Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 198/2003
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H 198/03

Urteil vom 15. September 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Nussbaumer

Ausgleichskasse für das schweizerische Auto-, Motorrad- und Fahrradgewerbe,
Käfiggässchen 10, 3011 Bern, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher
Patrick Raedersdorf, Aarbergergasse 14, 3001 Bern,

gegen

1. H.________,
2. C.________,
Beschwerdegegner

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 27. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
H. ________ war Verwaltungsratspräsident und seine Ehefrau C.________
Verwaltungsratsmitglied der Garage X.________ AG. Am 8. Mai 2000 fiel die
Gesellschaft in Konkurs. Die Auflage des Kollokationsplanes wurde am 11. Mai
2001 publiziert. Gestützt auf Insolvenzerklärungen eröffnete das
Gerichtspräsidium am 26. März 2001 über H.________ und C.________ den Konkurs
und ordnete das summarische Konkursverfahren an. Mit Verfügungen vom 25.
April 2002 verpflichtete die Ausgleichskasse für das Schweizerische Auto-,
Motorrad- und Fahrradgewerbe (nachfolgend Ausgleichskasse) H.________ und
C.________ in solidarischer Haftbarkeit zur Leistung von Schadenersatz für
entgangene bundesrechtliche Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von Fr.
204'266.15 und stellte die Verfügungen den beiden Organen persönlich zu.

B.
Am 3. Juni 2002 reichte die Ausgleichskasse Klage mit dem Antrag ein,
H.________ und C.________ seien zu Schadenersatz in verfügtem Umfang zu
verpflichten. Mit Entscheid vom 27. Mai 2003 trat das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau auf die Klage nicht ein, da die beiden Verfügungen den
Schadenersatzpflichtigen persönlich und nicht dem Konkursamt eröffnet worden
seien.

C.
Die Ausgleichskasse lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem
Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die
Schadenersatzklage vom 3. Juni 2002 gutzuheissen.

H. ________ und C.________ schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichten auf Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im AHV-Recht, insbesondere auch hinsichtlich
der Arbeitgeberhaftung nach Art. 52 AHVG, geändert sowie Art. 81 und 82 AHVV
aufgehoben worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1, 126 V 166 Erw.
4b), kommen im vorliegenden Fall jedoch die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen zur Anwendung. Dies trifft umso mehr zu, als es zu
beurteilen gilt, ob die beiden Schadenersatzverfügungen vom 25. April 2002
gegenüber den richtigen Adressaten eröffnet worden sind.

2.2 Nach Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden verursacht, diesen
der Ausgleichskasse zu ersetzen. Ist der Arbeitgeber eine juristische Person,
so können subsidiär gegebenenfalls die verantwortlichen Organe in Anspruch
genommen werden (BGE 123 V 15 Erw. 5b, 122 V 66 Erw. 4a, 119 V 405 Erw. 2, je
mit Hinweisen), wobei die Ausgleichskasse den Ersatz des Schadens mittels
Verfügung geltend macht (Art. 81 Abs. 1 AHVV).

3.
3.1 Das kantonale Gericht ging im angefochtenen Entscheid davon aus, mit der
Eröffnung des Konkurses über die Garage X.________ AG am 8. Mai 2000 sei der
von der Beschwerdeführerin erlittene Schaden eingetreten. Aus diesem Grund
hätte die Beschwerdeführerin die seit 8. Mai 2000 bestehende
Schadenersatzforderung im Rahmen des Privatkonkurses der beiden
Schadenersatzpflichtigen eingeben und ihre Verfügungen der insofern allein
legitimierten Konkursverwaltung eröffnen müssen. Diese vertrete die Schuldner
im AHV-Rechtsmittelverfahren. Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerde
führende Ausgleichskasse dort ihre Schadenersatzforderung eingegeben habe,
seien nicht vorhanden. Dies werde denn auch von keiner Seite geltend gemacht.
Vielmehr seien die Schadenersatzverfügungen vom 25. April 2002 den beiden
Organen persönlich eröffnet worden. Da diese zu diesem Zeitpunkt nicht mehr
als Adressaten der Schadenersatzverfügungen in Frage gekommen seien, müssten
diese als nichtig betrachtet werden. Die Eröffnung an falsche Adressaten
erscheine als solchermassen grober Verstoss gegen die Eröffnungsvorschriften,
dass er dem gänzlichen Fehlen der Kenntnisgabe der Verfügung gleichgestellt
werden müsse. Da es somit an der Prozessvoraussetzung einer rechtsgültigen
Schadenersatzverfügung fehle, sei auf die Klage nicht einzutreten.

3.2 Mit dem kantonalen Gericht ist davon auszugehen, dass im vorliegenden
Fall der Schaden mit der Konkurseröffnung vom 8. Mai 2000 über die
Arbeitgeberfirma eingetreten ist (BGE 123 V 12). Über die beiden Organe der
konkursiten Firma wurde am 26. März 2001 und damit erst nach Eintritt des
Schadens der Konkurs eröffnet. Aus diesem Grund hätten die beiden geltend
gemachten Schadenersatzforderungen zur Konkursmasse der beiden
Beschwerdegegner gehört (BGE 123 V 16 Erw. 6, 121 III 382, 386). In einem
solchen Fall müssen - wie das kantonale Gericht an sich zu Recht erwogen hat
- die Schadenersatzverfügungen der Konkursverwaltung als Vertreterin der
Konkursmasse eröffnet und zugestellt werden (BGE 123 V 16 Erw. 6). Im
vorliegenden Fall übersieht jedoch das kantonale Gericht, weil es den
Sachverhalt unvollständig festgestellt hat (Erw. 1 hievor), dass die im
summarischen Verfahren durchgeführten Konkurse über die beiden
Beschwerdegegner durch Erkenntnisse des Gerichtspräsidiums vom 11. September
2001 bereits wieder als geschlossen erklärt wurden. Die entsprechenden
Publikationen erfolgten im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) Nr. ...
vom ... September 2001 und im Amtsblatt vom ... September 2001. Des Weitern
ist in Betracht zu ziehen, dass die Beschwerdeführerin nach der
unbestrittenen Feststellung des kantonalen Gerichts ihre
Schadenersatzforderungen nicht in den beiden Privatkonkursen eingegeben
hatte. Nach Art. 267 SchKG unterliegen Forderungen derjenigen Gläubiger,
welche am Konkurse nicht teilgenommen haben, denselben Beschränkungen wie
diejenigen, für welche ein Verlustschein ausgestellt worden ist. Der Umstand,
dass es die Ausgleichskasse unterlassen hat, die Schadenersatzforderungen im
Konkurs der Beschwerdegegner geltend zu machen, führt daher nicht zum
Untergang der Forderungen (nicht veröffentlichte Urteile D. vom 17. Mai 1999
[H 360/98] und Sch. vom 24. Juni 1986 [H 234/85]; Amonn/Gasser, Grundriss des
Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 6. Aufl. 1997, § 48 Rz 30 S. 395;
Matthias Staehelin, in: Staehelin/Bauer/Staehelin, Kommentar zum Bundesgesetz
über Schuldbetreibung und Konkurs, N 3 zu Art. 267 SchKG). Nach Schluss des
Konkursverfahrens am 11. September 2001 waren die Beschwerdegegner wieder
uneingeschränkt empfangs- und handlungsberechtigt. Unter diesen Umständen hat
die Beschwerdeführerin ihre beiden Schadenersatzforderungen mit Verfügungen
vom 25. April 2002 zu Recht gegenüber den beiden Beschwerdegegnern geltend
gemacht (erwähnte Urteile D. vom 17. Mai 1999 und Sch. vom 24. Juni 1986;
vgl. auch BGE 123 V 16 Erw. 6 und AHI-Praxis 1997 S. 77 Erw. 3a und b).

3.3 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist das kantonale Gericht
im angefochtenen Entscheid nicht zum Schluss gelangt, die Verfügungen vom 25.
April 2002 seien verspätet erlassen worden und die Schadenersatzforderungen
daher verwirkt. Es hat lediglich festgestellt, dass der Schaden im Zeitpunkt
der Konkurseröffnung über die Arbeitgeberfirma am 8. Mai 2000 entstanden ist.
Von diesem Zeitpunkt des Schadeneintritts ist indessen der Zeitpunkt der
Kenntnis des Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AHVV zu unterscheiden. Die
Schadenskenntnis entsteht in der Regel mit der Auflage des Kollokationsplanes
über die Arbeitgeberin (hier 11. Mai 2001; vgl. BGE 128 V 17 Erw. 2a, 126 V
444 Erw. 3a, je mit Hinweisen). Über diesen Punkt hat indessen das kantonale
Gericht noch nicht entschieden, da es bereits die Eröffnung der
Schadenersatzverfügung als nichtig betrachtete. Die Sache geht daher an das
kantonale Gericht zurück, damit es auf die Schadenersatzklage materiell
eintrete und die einzelnen Haftungsvoraussetzungen näher prüfe.

4.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens werden die beiden Beschwerdegegner
kostenpflichtig (Art. 156 in Verbindung mit Art. 135 OG). Der durch einen
Rechtsanwalt vertretenen Beschwerdeführerin steht als mit
öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation keine
Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2 OG; BGE 126 V 150 Erw. 4a).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. Mai 2003 aufgehoben, und es
wird die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese über die
Schadenersatzklage der Ausgleichskasse für das Schweizerische Auto-,
Motorrad- und Fahrradgewerbe vom 3. Juni 2002 materiell entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2000.- werden den beiden Beschwerdegegnern
auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 7000.- wird der Ausgleichskasse für
das Schweizerische Auto-, Motorrad- und Fahrradgewerbe zurückerstattet.

4.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 15. September 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: