Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 208/2003
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H 208/03

Urteil vom 30. Juni 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Frésard;
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold

S.________, 1971, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr.
Peter Popp, Untere Altstadt 28, 6300 Zug,

gegen

Ausgleichskasse Basel-Stadt, Wettsteinplatz 1, 4058 Basel,
Beschwerdegegnerin,

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 12. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1999 gegründete X.________ AG war als Arbeitgeberin der Ausgleichskasse
Basel-Stadt angeschlossen. S.________ und G.________ waren seit Gründung der
Firma kollektivzeichnungsberechtigte Mitglieder des Verwaltungsrates,
M.________ dessen kollektivzeichnungsberechtigter Präsident. Am ... wurde die
Firma durch Konkurs aufgelöst. Mit Verfügung vom 19. September 2001
verpflichtete die Ausgleichskasse S.________ unter solidarischer Haftung mit
G.________ zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe der entgangenen
Bundessozialversicherungsbeiträge von Fr. 51'263.30 und der entgangenen
Beiträge an die Familienausgleichskasse von Fr. 5'169.25.

B.
Nachdem S.________ Einspruch erhoben hatte, reichte die Ausgleichskasse am 6.
November 2001 Klage ein mit dem Begehren, S.________ sei zur Bezahlung von
Schadenersatz von Fr. 56'432.55 für entgangene Beiträge zu verpflichten. Das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt hiess die Klage mit Entscheid vom 12.
Mai 2003 in dem Sinne gut, als es die grundsätzliche Ersatzpflicht von
S.________ unter solidarischer Haftung mit G.________ bejahte und die Sache
zur Feststellung der genauen Schadenshöhe an die Ausgleichskasse zurückwies.

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es
seien der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Haftung für
Schadenersatz nach Art. 52 AHVG zu verneinen. Eventualiter sei die Haftung
auf die bis Ende Juli 1999 aufgelaufenen Beiträge zu beschränken;
subeventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung
zurückzuweisen. Die Ausgleichskasse verzichtet unter Verweis auf die
vorinstanzlichen Eingaben auf eine Stellungnahme. Der mitbeteiligte
G.________ schliesst sich den Ausführungen des S.________ an. Das Bundesamt
für Sozialversicherung enthält sich einer Vernehmlassung.

D.
Mit Entscheid vom 22. Januar 2004 lehnte das Eidgenössische
Versicherungsgericht das Gesuch um Reduktion des Kostenvorschusses und
unentgeltliche Rechtspflege vom 2. September/8. Oktober 2003 ab.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten
werden, als Sozialversicherungsbeiträge kraft Bundesrechts streitig sind. Im
vorliegenden Verfahren ist daher nicht zu prüfen, wie es sich bezüglich der
Beitragsschuld gegenüber der Ausgleichskasse für kantonale Familienzulagen
verhält (BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis).

1.2 Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Die Vorinstanz hat die zeitliche Anwendung des seit 1. Januar 2003 in Kraft
stehenden Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG; BGE 130 V 1, 129 V 4 Erw. 1.2, je mit
Hinweisen) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die Bestimmungen über die
Arbeitgeberhaftung (Art. 52 AHVG in der bis 31. Dezember 2002 geltenden
Fassung; Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) sowie die
hiezu ergangene Rechtsprechung, insbesondere über die subsidiäre Haftung der
Organe eines Arbeitgebers (BGE 123 V 15 Erw. 5b mit Hinweisen), den zu
ersetzenden Schaden (BGE 126 V 444 Erw. 3a, 123 V 15 Erw. 5b, 121 III 384
Erw. 3bb, je mit Hinweisen), die erforderliche Widerrechtlichkeit (BGE 118 V
195 Erw. 2a mit Hinweisen), die Voraussetzung des Verschuldens (BGE 108 V 186
Erw. 1b, 202 Erw. 3a; ZAK 1992 S. 248 Erw. 4b, 1985 S. 620 Erw. 3b, je mit
Hinweisen) sowie den adäquaten Kausalzusammenhang (BGE 125 V 461 Erw. 5a, 119
V 406 Erw. 4a; AHI 1996 S. 292 Erw. 4, je mit Hinweisen). Darauf wird
verwiesen.

3.
Zu Recht nicht bestritten werden die Stellung als haftpflichtiges formelles
Organ sowie der adäquate Kausalzusammenhang. Zu prüfen bleiben die übrigen
Voraussetzungen von Art. 52 AHVG.

3.1 Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers hatte die Ausgleichskasse vor
Auflage des Kollokationsplanes keine genügenden Kenntnisse des Schadens. So
enthielt die Mitteilung des Konkursamtes über die Auflage des
Kollokationsplanes vom 20. September 2000 bezüglich der voraussichtlichen
Dividende den Hinweis "noch unklar" und auch das Zirkularschreiben des
Konkursamtes vom 18. Januar 2001 vermerkte bezüglich der Dividende der
Gläubiger 3. Klasse "noch unklar". Somit besteht kein Anlass vom üblichen
Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Schadens bei Auflage des Kollokationsplanes
(BGE 126 V 443 mit Hinweisen) abzuweichen, weshalb die Forderung der
Ausgleichskasse nicht verwirkt ist.

3.2 Es steht fest, dass die konkursite Firma in erheblichem Mass ihre
Beitragszahlungspflicht von Art. 14 AHVG nicht erfüllt hat, was vom
Beschwerdeführer auch nicht bestritten wird. Die Vorinstanz hat auch zu Recht
festgehalten, dass er seinen Sorgfaltspflichten als Verwaltungsrat bezüglich
der Einhaltung öffentlich-rechtlicher Aufgaben, in casu der
Beitragszahlungspflicht, nicht nachgekommen ist (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5
OR). Dies ist ihm als pflichtwidriges und somit widerrechtliches Verhalten
anzurechnen.

3.3 Was die unzutreffende Rüge der fehlenden Gleichbehandlung aller
Verwaltungsräte sowie den nicht stichhaltigen Einwand der fehlenden
Solidarschuld betrifft, kann auf die konstante Rechtsprechung verwiesen
werden (SVR 2003 AHV Nr. 5 S. 13 Erw. 4 mit Hinweisen), wonach die
Schadenersatzpflicht von Art. 52 AHVG eine solidarische Haftung darstellt und
es gerade im Wesen der Solidarschuld liegt, dass der Gläubiger, also die
Ausgleichskasse, nach ihrem Belieben gegen einen, mehrere oder alle
Schadenersatzpflichtigen vorgehen kann. Daran ändert auch BGE 129 V 11
nichts, sondern bestätigt vielmehr die bisherige Rechtsprechung zu Art. 52
AHVG.

3.4 Weder die Firma noch der Beschwerdeführer haben irgendwelche Schritte zur
Begleichung der ausstehenden Beiträge unternommen; mit Ausnahme einer hier
nicht massgeblichen Zahlung von Fr. 548.70 an die kantonalen Familienzulagen
(Erw. 1.1) blieb die Firma sämtliche Sozialversicherungsbeiträgen schuldig.
Unter diesen Umständen trifft sowohl die Firma als Arbeitgeberin sowie den
Beschwerdeführer als deren Organ ein grobfahrlässiges Verschulden. Zu prüfen
bleiben die geltend gemachten Rechtfertigungs- und Exkulpationsgründe:
Angesichts der Umstände, dass einerseits die Anmeldung bei der
Ausgleichskasse erst am 15. April 1999 erfolgte und dass andererseits die
Ausgleichskasse erst am 8. Juni 1999 telefonisch vom Beschwerdeführer die
letzten notwendigen Angaben über die Beschäftigten erhielt, kann ihr kein
Vorwurf gemacht werden, dass sie der Firma erstmals am 24. Juni 1999 eine
Beitragsrechnung zustellte. Überdies sind entgegen der Ansicht des
Beschwerdeführers weder Abrechnungspflicht, Beitragsschuld noch Fälligkeit
der Sozialversicherungsbeiträge von der Zustellung einer Rechnung, einer
Veranlagungs- oder Nachzahlungsverfügung seitens der Ausgleichskasse
abhängig; vielmehr entsteht die Beitragsschuld im Zeitpunkt der Lohnzahlung
von Gesetzes wegen (Art. 14 und 51 AHVG; BGE 110 V 227 Erw. 3a) und wird mit
Ablauf der Zahlungsperiode fällig (Art. 34 Abs. 4 AHVV in der bis 31.
Dezember 2000 geltenden Fassung), was den Arbeitgeber bei fortlaufender
Lohnzahlung jedenfalls zu entsprechenden Rückstellungen verpflichtet (Urteil
N. vom 26. August 2002, H 367/01, Urteil K. vom 4. Juni 2002, H 348/00, und
Urteil M. vom 16. Mai 2002, H 297/01). Dementsprechend darf in Zeiten
finanzieller Engpässe nur so viel Lohn ausbezahlt werden, als auch die darauf
von Gesetzes wegen geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge gedeckt sind (SVR
1995 AHV Nr. 70 S. 214 Erw. 5). Nach dem Gesagten kann der Beschwerdeführer
somit aus der nach seiner Ansicht verspäteten Rechnungsstellung seitens der
Ausgleichskasse nichts zu seinen Gunsten ableiten.
Ebenso wenig vermögen ihn fehlende finanzielle Mittel zu entlasten (ZAK 1985
S. 619).
Weiters macht der Beschwerdeführer geltend, er habe von 1. September 1999 bis
2. März 2000 Zivildienst geleistet; auf Grund dieser Erfüllung einer
öffentlich-rechtlichen Pflicht seien sämtliche vertraglichen und gesetzlichen
Pflichten des Beschwerdeführers suspendiert gewesen. Dem kann nicht
beigepflichtet werden. Zwar konnte er während dieser Abwesenheit seine
Aufgaben als Buchhalter an andere delegieren, doch seine unentziehbare und
undelegierbare Pflicht als Verwaltungsrat zur Oberaufsicht über die
Geschäftsführung (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR) blieb auch während des
Zivildienstes bestehen. So vermag ihn nicht zu entlasten, dass er mit dem
"Tagesgeschäft" nichts mehr zu tun hatte, da die Pflicht zur Oberaufsicht
bestehen bleibt (vgl. Urteil V. vom 15. September 2000, H 45/00). Anders als
etwa bei einer Krankheit ist die Erfüllung von Militär- oder Zivildienst
voraussehbar (Art. 22 Abs. 2 des Bundesgesetzes über den zivilen Ersatzdienst
vom 6. Oktober 1995 [SR 824.0; ZDG]) und es wird vom Verwaltungsrat verlangt,
dass er entsprechend plant und organisiert. So besteht denn während des
Zivildienstes die Möglichkeit, für wichtige berufliche Angelegenheiten Urlaub
zu beziehen (Art. 30 ZDG in Verbindung mit Art. 70 f. der Verordnung vom 11.
September 1996 über den zivilen Ersatzdienst [SR 824.01; ZDV]). Überdies
standen dem Beschwerdeführer auch während des Zivildienstes freie Tage als
auch Ferientage zu, welche er für die Erledigung der Pflichten als
Verwaltungsrat einsetzen konnte (Art. 28 ZDG sowie Art. 30 ZDG in Verbindung
mit Art. 72 ZDV). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass
Verwaltungsratsmandate von Firmen wie der vorliegend betroffenen in aller
Regel als Nebenamt und somit in der Freizeit ausgeübt werden. Zeitmangel
vermag einen Verwaltungsrat jedoch nicht von seinen Pflichten zu entlasten
(Forstmoser, Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, Zürich 1987, N 308,
Müller/Lipp, Der Verwaltungsrat, Zürich 1994, S. 185, Bärtschi,
Verantwortlichkeit im Aktienrecht, Diss. Zürich, Zürich 2001, S. 244 f.; vgl.
auch Kunz, Die Annahmeverantwortung von Mitgliedern des Verwaltungsrats,
Diss. St. Gallen, Bamberg 2004, S. 171 ff.). Vorliegend kommt erschwerend
hinzu, dass sich die Firma bei Beginn des Zivildienstes in finanziellen
Schwierigkeiten befand, weshalb der Beschwerdeführer verpflichtet war, eine
strengere Aufsicht auszuüben (Urteil B. vom 26. September 2001, H 19/01, und
nicht publiziertes Urteil M. vom 14. Februar 1996, H 169/94). Auch kann nicht
gesagt werden, dass er faktisch aus dem Verwaltungsrat ausgetreten wäre
(Urteil F. vom 6. Februar 2003, H 263/02), hat er doch während des
Zivildienstes regelmässig an Besprechungen teilgenommen und etwa auch die
Lohnbescheinigung vom 26. Januar 2000 mitunterschrieben.
Ebenso unbehelflich ist der Einwand, dass eine Bezahlung der
Sozialversicherungsbeiträge eine unzulässige Gläubigerbevorzugung dargestellt
hätte. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht festgestellt hat,
beeinflusste die vorübergehende Änderung der Privilegienordnung von Art. 219
Abs. 4 SchKG die persönliche Haftung der Organe eines Arbeitgebers nicht,
sondern nur allenfalls die Höhe des Schadens (Urteil V., G. und S. vom 28.
November 2002, H 135/01, und Urteil X. und Y. vom 14. April 2003, H 167/00).

3.5 Die Vorinstanz ordnete unter Berücksichtigung der im Rahmen der
abgehaltenen Verhandlung vorgebrachten Einwände, es seien nicht alle mit der
Ausgleichskasse abgerechneten Einwände ausbezahlt worden, eine Rückweisung an
die Ausgleichskasse an. Dieses Vorgehen ist nicht zu beanstanden (vgl. SVR
1999 AHV Nr. 10 S. 29 Erw. 3b mit Hinweis); die Ausgleichskasse wird dabei zu
berücksichtigen haben, dass es für den Nachweis der beschwerdeführerischen
Behauptungen überzeugender Beweise bedarf, welche die Richtigkeit der in der
Lohnbescheinigung 1999 vom 26. Januar 2000 gemachten Angaben zu widerlegen
vermöchten, zumal der Beschwerdeführer diese Lohnbescheinigung
mitunterschrieben hat.

4.
Weil es weder um die Bewilligung noch Verweigerung von Leistungen geht, ist
das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Der unterliegende
Beschwerdeführer hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
dem Bundesamt für Sozialversicherung und G.________ zugestellt.
Luzern, 30. Juni 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: