Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 242/2003
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H 242/03
H 243/03

Urteil vom 8. Oktober 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Helfenstein Franke

H 242/03
R.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Heinz
Schmidhauser, Nordstrasse 8, 9532 Rickenbach b. Wil,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,

und

H 243/03
S.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Heinz
Schmidhauser, Nordstrasse 8, 9532 Rickenbach b. Wil,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 27. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1994 gegründete X.________ AG war der Ausgleichskasse des Kantons St.
Gallen (nachfolgend: Ausgleichskasse) als beitragspflichtige Arbeitgeberin
angeschlossen. Gemäss Handelsregisterauszug amteten zunächst R.________ und
L.________ als Mitglieder sowie C.________ als Präsident des Verwaltungsrats,
Letztere jedoch nur bis 26. März 1998. Per 29. Juli 1998 erfolgte ein
Sitzwechsel von A.________ nach B.________ sowie eine Firmenänderung in
Y.________ AG. Gleichzeitig amtete R.________ nunmehr als
Verwaltungsratspräsident, während neu K.________ das Mandat des
Vizepräsidenten und Geschäftsführers übernahm. Am 2. Dezember 1999 übernahm
S.________ zusätzlich ein Verwaltungsratsmandat. K.________ und R.________
tauschten per 12. Oktober 2000 ihre Funktion; schliesslich wurde R.________
wie auch S.________ per 17. Januar 2001 im Handelsregister gelöscht.
Am 22. Februar 2002 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet und am
28. Februar 2002 mangels Aktiven wieder eingestellt. Mit Verfügungen vom 17.
Juni 2002 verpflichtete die Ausgleichskasse die Organe der Gesellschaft zur
Leistung von Schadenersatz gemäss Art. 52 AHVG für entgangene
Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich Verwaltungskostenbeiträge,
Verzugszinsen, Mahngebühren und Betreibungskosten) in unterschiedlicher Höhe,
aber in solidarischer Haftbarkeit mit den anderen für den jeweils sie
betreffenden Betrag: L.________ und C.________ zum Betrag von jeweils Fr.
23'556.75 (bundesrechtlicher Teil: Fr. 20'570.40, kantonalrechtlicher Teil:
Fr. 2'986.35), R.________ und S.________ zum Betrag von jeweils Fr. 64'543.60
(bundesrechtlicher Teil: Fr. 55'984.80, kantonalrechtlicher Teil: Fr.
8'558.80) sowie K.________ zum Betrag von Fr. 78'911.85 (bundesrechtlicher
Teil: Fr. 68'400.70, kantonalrechtlicher Teil: Fr. 10'511.15). Die
Betroffenen erhoben hiegegen Einspruch.

B.
Mit Entscheiden vom 27. Juni 2003 hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen die von der Ausgleichskasse im reduzierten Umfang von jeweils Fr.
56'714.45 (davon kantonalrechtlicher Teil Fr. 7'498.80) erhobenen Klagen
gegen R.________ und S.________ teilweise gut und verpflichtete die beiden je
zur Zahlung von Schadenersatz im Betrag von Fr. 25'393.60 für den
bundesrechtlichen und Fr. 3'849.10 für den kantonalrechtlichen Teil, wobei
die Klägerin Zahlungen der Solidarschuldner auf diese Beträge anteilsmässig
anzurechnen habe.

C.
R.________ und S.________ lassen je Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit
dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei bezüglich des
bundesrechtlichen Teils aufzuheben und die Klage abzuweisen; eventualiter sei
die Sache zur Durchführung des Beweisverfahrens und zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine
Vernehmlassung. Die als Mitinteressierte beigeladenen C.________, L.________
und K.________ haben sich nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da den beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden derselbe Sachverhalt zu Grunde
liegt, sich die gleichen Rechtsfragen stellen und die - bis auf die
Parteibezeichnung gleich lautenden - Rechtsmittel sich gegen zwei Entscheide
richten, welche die Beschwerdeführenden in gleicher Weise zu Schadenersatz
verpflichten, rechtfertigt es sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und in
einem einzigen Urteil zu erledigen.

2.
Die angefochtenen Entscheide haben nicht die Bewilligung oder Verweigerung
von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
3.1 Wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, findet das auf den 1. Januar
2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000, mit welchem zahlreiche
Bestimmungen im AHV-Recht, insbesondere auch hinsichtlich der
Arbeitgeberhaftung nach Art. 52 AHVG (Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG, eingefügt
durch Anhang Ziff. 7 ATSG), geändert worden sind, vorliegend keine Anwendung,
weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend
sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes
Geltung haben (BGE 130 V 3 Erw. 3, 129 V 4 Erw. 1.2).
3.2 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Arbeitgeberhaftung
(Art. 52 AHVG; Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) sowie
die hiezu ergangene Rechtsprechung, insbesondere über den Eintritt des
Schadens und Zeitpunkt der Kenntnis des Schadens (BGE 119 V 92 Erw. 3), über
die subsidiäre Haftung der Organe eines Arbeitgebers (BGE 126 V 237, 123 V 15
Erw. 5b, je mit Hinweisen), den zu ersetzenden Schaden (BGE 126 V 444 Erw.
3a, 123 V 15 Erw. 5b, je mit Hinweisen), die erforderliche Widerrechtlichkeit
(BGE 118 V 195 Erw. 2a mit Hinweisen), die Haftungsvoraussetzung des
qualifizierten Verschuldens und dem dabei zu berücksichtigenden -
differenzierten - Sorgfaltsmassstab (BGE 108 V 202 Erw. 3a, ZAK 1992 S. 248
Erw. 4b, je mit Hinweisen; vgl. auch Thomas Nussbaumer, Die Haftung des
Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, in: AJP 9/96, S. 1081) sowie den
adäquaten Kausalzusammenhang (BGE 125 V 461 Erw. 5a) zutreffend
wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden.

4.
Streitig und zu prüfen ist, ob und in welchem Umfang die Beschwerdeführenden
Schadenersatz zu leisten haben.

4.1 Wie die Vorinstanz verbindlich festgestellt hat (vgl. Erw. 2 hievor),
umfasst die gegenüber den Beschwerdeführenden klageweise geltend gemachte
Schadenersatzforderung in der Höhe von Fr. 56'714.45 unbezahlt gebliebene
Beiträge zuzüglich Verwaltungskosten, Mahngebühren, Betreibungskosten und
Verzugszinsen für die Monate März bis Juli 1997 sowie die Lohnnachmeldung für
das 1. Semester 1997, die Schlussrechnung 1999, die Rechnungen für das zweite
bis vierte Quartal 2000 sowie die Schlussrechnung 2000. Dabei hat die
Vorinstanz einerseits letztere Rechnung 2000 in der Höhe von Fr. 9'471.75
wieder abgezogen, da diese erst am 26. März 2001, mithin rund zwei Monate
nach dem Ausscheiden der Beschwerdeführenden aus dem Verwaltungsrat, fällig
wurde (BGE 126 V 61 Erw. 4a, 123 V 173 Erw. 3a). Zudem hat das kantonale
Gericht unter Berücksichtigung von Herabsetzungsgründen - die Ausgleichskasse
hat die Ausstände insofern mitzuverantworten, als sie elementare Vorschriften
der Beitragsveranlagung und des Beitragsbezugs verletzt hat (vgl. Erw. 4.3.2
hernach) - den gesamten Betrag um Fr. 18'000.- reduziert, woraus der Betrag
von Fr. 29'242.70 resultiert, abzüglich der kantonalrechtlichen Forderung von
Fr. 3'849.10. Die konkursite Gesellschaft entrichtete die geschuldeten
Beiträge über Jahre nur schleppend, auf Betreibung hin und schliesslich gar
nicht mehr. Damit verstiess sie grobfahrlässig gegen die Vorschriften von
Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV (in der bis 31.
Dezember 2000 gültig gewesenen Fassung), was grundsätzlich die volle
Schadenersatzpflicht gemäss Art. 52 AHVG nach sich zieht (BGE 118 V 195 Erw.
2a mit Hinweisen).

4.2 Dieses Verschulden der Arbeitgeberin hat die Vorinstanz den
Beschwerdeführenden, ihres Zeichens Verwaltungsratsmitglieder der AG, zu
Recht als grobfahrlässiges Verhalten, das die Schadenersatzpflicht nach sich
zieht, angerechnet. Sie hat sich ausführlich zur Widerrechtlichkeit, zum
Verschulden, zu den geltend gemachten Exkulpationsgründen sowie zum
Kausalzusammenhang zwischen der schuldhaften Verletzung der AHV-Vorschriften
und dem Eintritt des Schadens geäussert. So ist insbesondere richtig, dass
ein Verwaltungsratsmitglied mit der Mandatsübernahme in die Verantwortung
sowohl für die laufenden als auch für die verfallenen, vor seiner
Verwaltungsratstätigkeit entstandenden Beitragsschulden tritt, weshalb
vorliegend die Beschwerdeführerin auch für die Beitragsausstände aus dem Jahr
1997 haftet.

4.3 Was die Beschwerdeführenden dagegen in ihrer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorbringen, vermag nicht zu einer anderen
Beurteilung zu führen:
4.3.1Zum einen bringen sie erneut vor, das Unternehmen sei nach ihrem
Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat aus dem Verkauf von Umlaufvermögen oder
Kapitalbeschaffung zu grösseren Geldbeträgen gekommen, welche es dem späteren
Geschäftsführer K.________ ohne weiteres ermöglicht hätten, die offenen
Beitragsforderungen zu begleichen.
Dieser Einwand ist unbehelflich: Die Gesellschaft musste für die ausstehenden
Beiträge während Jahren betrieben werden. Die Ausstände waren den
verantwortlichen Organen während langer Zeit bekannt. Die Beschwerdeführenden
haben während ihrer Amtszeit als Verwaltungsräte nicht dafür gesorgt, dass
die Beiträge bezahlt wurden. Es kann auch nicht davon gesprochen werden, die
Beitragspflicht sei nur vorübergehend - zur Überwindung finanzieller
Schwierigkeiten - verletzt worden. Vielmehr bestanden für die
Beschwerdeführenden keine berechtigten Aussichten, die offenen Beiträge
innert vernünftiger Frist zu decken, was indes Voraussetzung für die
Rechtfertigung eines vorübergehenden Beitragsausstandes im Zusammenhang mit
einer in Aussicht stehenden Sanierung der Gesellschaft bildet (BGE 108 V 188
Erw. 2, bestätigt in BGE 121 V 243). Beide Beschwerdeführenden waren bis zum
17. Januar 2001 als Verwaltungsräte tätig. Zu jenem Zeitpunkt dauerten die
Ausstände schon Jahre an. Es kann daher dahinstehen, ob nach ihrem
Ausscheiden in der Tat noch wesentliche finanzielle Mittel in die
Gesellschaft flossen. Massgebend ist allein, dass sie während ihrer Amtszeit
nicht und damit nicht rechtzeitig für die Begleichung der ausstehenden
Beiträge gesorgt haben.

4.3.2 Zum anderen machen sie hinsichtlich der von der Vorinstanz
vorgenommenen Herabsetzung (BGE 122 V 189 Erw. 3c, AHI 2002 S. 51, vgl. Erw.
4.1 hievor) geltend, die Ausgleichskasse habe auf Grund ihres Verhaltens die
Ausstände für 1997 vollumfänglich selbst zu verantworten, da kein
Kausalzusammenhang mehr zwischen den Pflichtverletzungen und dem
eingetretenen Schaden bestehe. Sie führen dazu aus, es sei nicht
nachvollziehbar, weshalb sich das kantonale Gericht bei der Reduktion des
Schadenersatzes nur an den zu spät veranlagten Beiträgen orientiert habe,
nicht jedoch an denjenigen, für welche die Ausgleichskasse die Betreibungen
habe verfallen lassen.
Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Zwar trifft es zu, dass
die Beschwerdegegnerin einzelne Betreibungen nach zwei Jahren erneut erheben
musste und mit ihren Veranlagungsverfügungen zur Beseitigung des
Rechtsvorschlages zu lange, nämlich bis zum 8. November 1999 zugewartet hat.
Indessen hätten die Beschwerdeführenden auch zu jenem Zeitpunkt noch dafür
sorgen können und auch müssen, dass die Ausstände bezahlt werden. Dies haben
sie indes nicht getan. Vielmehr blieb die Gesellschaft auch die laufenden
Beiträge schuldig und musste weiter betrieben werden. Es kann daher nicht
gesagt werden, bei früherer Geltendmachung der Beiträge wäre es zu keinerlei
Ausständen gekommen. Unter diesen Umständen ist die Vorinstanz den
Beschwerdeführenden mit der Schadenminderung von Fr. 18'000.- sehr weit
entgegengekommen, jedenfalls in einer Weise, welche im Rahmen von Art. 104
lit. a OG nicht beanstandet werden kann (Erw. 2).

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Dem Ausgang des
Verfahrens entsprechend gehen die Kosten zu Lasten der Beschwerdeführenden
(Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die beiden Verfahren werden vereinigt.

2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'600.- werden je zur Hälfte den
Beschwerdeführenden auferlegt und mit den geleisteten Kostenvorschüssen
verrechnet. Der Differenzbetrag von je Fr. 500.- wird ihnen zurückerstattet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, dem Bundesamt für Sozialversicherung, L.________, K.________ und
C.________ zugestellt.
Luzern, 8. Oktober 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: