Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 110/2003
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H 110/03

Urteil vom 16. Oktober 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiberin
Riedi Hunold

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch die Winterthur-ARAG
Rechtsschutz, Gartenhofstrasse 17, 8004 Zürich,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Schaffhausen, Oberstadt 9, 8201 Schaffhausen,
Beschwerdegegnerin

Obergericht des Kantons Schaffhausen, Schaffhausen

(Entscheid vom 14. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
X. ________ führte mit seinem Bruder ein Geschäft und war in dieser
Eigenschaft seit 1. November 1972 der Ausgleichskasse des Kantons
Schaffhausen als Selbstständigerwerbender angeschlossen. Diese erliess
aufgrund der Steuermeldung vom 12. Oktober 1999 entsprechende
Beitragsverfügungen. Gestützt auf das Rektifikat der Steuerverwaltung vom 21.
August 2001 verfügte die Ausgleichskasse die Beiträge für die Jahre 1997,
1998, 1999 und 2000 am 13. September 2001 neu. Nachdem die kantonale
Steuerverwaltung am 30. Mai 2002 der Ausgleichskasse mitgeteilt hatte, das
Rektifikat vom 21. August 2001 sei unzutreffend, massgebend sei die
Steuermeldung vom 12. Oktober 1999, setzte die Ausgleichskasse die Beiträge
für die Jahre 1997 bis 2000 mit Verfügungen vom 13. Juni 2002 wiederum neu
fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons
Schaffhausen mit Entscheid vom 14. Februar 2003 ab.

C.
X.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben; eventualiter sei der kantonale
Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz bzw.
an die Ausgleichskasse zurückzuweisen. Während die Ausgleichskasse auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Entscheid
Bundesrecht verletzt, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Ferner ist Art. 114 Abs. 1 OG zu beachten, wonach das Eidgenössische
Versicherungsgericht in Abgabestreitigkeiten an die Parteibegehren nicht
gebunden ist, wenn es im Prozess um die Verletzung von Bundesrecht oder um
die unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts geht.

2.
2.1 Nach der Rechtsprechung sind neue Verfahrensvorschriften grundsätzlich mit
dem Tag des Inkrafttretens sofort und in vollem Umfange anwendbar, es sei
denn, das neue Recht kenne anderslautende Übergangsbestimmungen. Dieser
intertemporalrechtliche Grundsatz kommt aber dort nicht zur Anwendung, wo
hinsichtlich des verfahrensrechtlichen Systems zwischen altem und neuem Recht
keine Kontinuität besteht und mit dem neuen Recht eine grundlegend neue
Verfahrensordnung geschaffen worden ist (BGE 129 V 115 Erw. 2.2 mit
Hinweisen; vgl. auch SVR 2003 IV Nr. 25 S. 76 Erw. 1.2).

Von den im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrecht (ATSG) vom 6. Oktober 2000 enthaltenen
Übergangsbestimmungen ist allein Art. 82 Abs. 2 ATSG verfahrensrechtlicher
Natur (BGE 129 V 115 Erw. 2.2). Dieser sieht vor, dass die Kantone ihre
Bestimmungen über die Rechtspflege diesem Gesetz innert fünf Jahren nach
seinem Inkrafttreten anzupassen haben; bis dahin gelten die bisherigen
kantonalen Vorschriften. Der Untersuchungsgrundsatz, d.h. die Pflicht zur
Abklärung des Sachverhalts und Erhebung der entsprechenden Beweismittel von
Amtes wegen, richtet sich jedoch nach Bundesrecht (Art. 85 Abs. 2 lit. c AHVG
in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung). Aus der erwähnten
Übergangsbestimmung ergibt sich somit nichts zu dieser Frage. Da der
vorinstanzliche Entscheid nach dem 1. Januar 2003 erlassen wurde, ist nach
dem Gesagten Art. 61 lit. c ATSG massgebend.

2.2 Art. 61 lit. c ATSG bestimmt, dass das Versicherungsgericht unter
Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid erheblichen Tatsachen
feststelle, die notwendigen Beweise erhebe und in der Beweiswürdigung frei
sei. Nachdem im Gesetzgebungsverfahren dieser Absatz unbestritten war und
keine materielle Änderung beabsichtigt war, sondern lediglich eine
redaktionelle Umarbeitung erfolgte (vgl. Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich 2003,
N 52 zu Art. 61), gilt die zu altArt. 85 Abs. 2 lit. c AHVG ergangene
Rechtsprechung auch unter der Herrschaft von Art. 61 lit. c ATSG.

3.
3.1 Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz
beherrscht. Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter
von sich aus und ohne Bindung an die Parteibegehren für die richtige und
vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen (BGE
125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen). Im Bereich der
Alters- und Hinterlassenenversicherung ergibt sich dieser Grundsatz aus
altArt. 85 Abs. 2 lit. c AHVG bzw. ab 1. Januar 2003 aus Art. 61 lit. c ATSG
(vgl. oben Erw. 2.2).

Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweise zu würdigen
sind. Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren
gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Danach haben
Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei, d.h.
ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu
würdigen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der
Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie
stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren
Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung der streitigen Rechtsanspruches
gestatten (BGE 125 V 352 Erw. 3a; vgl. vorliegend für das kantonale
Beschwerdeverfahren altArt. 85 Abs. 2 lit. c AHVG bzw. Art. 61 lit. c ATSG
und für das Verfahren vor Eidgenössische Versicherungsgericht Art. 132 in
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Um den Sachverhalt feststellen und die Beweise frei würdigen zu können,
müssen dem Sozialversicherungsgericht sämtliche Akten vorliegen, damit es
entscheiden kann, welche Unterlagen für die Beurteilung des streitigen Falles
wesentlich und welche nicht wesentlich sind. Es liegt demnach nicht im
Belieben der Verwaltung, im Beschwerdeverfahren dem Gericht nur jene Akten
einzureichen, welche sie als notwendig für die Beurteilung des Falles
betrachtet. Andernfalls würden die dargelegten Beweisgrundsätze ihres Gehalts
entleert (vgl. zum Ganzen Urteil W. vom 10. Oktober 2001, U 422/00).

3.2 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Beitrags- und Bemessungsperiode im ordentlichen Verfahren (Art. 22 AHVV in
der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung), die Meldung der kantonalen
Steuerverwaltung und deren Verbindlichkeit für die Ausgleichskassen (Art. 23
AHVV in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung; AHI 1997 S. 25 Erw. 2b;
ZAK 1992 S. 34 Erw. 3c, je mit Hinweisen) sowie die Voraussetzung der
Wiedererwägung einer Verfügung (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen)
zutreffend dargelegt.

3.3 Der Beschwerdeführer reichte mit seiner Rechtsschrift die
Nachtragsverfügungen für die Jahre 1997 bis 2000 vom 13. Juni 2002, das
Schreiben der Ausgleichskasse vom 3. Juli 2002, die Neuveranlagung der
kantonalen Steuerbehörden vom 20. Dezember 2000, die Staats- und
Gemeindesteuerrechnungen 1997 bis 2000, die definitive Rechnung der direkten
Bundessteuer 1999 vom 31. Januar 2001 sowie die Berichtigung der
Steuermeldung vom 30. Mai 2002 ein. Die Ausgleichskasse legte ihrer
Vernehmlassung lediglich die Steuermeldung vom 12. Oktober 1999, das
Rektifikat vom 21. August 2001 sowie die Berichtigung vom 30. Mai 2002 bei.

Somit befinden sich insbesondere weder die ursprünglichen Beitragsverfügungen
noch die Nachtragsverfügungen vom 13. September 2001 bei den Akten. Auch hat
die Vorinstanz keinen Nachweis für das Vertretungsverhältnis seitens des
Beschwerdeführers einverlangt (die entsprechende Vollmacht wäre den [nicht
edierten] Akten der Ausgleichskasse zu entnehmen gewesen). Zudem ist aufgrund
der spärlichen Aktenlage nicht klar, ob der Beschwerdeführer bereits im
Verwaltungs- oder erstinstanzlichen Verfahren einen ausdrücklichen Antrag auf
Neufestsetzung seiner Beiträge im ausserordentlichen Verfahren infolge
Invalidität stellte (etwa im Schreiben an die Ausgleichskasse vom 28. Juni
2002 oder anderer Korrespondenz, etwa im Sinne des in der Beschwerde vom 15.
Juli 2002 erwähnten Vorstelligwerdens bei der Ausgleichskasse im Nachgang zur
steuerlichen Zwischenveranlagung). Denn obwohl die von der kantonalen
Steuerverwaltung gemeldeten Zahlen für Ausgleichskasse und
Sozialversicherungsgericht verbindlich sind, haben Verwaltung und Gericht
unabhängig davon zu bestimmen, welches Beitragsbemessungsverfahren zum Zuge
kommt, ob ein gemeldetes Einkommen aus unselbstständigem oder selbstständigem
Erwerb stammt sowie ob das gemeldete Einkommen grundsätzlich der
Beitragspflicht unterliegt (AHI 1997 S. 26 Erw. 2b mit Hinweisen). So wird
das kantonale Gericht weiter zu prüfen haben, ob die Ausführungen in der
Beschwerde vom 15. Juli 2002 (insbesondere unter Materielles Ziff. 1 ff.)
einen sinngemässen Antrag auf Festsetzung der Beiträge im Verfahren nach Art.
25 AHVV in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung darstellen und die
Voraussetzungen für dessen Anwendung gegeben sind.

3.4 Nach dem Gesagten ist der vorinstanzliche Entscheid wegen unvollständig
festgestelltem Sachverhalt aufzuheben und an das kantonale Gericht
zurückzuweisen, damit dieses nach erfolgter Abklärung des Sachverhaltes und
in Ausschöpfung seiner vollen Kognition über die Beschwerde vom 15. Juli 2002
neu entscheide.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 14. Februar 2003
aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen neu über die Beschwerde vom
15. Juli 2002 entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.- werden der Ausgleichskasse des Kantons
Schaffhausen auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 1'600.- wird dem Beschwerdeführer
zurückerstattet.

4.
Die Ausgleichskasse hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'200.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. Oktober 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: