Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 230/2003
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H 230/03

Urteil vom 25. Juni 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Widmer

D.________,  Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jürg Dubs,
Kasinostrasse 2, 8400 Winterthur,

gegen

Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber, Siewerdtstrasse 9, 8050 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 30. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
D. ________ (Präsident), B.________ und M.________ gehörten dem
Verwaltungsrat der Firma X.________ AG an, über die nach vorgängiger
Nachlassstundung ab 15. Oktober 1996 am 18. April 1997 durch Verfügung des
Bezirksgerichts Y.________ der Konkurs eröffnet wurde. Am 17. Dezember 1997
wurde das Verfahren als geschlossen erklärt. Die Ausgleichskasse Zürcher
Arbeitgeber, welcher die Firma X.________ AG als Arbeitgeberin angeschlossen
war, kam im Konkurs mit Beitragsforderungen von insgesamt Fr. 250'971.40 zu
Verlust.
Mit Verfügungen vom 22. Juli 1997 verpflichtete die Ausgleichskasse
D.________, B.________ und M.________ in solidarischer Haftung zur Bezahlung
von Schadenersatz für unbezahlt gebliebene bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge im Betrag von Fr. 245'482.70, unter Anrechnung
einer allfälligen Konkursdividende.
Nachdem die Belangten Einspruch erhoben hatten, reichte die Ausgleichskasse
am 11. September 1997 gegen diese beim Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich Klage mit dem Antrag auf Zusprechung von Schadenersatz im verfügten
Umfang ein. Das Gericht sistierte das Verfahren bis zur rechtskräftigen
Erledigung der bei der Bezirksanwaltschaft Z.________ hängigen
Strafuntersuchung im Zusammenhang mit der konkursiten Firma X.________ AG
gemäss Einstellungsverfügung vom 21. März 2002. Mit Entscheid vom 30. Mai
2003 verpflichtete das Sozialversicherungsgericht D.________, B.________ und
M.________ in Gutheissung der Klage, der Ausgleichskasse in solidarischer
Haftung Schadenersatz in der Höhe von Fr. 245'482.70 zu bezahlen.

B.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt D.________ beantragen, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf
eine Vernehmlassung. Der als Mitinteressierter zum Verfahren beigeladene
M.________ lässt sich nicht vernehmen, während sich der Mitinteressierte
B.________ den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anschliesst.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Die Vorinstanz hat zutreffend festgehalten, dass die Bestimmungen des seit 1.
Januar 2003 in Kraft stehenden Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) im vorliegenden Fall nicht anwendbar sind
(siehe BGE 130 V 1, 129 V 4 Erw. 1.2, je mit Hinweisen). Richtig
wiedergegeben hat sie auch die Bestimmungen über die Arbeitgeberhaftung (Art.
52 AHVG; Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) sowie die
hiezu ergangene Rechtsprechung, insbesondere über die subsidiäre Haftung der
Organe eines Arbeitgebers (BGE 126 V 237, 123 V 15 Erw. 5b, je mit
Hinweisen), den zu ersetzenden Schaden (BGE 126 V 444 Erw. 3a, 123 V 15 Erw.
5b, je mit Hinweisen), die erforderliche Widerrechtlichkeit (BGE 118 V 195
Erw. 2a mit Hinweisen), die Voraussetzung des Verschuldens (BGE 108 V 186
Erw. 1b, 202 Erw. 3a; ZAK 1992 S. 248 Erw. 4b, je mit Hinweisen) sowie den
adäquaten Kausalzusammenhang (BGE 125 V 461 Erw. 5a). Darauf kann verwiesen
werden.

3.
Der Beschwerdeführer kritisiert einleitend die Rechtsprechung zur
Organhaftung, namentlich zum haftungsbegründenden Verschulden, indem er
vorbringt, bei der Beurteilung der groben Fahrlässigkeit sei entsprechend der
zivilrechtlichen Praxis ein milderer Massstab anzulegen; Grobfahrlässigkeit
sei nur anzunehmen, wenn die verantwortliche Person elementarste
Vorsichtsgebote verletzt hat.
Zu einer Änderung der Rechtsprechung zur Organhaftung nach Art. 52 AHVG
besteht kein Anlass, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 129 V
11 u.a. unter Hinweis auf die Botschaft des Bundesrates zur 11. AHV-Revision
und die Materialien zu ATSG dargelegt hat. Auch ein neuer Massstab zur
Beurteilung der groben Fahrlässigkeit, der von der in allen anderen Zweigen
des Sozialversicherungsrechts geltenden Begriffsumschreibung abweichen würde,
ist nicht erforderlich. Das Verschulden des Beschwerdeführers ist daher nach
Massgabe der geltenden Rechtsprechung zu beurteilen.

4.
Wie das kantonale Gericht dargelegt hat, sind die Voraussetzungen des
Schadens und der Organstellung sowie die Widerrechtlichkeit zu bejahen, was
auch vom Beschwerdeführer nicht bestritten wird. Hingegen stellt er sich auf
den Standpunkt, dass er den der Ausgleichskasse entstandenen Schaden nicht
schuldhaft verursacht habe.

4.1 Zur Hauptsache wendet der Beschwerdeführer gegen die vorinstanzliche
Feststellung, er habe den Schaden grobfahrlässig verursacht, ein, die
Beiträge seien von der Firma X.________ AG erst ab 1996 nicht mehr
vollständig bezahlt worden. Dafür sei der von der Hausbank der Gesellschaft,
der damaligen A.________, eingesetzte Sanierer Dr. R.________, dem faktisch
Organstellung zugekommen sei, verantwortlich gewesen. Der Beschwerdeführer
sei bis im Sommer 1996 der festen und angesichts des Geschäftsverlaufs
begründeten Überzeugung gewesen, dass 1996 ein vorübergehender
Liquiditätsengpass vorgelegen habe, die Firma X.________ AG durch die
kurzfristige Nichtbezahlung von Sozialversicherungsbeiträgen gerettet und die
Beitragsschulden innert nützlicher Frist beglichen werden könnten. Im
Weiteren habe die von ihm wirtschaftlich beherrschte Firma G.________ AG noch
am 15. April 1996 für ein der Firma X.________ AG am 31. Dezember 1995
gewährtes Darlehen in der Höhe von Fr. 800'000.- den Rangrücktritt erklärt.
Zudem habe er zusammen mit B.________ persönlich der Firma X.________ AG
bereits per 31. Dezember 1994 ein Darlehen im Betrag von Fr. 1'000'000.-
gewährt, welches gemäss Vereinbarung vom 30. Mai 1995 ebenfalls dem
Rangrücktritt unterstellt wurde. Die Firma X.________ AG habe sich unter
Druck der SKA in die Abhängigkeit von Dr. R.________ begeben und die
Restrukturierungsvereinbarung vom 13. Mai 1996 unterzeichnen müssen, wobei
Dr. R.________ ihm zugesichert habe, für die umgehende Bezahlung der
ausstehenden Sozialversicherungsbeiträge besorgt zu sein. Daran habe sich Dr.
R.________ jedoch nicht gehalten. Die Firma X.________ AG habe 1996 im Sinne
von Art. 52 AHVG sozialversicherungsrechtliche Vorschriften missachtet. Das
Verhalten des Beschwerdeführers als Arbeitgeberorgan sei aber entschuldbar,
da er im massgebenden Zeitraum objektiv davon habe ausgehen dürfen, dass die
Rettung der Firma X.________ AG durch die Befriedigung lebenswichtiger
Forderungen nicht von vornherein aussichtslos sei.

4.2 Es trifft zu, dass nicht jede Verletzung der öffentlich-rechtlichen
Pflicht einer Arbeitgeberfirma ohne weiteres als qualifiziertes Verschulden
ihrer Organe zu werten ist; das absichtliche oder grobfahrlässige Missachten
von Vorschriften verlangt vielmehr einen Normverstoss von einer gewissen
Schwere. Die Ausgleichskasse, die feststellt, dass sie einen durch
Missachtung der Vorschriften entstandenen Schaden erlitten hat, darf davon
ausgehen, dass der Arbeitgeber die Vorschriften absichtlich oder mindestens
grobfahrlässig verletzt hat, sofern keine Anhaltspunkte für die
Rechtmässigkeit des Handelns oder die Schuldlosigkeit des Arbeitgebers
bestehen; im Rahmen der ihr obliegenden Mitwirkungspflicht ist es
grundsätzlich Sache der belangten Person, den Nachweis für allfällige
Rechtfertigungs- oder Exkulpationsgründe zu erbringen (BGE 108 V 187 Erw. 1b;
SVR 2001 AHV Nr. 15 S. 52 Erw. 5). Als Rechtfertigungsgrund kann
beispielsweise die relativ kurze Dauer des Beitragsausstandes sprechen (BGE
121 V 244 Erw. 4b). Ebenso kann unter Umständen die Tatsache, dass ein
Arbeitgeber bei Vorliegen eines Liquiditätsengpasses Beiträge vorübergehend
nicht bezahlt in der Hoffnung, durch Erfüllung «lebenswichtiger
Verpflichtungen» den Weiterbestand der Unternehmung sichern zu können, als
entschuldbarer Grund gelten (BGE 108 V 186).

4.3 Die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, mit welchen
Exkulpationsgründe geltend gemacht werden, sind nicht stichhaltig.

4.3.1 Gemäss Einstellungsverfügung der Bezirksanwaltschaft Uster vom 21. März
2002, mit welcher die u.a. gegen den Beschwerdeführer eingeleitete
Strafuntersuchung wegen Verdachts auf betrügerischen Konkurs eingestellt
wurde, erwarb der Beschwerdeführer zusammen mit B.________ am 1. November
1993 von der ABB sämtliche Aktien der Firma X.________ AG zum Preis von Fr.
1.-. Die Gesellschaft war somit schon damals konkursreif. Aus den Bilanzen
und Erfolgsrechnungen der folgenden Jahre ist sodann ersichtlich, dass der
Geschäftsgang während der ganzen Zeit schlecht war. Schon bald war die Hälfte
des Aktienkapitals nicht mehr durch das Eigenkapital gedeckt. Der
Beschwerdeführer liess der Firma X.________ AG in der Folge eigene Mittel in
Form von Darlehen zufliessen und vereinbarte später einen Rangrücktritt, d.h.
einen Forderungsverzicht, falls die übrigen Gläubiger zu Verlust kommen
sollten. Ein bloss vorübergehender Liquiditätsengpass der Firma X.________ AG
im Frühling/Sommer 1996 kann somit verneint werden, nachdem diese seit der
Übernahme durch den Beschwerdeführer und B.________ nie auch nur annähernd in
die Gewinnzone gelangt war. Rechtfertigungsgründe im Sinne der vorstehend
(Erw. 4.2 hievor) zitierten Rechtsprechung sind nicht gegeben. Der
Beschwerdeführer konnte nicht damit rechnen, dass die massiv überschuldete
Firma X.________ AG durch die vorübergehende Nichtbezahlung der Beiträge zu
retten war. Die Schulden der Gesellschaft beliefen sich gemäss Bilanz per 31.
Dezember 1995 auf rund Fr. 14,5 Mio. (Fremdkapital minus Eigenkapital), der
Bilanzverlust betrug Fr. 5,4 Mio., und das Aktienkapital war nur noch zu
weniger als 30 % durch eigene Mittel gedeckt. Angesichts der finanziellen
Lage der Firma X.________ AG konnte der Beschwerdeführer nicht damit rechnen,
die Zahlungen an die Ausgleichskasse innert nützlicher Frist leisten zu
können. Ebenso deutlich wie die Bilanz zeigt die Erfolgsrechnung die desolate
finanzielle Situation: Die Betriebsverluste betrugen im Jahr 1994 Fr. 3,6
Mio. und 1995 Fr. 0,75 Mio. Mit Blick auf diese Zahlen ist auszuschliessen,
dass mittels Nichtbezahlung der Beitragsschuld von Fr. 245'000.- zur Rettung
der Firma X.________ AG beigetragen werden konnte.

4.3.2 Zu Gunsten des Beschwerdeführers ins Feld geführt werden könnte die
kurze Dauer des Beitragsausstandes. Wie das Eidgenössische
Versicherungsgericht in BGE 121 V 244 Erw. 4b dargelegt hat, ist die Frage
der Dauer des Normverstosses ein Beurteilungskriterium, welches im Rahmen der
Gesamtwürdigung zu berücksichtigen ist und als Entlastungsgrund zur
Verneinung der Schadenersatzpflicht führen kann. Im vorliegenden Fall waren
nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz Beiträge für das erste
Halbjahr 1996 ausstehend. Andererseits geriet die Firma X.________ AG auch
schon in den Vorjahren 1994/95 mit der Beitragszahlung in Verzug und kam der
Abrechnungspflicht nicht ordnungsgemäss nach. Anders als in dem BGE 121 V 245
zu Grunde liegenden Fall kann nicht gesagt werden, die Konkursitin habe das
Beitragswesen einwandfrei und straff gehandhabt und auch die übrigen
Vorschriften befolgt.

4.3.3 Auch die Tatsache, dass der Beschwerdeführer der Gesellschaft eigene
Mittel zugewendet hat, ohne rechtlich dazu verpflichtet gewesen zu sein,
fällt nicht erheblich ins Gewicht. Wer eine konkursreife Unternehmung kauft,
rechnet damit, dass er Geld investieren muss, wenn er je einmal die
Gewinnzone erreichen will. Selbstlose Motive oder soziale Verantwortung sind
unter den gegebenen Umständen nicht zu erkennen.

4.4 Schliesslich kann sich der Beschwerdeführer auch nicht mit Erfolg darauf
berufen, dass es die Hausbank A.________ und der von dieser eingesetzte
Sanierer Dr. R.________ waren, die bei der Firma X.________ AG das Sagen
hatten. Auch wenn dies zutreffen dürfte, kam dem Beschwerdeführer als
Verwaltungsratspräsident formelle Organeigenschaft zu, worauf das
Eidgenössische Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung für die
Bejahung der subsidiären Haftbarkeit (Passivlegitimation nach Art. 52 AHVG)
abstellt (BGE 123 V 15 Erw. 5b mit Hinweisen). Die faktische Entmachtung des
Verwaltungsrates durch die Bank und den von dieser eingesetzten Sanierer
ändert daran nichts. Damit im Zusammenhang zu sehen ist auch die behauptete
Zusicherung seitens Dr. R.________ offenbar im Mai 1996, für die umgehende
Bezahlung der ausstehenden Sozialversicherungsbeiträge besorgt zu sein. Auf
eine derartige Zusicherung durfte sich der Beschwerdeführer als Präsident des
Verwaltungsrates nicht verlassen. Vielmehr wäre er gehalten gewesen, Dr.
R.________ aufzufordern, entsprechend der behaupteten Zusage die Ausstände
bei der Ausgleichskasse sofort zu begleichen. Der Beschwerdeführer vermag
indessen keine Unterlagen, wie etwa schriftliche Aufforderungen an Dr.
R.________ oder dergleichen, beizubringen. Es ist auch nicht dargetan, was er
sonst unternommen hätte, um die Bezahlung der ausstehenden AHV-Beiträge zu
erreichen. Dem Beschwerdeführer muss auch unter Berücksichtigung der nicht
nachgewiesenen Zusicherung seitens Dr. R.________, dass die Beitragsausstände
bezahlt würden, in Würdigung der gesamten Umstände ein grobfahrlässiges
Verschulden vorgeworfen werden, woran die weiteren Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu ändern vermögen.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Dem
Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 7000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherung, B.________ und M.________
zugestellt.

Luzern, 25. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: