Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 12/2003
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H 12/03

Urteil vom 5. Mai 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Keel Baumann

Dr. X.________, Rechtsanwalt, Beschwerdeführer,

gegen

Kantonale Ausgleichskasse Glarus, Zwinglistrasse 6, 8750 Glarus,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, Glarus

(Entscheid vom 10. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
Am 1. Januar 1993 nahm X.________ die Tätigkeit als selbstständiger
Rechtsanwalt auf.

Nachdem ihm der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der
wissenschaftlichen Forschung für die Zeit vom 1. Juli 1999 bis 30. Juni 2001
ein Forschungsstipendium zugesprochen hatte (Schreiben vom 14. Juni 1999),
reiste X.________ am 28. Juli 1999 in die USA, von wo er am 31. Juli 2000,
nach Absolvierung eines LL.M.-Studiums, zurückkehrte. Von September 2000 bis
Anfang April 2001 hielt sich X.________ sodann am Max-Planck-Institut für
ausländisches und internationales Sozialrecht in München auf.

Die Kantonale Ausgleichskasse Glarus erfasste X.________ mit Wirkung ab 1.
Januar 1993 als Selbstständigerwerbenden und erhob für die Jahre 1993 bis
2000 Beiträge. Am 11. Dezember 2001 erliess sie eine Nachtragsverfügung für
das Jahr 2000, welcher sie gestützt auf die Steuermeldung vom 26. November
2001 ein beitragspflichtiges Jahreseinkommen von Fr. ... zugrunde legte
(durchschnittliches Einkommen der Jahre 1997 und 1998: Fr. ...; Zins auf dem
im Betrieb investierten Eigenkapital von Fr. ... : Fr. ...).

B.
Die von X.________ hiegegen mit dem Antrag auf Aufhebung der angefochtenen
Verfügung und Rückweisung der Sache an die Ausgleichskasse erhobene
Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Entscheid vom
10. Dezember 2002 ab.

C.
X.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei die Sache im Sinne der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er macht geltend, die Vorinstanz
sei zu Unrecht von einer selbstständigen Erwerbstätigkeit im Jahr 2000
ausgegangen bzw. habe zu Unrecht eine Gegenwartsbemessung der Beiträge
abgelehnt, und reicht zur Stützung seines Standpunktes weitere Beweismittel
ein.

Die Ausgleichskasse enthält sich eines formellen Antrages, unter Hinweis auf
die im kantonalen Verfahren erstattete Beschwerdeantwort. Das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Entscheid
Bundesrecht verletzt, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Ferner ist Art. 114 Abs. 1 OG zu beachten, wonach das Eidgenössische
Versicherungsgericht in Abgabestreitigkeiten an die Parteibegehren nicht
gebunden ist, wenn es im Prozess um die Verletzung von Bundesrecht oder um
die unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts geht.

2.
Das auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000,
mit welchem zahlreiche Bestimmungen im AHV-Recht geändert wurden, findet
vorliegend keine Anwendung, weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich
diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu
Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).

3.
3.1 Nach Art. 3 Abs. 1 AHVG sind die Versicherten beitragspflichtig, solange
sie eine Erwerbstätigkeit ausüben. Die Beiträge der erwerbstätigen
Versicherten werden in Prozenten des Einkommens aus unselbstständiger und
selbstständiger Erwerbstätigkeit festgesetzt (Art. 4 Abs. 1 AHVG).

Der Begriff der Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 AHVG setzt die
Ausübung einer auf die Erzielung von Einkommen gerichteten bestimmten
(persönlichen) Tätigkeit (vgl. Art. 6 Abs. 1 AHVV) voraus, durch welche die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöht wird. Für die Beantwortung der
Frage, ob Erwerbstätigkeit vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob die
betreffende Person subjektiv eine Erwerbsabsicht für sich in Anspruch nimmt.
Diese muss vielmehr auf Grund der konkreten wirtschaftlichen Tatsachen
nachgewiesen sein. Wesentliches Merkmal einer Erwerbstätigkeit ist sodann
eine planmässige Verwirklichung der Erwerbsabsicht in der Form von
Arbeitsleistung, welches Element ebenfalls rechtsgenüglich erstellt sein muss
(BGE 128 V 25 Erw. 3b, 125 V 384 Erw. 2a, je mit Hinweisen).

3.2  Die Beitragspflicht endet mit der tatsächlichen Erwerbsaufgabe
(Greber/Duc/Scartazzini, Commentaire des articles 1 à 16 de la loi fédérale
sur l'assurance-vieillesse et survivants [LAVS], Basel 1997, S. 103 Rz 11;
vgl. auch Käser, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV,
2. Auflage, Bern 1996, S. 54 f. Rz 2.5 am Ende und Rz 2.7). In der vom BSV
herausgegebenen Wegleitung über die Beiträge der Selbstständigerwerbenden und
Nichterwerbstätigen (WSN) werden in Rz 1051 als Beispiele für die
tatsächliche Erwerbsaufgabe der Zeitpunkt der Beendigung der Liquidation und
der Todestag genannt.

4.
Streitig und zu prüfen ist, ob Ausgleichskasse und Vorinstanz den
Beschwerdeführer für das vorliegend einzig streitige Jahr 2000 zu Recht als
Selbstständigerwerbenden qualifiziert haben. Erst wenn dies zu bejahen ist,
ist der (im angefochtenen Entscheid unzutreffenderweise vorab gestellten)
Frage nach dem Beitragsfestsetzungsverfahren (Art. 22 ff. AHVV in der bis 31.
Dezember 2000 geltenden Fassung [vgl. Abs. 1 der Schlussbestimmungen der
Änderung der AHVV vom 1. März 2000]) nachzugehen.

4.1 Bereits vor Vorinstanz reichte der Beschwerdeführer ein Schreiben vom 28.
November 2001 ein, in welchem Rechtsanwalt Dr. M.________ bestätigt, dass der
Beschwerdeführer ihm mit Datum vom 25. Juni 1999 eine Generalvollmacht
betreffend die Führung der Anwaltskanzlei während seiner Auslandabwesenheit
erteilt hatte, welche mit dessen Rückkehr im April 2001 geendet habe.
Rechtsanwalt Dr. M.________ hielt fest, dass er ab 1. Juli 1999
entschädigungslos auf seinen Namen und auf seine Rechnung laufende Mandate
der Kanzlei des Beschwerdeführers übernommen und weitere Mandate im
Einverständnis mit der jeweiligen Klientschaft an Drittanwälte übertragen
habe, wobei es sich um mehrere Dutzend Falldossiers gehandelt habe. Überdies
habe er gleichzeitig die vereinbarte Liquidation des Anwaltsbüros betrieben.
Bei seiner Tätigkeit im beschriebenen Umfang sei er intern von S.________,
einem Haftpflicht- und Sozialversicherungsexperten mit langjähriger
Erfahrung, sowie von W.________, Anwaltspraktikant, unterstützt worden. Die
Liquidierung der Anwaltskanzlei sei sukzessive erfolgt, wobei der
Beschwerdeführer ihm unentgeltlich einerseits die Büroräumlichkeiten und
andererseits das Sekretariatspersonal zur Verfügung gestellt habe. Bei der
Rückkehr aus dem Ausland sei die Anwaltskanzlei des Beschwerdeführers
praktisch vollständig liquidiert gewesen; eine der ehemaligen Sekretärinnen
des Beschwerdeführers sei inzwischen bei ihm angestellt und er habe dem
Beschwerdeführer mit Ausnahme der denselben privat betreffenden Mandate nicht
mehr als fünf Falldossiers zurückgegeben.

4.2 Die Vorinstanz erwog, dass die tatsächlichen Verhältnisse während dem
Auslandaufenthalt – die Übergabe der pendenten Fälle an einen Berufskollegen
mittels Vollmacht bzw. die Betreuung durch die bisherigen Mitarbeiter sowie
die Übernahme und Fortführung pendenter Verfahren bei der Rückkehr in die
Schweiz - für eine "Platzhalterfunktion" der genannten Personen während der
Abwesenheit des Beschwerdeführers sprächen, was durchaus im Rahmen der
Selbstorganisation bei selbstständiger Erwerbstätigkeit liege. Unmassgeblich
sei, dass bei diesen Verfahren während der Abwesenheit des Beschwerdeführers
nicht er, sondern ein anderer als bevollmächtigter Vertreter in Erscheinung
getreten sei. Denn sämtlichen Verfahrensbeteiligten sei jederzeit bewusst
gewesen, dass der Beschwerdeführer das jeweilige Mandat angetreten hatte, und
die Dossiers dürften infolgedessen weiterhin als seine eigenen gegolten
haben. Auf eine ununterbrochene Tätigkeit als selbstständiger Rechtsanwalt
deute auch, dass der Beschwerdeführer gemäss kantonalem Amtsblatt vom 27.
Juni 2002 (S. 167) im Anwaltsregister eingetragen sei.

4.3 Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Vorab ist darauf
hinzuweisen, dass der von der Vorinstanz zuletzt genannte Umstand, die
Eintragung ins Anwaltsregister, für die vorliegend entscheidende Frage, ob
der Beschwerdeführer im Jahr 2000 weiterhin einer selbstständigen
Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, schon deshalb keine Rückschlüsse zulässt,
weil sich jede über ein Anwaltspatent verfügende Person - unabhängig von der
tatsächlich ausgeübten Beschäftigung - registrieren lassen kann. Eine
ununterbrochene selbstständige Erwerbstätigkeit anzunehmen verbietet sodann
die Tatsache, dass der Beschwerdeführer Rechtsanwalt Dr. M.________ nicht
etwa beauftragte, die Kanzlei während seiner Abwesenheit "aufrechtzuerhalten"
(namentlich auch neue Fälle anzunehmen), sondern mit diesem vielmehr
vereinbarte, dass er die Kanzlei "liquidiere", zu welchem Zweck er ihm
entschädigungslos mehrere Dutzend Dossiers zur Erledigung oder Übertragung an
Drittanwälte übergab. Bei dieser Sachlage kann - entgegen der im
angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung - nicht die Rede davon sein,
der Beschwerdeführer habe Rechtsanwalt Dr. M.________ als "Platzhalter"
eingesetzt. Vielmehr steht aufgrund der Akten fest, dass sich der
Beschwerdeführer mit Wirkung ab 1. Juli 1999 jeglicher auf Erwerb gerichteten
Tätigkeit enthalten hat, was im Übrigen gemäss Schreiben des Schweizerischen
Nationalfonds  vom 14. Juni 1999 Bedingung für die Zusprechung des
24-monatigen Stipendiums war (indem sich der Beschwerdeführer während der
Stipendiendauer ausschliesslich dem LL.M. [als Teil des Buchprojektes] und
dem Abschluss seines Buches "Das Schweizerische Behindertenrecht" zu widmen
hatte). Dass der Beschwerdeführer Rechtsanwalt Dr. M.________ zwar für eine
gewisse Zeit noch Personal und die in seinem Eigentum stehenden
Büroräumlichkeiten zur Verfügung stellte, ändert nichts daran, dass er die
"Liquidationstätigkeit" völlig aus der Hand gab und namentlich keinerlei
finanziellen Vorteile aus der Mandatsübertragung hatte, weshalb als Zeitpunkt
der Erwerbsaufgabe auch nicht erst der Abschluss der "Liquidation" betrachtet
wird. Zu keinem anderen Ergebnis vermag schliesslich der Umstand zu führen,
dass der Beschwerdeführer nach Ablauf des Forschungsstipendiums im Jahr 2001
von Rechtsanwalt Dr. M.________ (neben den ihn persönlich betreffenden
Mandaten) einige (nicht mehr als fünf) Mandate rückübertragen erhielt;
vielmehr wäre diesbezüglich die (im vorliegenden Verfahren indessen nicht
weiter interessierende) Frage nach der Neuaufnahme einer Erwerbstätigkeit zu
prüfen.

4.4 Da Ausgleichskasse und Vorinstanz den Beschwerdeführer für das Jahr 2000
somit zu Unrecht als Selbstständigerwerbenden qualifiziert haben, sind die
angefochtene Nachtragsverfügung vom 11. Dezember 2001 und der diese
bestätigende kantonale Entscheid aufzuheben.

5.
Praxisgemäss hat der in eigener Sache prozessierende Rechtsanwalt nur in
Ausnahmefällen Anspruch auf eine Parteientschädigung (BGE 110 V 132). Die
Voraussetzungen, die gemäss BGE 110 V 134 Erw. 4d kumulativ gegeben sein
müssen, damit eine solche Ausnahmesituation anzunehmen ist (komplexe Sache
mit hohem Streitwert, hoher Arbeitsaufwand; vernünftiges Verhältnis zwischen
dem betriebenen Aufwand und dem Ergebnis der Interessenwahrung), sind im
vorliegenden Fall nicht erfüllt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom 10. Dezember 2002 und die
Verfügung der Kantonalen Ausgleichskasse Glarus vom 11. Dezember 2001
aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 900.- werden der Kantonalen Ausgleichskasse Glarus
auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 900.- wird dem Beschwerdeführer
rückerstattet.

4.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

5.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 5. Mai 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: