Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 174/2003
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H 174/03

Urteil vom 26. Januar 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Riedi Hunold

R.________, Beschwerdeführer,

gegen

Ostschweizerische AHV-Ausgleichskasse für Handel und Industrie, Lindenstrasse
137, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 11. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Die X.________ AG, war der Ostschweizerischen Ausgleichskasse für Handel und
Industrie (nachfolgend: Ausgleichskasse) als Arbeitgeberin angeschlossen.
R.________ war Verwaltungsrat und Geschäftsführer der Firma. Nachdem die
X.________ AG den Tilgungsplan vom 31. August 2000 nicht einhielt, stellte
die Ausgleichskasse verschiedene Betreibungsbegehren bezüglich ausstehender
Beiträge. Am 30. August 2001 wurde über die X.________ AG der Konkurs
eröffnet. Die Arbeitgeberschlusskontrolle vom 15. Oktober 2001 ergab eine
Differenz; zudem wurde die Lohnsumme für das Jahr 2001 ermittelt. Der
Kollokationsplan wurde am 22. April 2002 aufgelegt. Mit Verfügung vom 3.
September 2002 verpflichtete die Ausgleichskasse R.________ zur Bezahlung von
Schadenersatz für entgangene Beiträge, Verzugszinsen, etc. in der Höhe von
Fr. 230'002.-.

B.
Nachdem R.________ hiegegen Einspruch erhoben hatte, reichte die
Ausgleichskasse am 1. November 2002 Klage gegen ihn ein. Diese hiess die
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau (nachfolgend: Rekurskommission)
mit Entscheid vom 11. April 2003 vollumfänglich gut.

C.
R.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren, es seien der
vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Klage der Ausgleichskasse
abzuweisen. Sowohl die Rekurskommission als auch die Ausgleichskasse
schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherung (nachfolgend: BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Nachdem die Ausgleichskasse lediglich Schadenersatz für entgangene Beiträge
der AHV/IV/EO und der Arbeitslosenversicherung (zuzüglich Verzugszinsen)
sowie Verwaltungs- und Betreibungskosten geltend macht, ist auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vollumfänglich einzutreten (BGE 124 V 146 Erw.
1 mit Hinweis).

2.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im AHV-Bereich, insbesondere auch
hinsichtlich der Arbeitgeberhaftung nach Art. 52 AHVG, geändert sowie Art. 81
und 82 AHVV aufgehoben worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich
diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu
Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1, 126
V 166 Erw. 4b), kommen jedoch die bis 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen zur Anwendung.

3.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

4.
Die Rekurskommission hat die massgebenden Bestimmungen (Art. 52 AHVG; Art. 14
Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) sowie die dazu ergangene
Rechtsprechung, insbesondere über die subsidiäre Haftung der Organe eines
Arbeitgebers (BGE 123 V 15 Erw. 5b mit Hinweisen), den zu ersetzenden Schaden
(BGE 123 V 15 Erw. 5b, 121 III 384 Erw. 3bb, je mit Hinweisen), die
erforderliche Widerrechtlichkeit (BGE 118 V 195 Erw. 2a; SVR 2001 AHV Nr. 15
S. 53 Erw. 6b, je mit Hinweisen) sowie die Voraussetzung des Verschuldens
(BGE 108 V 186 Erw. 1b, 202 Erw. 3a; ZAK 1992 S. 248 Erw. 4b, 1985 S. 620
Erw. 3b, je mit Hinweisen), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

5.
Der Beschwerdeführer bestreitet weder den entstandenen Schaden noch seine
grundsätzliche Haftung hiefür; er macht jedoch Rechtfertigungs- und
Exkulpationsgründe geltend.

5.1 Bei der Beurteilung der Frage, ob die verantwortlichen Arbeitgeberorgane
ihren Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Einhaltung der
Beitragszahlungspflicht nachgekommen sind, ist ein mit der Ausgleichskasse
vereinbarter Zahlungsaufschub mit Tilgungsplan mitzuberücksichtigen, soweit
dem Beitragspflichtigen damit ein Abweichen von den ordentlichen
Zahlungsterminen zugestanden wird (BGE 124 V 253). Allerdings gilt dies nur
so lange, als der Arbeitgeber den Pflichten gemäss Tilgungsplan stets
nachkommt; denn bei Nichteinhaltung der vereinbarten Raten fällt der
Tilgungsplan von Gesetzes wegen dahin (Art. 38bis Abs. 3 AHVV in der bis 31.
Dezember 2000 geltenden Fassung; ab 1. Januar 2001 Art. 34b Abs. 3 AHVV;
Urteil O. und A. vom 19. Januar 2000, H 177/99). Der Beschwerdeführer kann
somit nichts zu seinen Gunsten aus dem Tilgungsplan vom August 2000 ableiten,
da die Firma diesen nicht bis zum Konkurs eingehalten hat, sondern spätestens
ab Februar 2001 mit den Ratenzahlungen in Rückstand geriet.

5.2 Bezüglich des unter den Erwartungen liegenden Verkaufspreises für die
veräusserten Immobilien sowie der angeblich unerwarteten Reduktion des
Bankkredites kann vollumfänglich auf die überzeugenden Erwägungen der
Rekurskommission verwiesen werden. Hervorzuheben ist lediglich, dass die
Kündigung des Bankkredites angesichts der andauernden schlechten finanziellen
Lage der Firma, an welcher auch die 1998 eingeleiteten Sanierungsmassnahmen
nichts änderten, nicht zu überraschen vermochte; darüber hinaus waren die
Beitragsausstände zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich, sodass die Kündigung
nicht ursächlich für die letztlich unbezahlt gebliebenen Beiträge ist (vgl.
Urteil M. vom 8. September 2000, H 379/99). Daran vermag auch die Behauptung
des Beschwerdeführers, der Bank sei die Bilanz per 30. April 2001 nicht
bekannt gewesen, nichts zu ändern. In diesem Zusammenhang ist darauf
hinzuweisen, dass die Bilanz per 30. April 2001 spätestens am 8. Juni 2001
(vgl. Ausdrucksdatum) erstellt wurde; dies bedeutet aber auch, dass der
Beschwerdeführer als verantwortliches Organ die Firma noch fast 3 Monate bis
zum Konkurs am 30. August 2001 weiterführte, obwohl deren Ende nach eigenen
Angaben absehbar war und die Bilanz deshalb zu Liquidationswerten erstellt
wurde (vgl. Ziff. 5 der Verwaltungsgerichtsbeschwerde).

5.3 Im Weiteren macht der Beschwerdeführer geltend, er habe nach der
Reduktion des Bankkredites die noch vorhandenen Mittel für Vorauszahlungen
der Lieferanten sowie zur Befriedigung der Mitarbeiter verwendet. Dabei
übersieht er, dass er in dieser Situation gehalten gewesen wäre, nur so viel
Lohn auszuzahlen, als er auch die darauf von Gesetzes wegen geschuldeten
paritätischen Beiträge abzuliefern in der Lage gewesen wäre (SVR 1995 AHV Nr.
70 S. 214 Erw. 5).

5.4 Was schliesslich die Belehnung der Lebensversicherungen sowie den
Verzicht auf finanzielle Entschädigungen durch die Firma betrifft, so vermag
dies den Beschwerdeführer nicht zu entlasten; denn darin liegt kein Bestreben
zur Bezahlung der ausstehenden Beiträge (vgl. Urteil D. vom 8. Oktober 2001,
H 94/01, Urteil B. vom 26. September 2001, H 19/01, sowie Urteil W. und C.
vom 13. Dezember 2000, H 124 und 125/00). Im Übrigen ergibt sich aus der
Arbeitgeberschlusskontrolle, dass der Beschwerdeführer seine Forderungen
gegenüber der Firma nicht in letzter Priorität erfüllte, sondern vielmehr für
die Monate Januar bis Juli 2001 einen Lohn von Fr. 77'000.- bezog.

5.5 Nach dem Gesagten ist keiner der geltend gemachten Rechtfertigungs- und
Exkulpationsgründe stichhaltig. Demnach hat die Rekurskommission den
Beschwerdeführer zu Recht zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr.
230'002.- verpflichtet.

6.
Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen
geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Der
unterliegende Beschwerdeführer hat demnach die Gerichtskosten zu tragen (Art.
156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 7000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 26. Januar 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: