw. 3, BGE 129 V 4 Erw. 1.2).

4.
4.1 Wie das kantonale Gericht verbindlich festgestellt hat, blieben die drei
Gesellschaften Z.________ AG, X.________ AG und Y.________ AG paritätische
Sozialversicherungsbeiträge im Betrage von insgesamt Fr. 86'120.35 trotz
Mahnungen und Betreibungen schuldig. Damit verstiessen die Gesellschaften
gegen die Beitragszahlungs- und Abrechnungspflicht und missachteten
Vorschriften im Sinne von Art. 52 AHVG. Dieses Verschulden der
Arbeitgeberinnen hat die Vorinstanz grundsätzlich zu Recht dem
Beschwerdeführer als grobfahrlässiges Verhalten angerechnet, zumal es sich
bei den drei Firmen um kleine Unternehmen mit einfacher Verwaltungsstruktur
handelt und dabei an die Kontroll- und Überwachungspflichten des
Verwaltungsratspräsidenten bzw. eines Verwaltungsrats praxisgemäss strenge
Anforderungen zu stellen sind (BGE 108 V 203 Erw. 3b).

4.2 Bezüglich der Höhe der Schadenersatzforderung ist festzuhalten, dass die
Ausgleichskasse klageweise einen Betrag von insgesamt Fr. 74'761.35 als
Schadensbetrag geltend machte, welcher nach deren Berechnung während der
Amtszeit des Beschwerdeführers als Verwaltungsratspräsident bzw.
Verwaltungsrat der drei Firmen vom 20. April 2000 bis zum 2. bzw. 8. März
2001 angefallen war. Die Vorinstanz erwog hinsichtlich der Klageforderung in
Bezug auf die Z.________ AG, dass der Beschwerdeführer für die
Monatspauschale Februar 2001 und die auf Grund der Lohnmeldung 2000
berechnete effektive Beitragsforderung für das Jahr 2000 mangels Ablauf der
Frist zur Bezahlung der Beitragsforderung im Zeitpunkt des Ausscheidens aus
dem Verwaltungsrat nicht einzustehen hat; die übrigen Klagepositionen sowie
die Klageforderungen hinsichtlich der beiden übrigen Gesellschaften hiess sie
hingegen im eingeklagten Umfang gut. Auf diese differenzierte und
verbindliche Schadenersatzberechnung, welche eine Schadenersatzforderung von
insgesamt Fr. 66'911.30 ergibt, ist abzustellen (vgl. Erw. 2.1 hievor).

4.3
4.3.1Nach ständiger Rechtsprechung zu Art. 52 AHVG dauert die
Verantwortlichkeit in der Regel bis zum Moment des tatsächlichen Austritts
aus dem Verwaltungsrat und nicht bis zum Zeitpunkt der Löschung dieser
Funktion im Handelsregister. Das gilt jedenfalls in denjenigen Fällen, in
denen die Betroffenen nach ihrer Demission tatsächlich keinen Einfluss mehr
auf den Gang der Geschäfte genommen und keine Entschädigung für ihre Stellung
als (faktischer) Verwaltungsrat mehr erhalten haben. Mit anderen Worten kann
ein Verwaltungsrat nur für Schaden haftbar gemacht werden, der auf die
Nichtbezahlung von Beiträgen zurückzuführen ist, welche im Zeitpunkt seines
Austrittes entstanden und fällig waren. Vorbehalten bleibt der Fall, in dem
der Schaden durch Handlungen oder Unterlassungen vor der Demission verursacht
worden ist, die schädigenden Auswirkungen aber erst nach dem Rücktritt als
Verwaltungsrat eingetreten sind (BGE 126 V 61 Erw. 4a mit Hinweisen). Die
Loslösung von der Firma - der Rücktritt aus dem Verwaltungsrat - muss
allerdings in beweismässiger Hinsicht klar erstellt sein, um als zeitliche
Begrenzung der Haftung beachtlich zu sein (vgl. BGE 126 V 62; Urteile G. vom
10. Dezember 2001, H 88/01, sowie S. vom 13. Februar 2001, H 87/00).

Gemäss Handelsregister-Auszügen war der Beschwerdeführer bis zum 2. März 2001
Verwaltungsratspräsident der Z.________ AG und Verwaltungsrat der X.________
AG sowie - bis zum 8. März 2001 - Verwaltungsratspräsident der Y.________ AG.

4.3.2 Der Beschwerdeführer bringt in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im
Wesentlichen vor, im Rahmen einer Nachfolgeplanung habe er die
Führungsverantwortung für die Konkursitinnen im Herbst 2000 an U.________
übergeben. Mit dieser Übergabe der Führungsverantwortung verbunden gewesen
sei die Absicht, die Geschäftstätigkeit der Konkursitinnen so rasch als
möglich vollständig einzustellen und diese Gesellschaften per Ende 2000
stillzulegen. Er habe Anfang Dezember 2000 den Austritt aus den
Verwaltungsräten der Konkursitinnen erklärt. Dieser gegenüber den
Gesellschaften erklärte Austritt sei vom verbleibenden Verwaltungsrat
U.________ indes pflichtwidrig nicht dem Handelsregister gemeldet worden,
weshalb er die Anfang März 2001 erfolgten Eintragungen erst durch
Fristansetzung habe erzwingen können.

Soweit der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren geltend macht, er sei
bereits im Dezember 2000 tatsächlich aus dem Verwaltungsrat der drei Firmen
ausgetreten, weshalb er für die überwiegend erst nach diesem Zeitpunkt
geltend gemachten Beitragsforderungen nicht zur Verantwortung gezogen werden
könne, ist dies nicht geeignet, die tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen zu
lassen. Einerseits hätte er diese Einwände bereits im kantonalen Verfahren
bzw. bereits anlässlich seines Einspruchs vorbringen können und im Rahmen der
ihm obliegenden Mitwirkungspflichten auch müssen und es ist kein Grund
ersichtlich, weshalb dies nicht möglich gewesen wäre, zumal er auf die
Einreichung einer Klageantwort verzichtet hatte. Daher handelt es sich um
unzulässige Noven (vgl. Erw. 2.2 hiervor), welche nicht berücksichtigt werden
können. Andererseits ist festzuhalten, dass selbst wenn die Behauptung des
Führungswechsels berücksichtigt werden könnte, daraus nichts zugunsten des
Beschwerdeführers abzuleiten wäre, finden sich in den Akten doch keinerlei
Hinweise für den behaupteten Führungswechsel und wurden vom Beschwerdeführer
auch keine näheren Angaben oder massgebliche Daten zum entsprechenden Ablauf
geliefert.

Es ist deshalb auf die Eintragung im Handelsregister abzustellen und davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer bis zur Löschung des Mandates als
Verwaltungsratspräsident bzw. als Verwaltungsrat am 2. bzw. 8 März 2001 in
der entsprechenden Funktion für die drei Firmen tätig war. Die Vorinstanz ist
deshalb zu Recht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer bis zum 2. bzw.
8 März 2001 die mit dem Mandat als Verwaltungsratspräsident bzw. als
Verwaltungsrat verbundenen, unübertragbaren gesetzlichen Pflichten (vgl. Art.
716a und 717 Abs. 1 OR) wahrzunehmen hatte, weshalb der kantonale Entscheid
rechtens ist.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend gehen die Kosten zu Lasten des
Beschwerdeführers (Art. 134 OG e contrario; Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtskosten von total Fr. 4000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt
und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 18. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: