Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.74/2003
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6S.74/2003 /kra

Urteil vom 7. August 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiberin Giovannone.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Erich Giesser, Effingerstrasse
16, Postfach 6417, 3001 Bern,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern,
Postfach 7475, 3001 Bern.

Nachträglicher Vollzug der Reststrafe,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 1.
Strafkammer, vom 21. November 2002.

Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde am 11. Februar 1999 zu einer Freiheitsstrafe von 38 Monaten
verurteilt, deren Vollzug das Gericht jedoch zugunsten einer stationären
Behandlung für Drogensüchtige aufschob. Am 20. Januar 2000 wurde er bedingt
aus der stationären Behandlung entlassen. Die Entscheidung über den Vollzug
der aufgeschobenen Strafe schob das Gericht bis zum Ablauf der Probezeit auf.

Am 18. September 2001 verurteilte die 2. Strafkammer des Obergerichts des
Kantons Bern als zweite Instanz X.________ erneut wegen - teilweise
qualifizierten - Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz, begangen
in der Zeit von Oktober 1999 bis 9. April 2001, zu 17 Monaten Gefängnis. Am
28. Dezember 2001 schied das Obergericht für die Delikte, die er in der
Probezeit begangen hatte, eine Strafquote von 16 Monaten aus.

B.
Am 5. Februar 2002 ersuchte die Polizei- und Militärdirektion des Kantons
Bern das Gericht, über den nachträglichen Vollzug der Freiheitsstrafe gemäss
Urteil vom 11. Februar 1999 zu entscheiden, und beantragte zu prüfen, ob eine
allfällige Reststrafe zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschoben
werden könne.

Am 22. August 2002 erkannte das Kreisgericht VIII Bern-Laupen gestützt auf
Art. 45 Ziff. 3 StGB, die Reststrafe von 282 Tagen Gefängnis gemäss Urteil
vom 11. Februar 1999 sei zu vollziehen; es schob jedoch den Vollzug zugunsten
der Anordnung einer ambulanten psychotherapeutischen Massnahme auf.

Auf Appellation des Generalprokurators des Kantons Bern erkannte das
Obergericht des Kantons Bern, dass die Reststrafe von 282 Tagen Gefängnis
gemäss Urteil vom 11. Februar 1999 zu vollziehen sei. Den Antrag um Aufschub
des Vollzugs zugunsten einer ambulanten Massnahme wies es ab.

C.
Dieses Urteil ficht X.________ sowohl mit staatsrechtlicher als auch mit
eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde an. Mit Nichtigkeitsbeschwerde
beantragt er die Aufhebung des angefochtenen Urteils und den Aufschub des
Vollzugs der Reststrafe zugunsten einer ambulanten psychotherapeutischen
Massnahme. Ausserdem ersucht er um die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung.

D.
Mit Urteil vom heutigen Tag ist das Bundesgericht auf die staatsrechtliche
Beschwerde nicht eingetreten.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde streitig ist allein die Rechtsfrage,
ob das Gericht im Rahmen von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB den Vollzug der
Reststrafe zugunsten der Anordnung einer ambulanten psychotherapeutischen
Massnahme aufschieben kann.

Die Vorinstanz geht davon aus, dass die Anordnung einer Ersatzmassnahme im
Rahmen von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB nicht möglich ist. Der Richter müsse
dem Antrag der zuständigen Behörde entsprechen und die Strafe vollziehen
lassen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben seien. Gemäss Lehre
gäbe es zwar keinen sachlichen Grund für die fehlende Möglichkeit des
Richters, eine Ersatzmassnahme anzuordnen. Durch die Anordnung einer
Ersatzmassnahme werde jedoch die Rechtskraft des früheren Urteils
durchbrochen, wozu es einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfe. Vorliegend
habe das Gericht, welches die neue Tat beurteilt habe, die Anordnung einer
stationären Massnahme geprüft, jedoch davon abgesehen, weil die
Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren, und den Vollzug der neuen Strafe
angeordnet. Würde nun eine Ersatzmassnahme angeordnet, so würde dadurch die
für die neue Tat erteilte Sanktion unterlaufen. Soweit das Kreisgericht auf
die Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches verweise, habe das
Bundesgericht kürzlich am Vorrang des geltenden Rechts festgehalten. Würde
dem Betroffenen die gesetzlich nicht vorgesehene Möglichkeit einer
Ersatzmassnahme eröffnet, so würde im Übrigen dadurch seine Motivation zur
Wiederaufnahme der früheren Massnahme geschwächt (Urteil S. 6 und 7).

Der Beschwerdeführer stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, die
Anordnung einer Ersatzmassnahme sei möglich, wenn ein bedingt aus einer
Massnahme Entlassener in der Probezeit rückfällig werde. Die ambulante
Behandlung des Beschwerdeführers sei die einzig sinnvolle und nach dem
beigezogenen Experten auch die Erfolg versprechendste Möglichkeit für seine
Resozialisierung. Das Argument der Schwächung der Motivation sei deshalb
schon im Ansatz verfehlt. In Art. 43 und 44 StGB sehe das Gesetz in
mehrfacher Hinsicht die Durchbrechung des Rechtskraftsprinzips vor. Die Lehre
sei sich zunehmend einig, dass im Rahmen von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB
neben der Rückversetzung in die frühere Massnahme und dem Vollzug der
Reststrafe auch die Anordnung einer Ersatzmassnahme möglich sei. Es müsse mit
Marianne Heer eine Lücke angenommen und dem Richter diese Möglichkeit in
Analogie zu Art. 43 Ziff. 3 Abs. 3 StGB zugestanden werden (Heer, Basler
Kommentar zum StGB I, 2003, N. 43 zu Art. 45). Eine ausschliesslich
grammatikalische Auslegung des Gesetzes führe zu unhaltbaren Resultaten. Es
sei höchst befremdlich und sachlich nicht zu begründen, dass die Anordnung
einer Ersatzmassnahme möglich sei, wenn sich die Massnahme während ihres
Vollzugs als erfolglos erweise, aber unzulässig, wenn sich die
Erfolglosigkeit der Massnahme daraus ergebe, dass der Betroffene nach
bedingter Entlassung rückfällig werde.

2.
Begeht der vorzeitig aus einer Massnahme Entlassene während der Probezeit ein
Vergehen oder Verbrechen und wird er dafür mit einer unbedingten
Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt, so ordnet die
zuständige Behörde die Rückversetzung an oder beantragt dem Richter den
Vollzug der aufgeschobenen Strafe (Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB).

2.1 Der Gesetzgeber hat diese Bestimmung bei der Revision des
Strafgesetzbuches vom 1. März 1965 Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 Satz 1 StGB
nachgebildet, wo die Folgen der Nichtbewährung bei vorzeitiger bedingter
Entlassung aus dem Strafvollzug geregelt sind (Botschaft über eine
Teilrevision des Strafgesetzbuches vom 1. März 1965, BBl 1965 I 561 S. 578).
Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 Satz 1 StGB sieht unter den gleichen Voraussetzungen
die obligatorische Rückversetzung in den Strafvollzug vor.

2.2 Das Bundesgericht hat in BGE 106 IV 330 erkannt, dass Art. 45 Ziff. 3
Abs. 1 StGB die Rückversetzung in die Verwahrung zwingend vorschreibe; die
Frage des Strafvollzugs stellte sich dabei nicht, weil die Verwahrung an die
Stelle der Strafe tritt und diese nicht wie bei der stationären Massnahme
aufgeschoben wird (a.a.O., E. 3). In weiteren Entscheiden geht das
Bundesgericht implizit davon aus, dass es bei Anwendung von Art. 45 Ziff. 3
Abs. 1 StGB nur zwei Möglichkeiten gebe, nämlich die Rückversetzung in den
bisherigen Massnahmevollzug oder den Strafvollzug (BGE 128 IV 73 E. 4b und c;
117 Ia 277 E. 5a). Das Bundesgericht hat demnach bis anhin die Anordnung des
Strafvollzugs durch das Gericht als obligatorisch erachtet.

2.3 In der Lehre wird Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB kritisiert, weil darin die
Möglichkeit fehle, anstelle der Rückversetzung oder des nachträglichen
Strafvollzugs eine andere Massnahme anzuordnen. Die erneute Straffälligkeit
nach der vorzeitigen Entlassung aus der Massnahme zeige nichts anderes, als
dass die Massnahme gescheitert sei. Wenn sich eine Behandlung während ihrer
Dauer als erfolglos erweise und sie deshalb eingestellt werde, lasse Art. 43
Ziff. 3 Abs. 3 StGB dem Gericht die Wahl zwischen dem nachträglichen
Strafvollzug und der Anordnung einer anderen geeigneten Massnahme. Es könne
nicht darauf ankommen, ob sich die Massnahme während der Dauer der Behandlung
oder erst nach der probeweisen Entlassung als erfolglos erweise. Im
wohlverstandenen Interesse des Betroffenen an einer Behandlung müsse
zumindest bei therapeutischen Massnahmen eine Lücke angenommen und Art. 43
Ziff. 3 Abs. 3 StGB analog angewendet werden (Stratenwerth, Schweizerisches
Strafrecht AT II, 1989, § 11 N. 59 und 63 f., Heer, a.a.O., N. 43 zu Art.
45).

2.4 Das Strafrecht dient in erster Linie der Verbrechensverhütung.
Sanktionen, welche die Besserung oder Heilung des Täters begünstigen und
damit der Spezialprävention dienen, sind primär zu vollziehen. Erweist sich
eine Massnahme im konkreten Fall als erforderlich und wird ihr Erfolg durch
den Vollzug der schuldadäquaten Strafe gefährdet, so hat das Anliegen der
Spezialprävention grundsätzlich gegenüber demjenigen der Generalprävention
Vorrang. Dabei gilt es allerdings zu vermeiden, dass Straftäter mit
therapierbaren Persönlichkeitsstörungen in einem Mass privilegiert werden,
das mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip nicht mehr vereinbar ist (zur
Publikation bestimmtes Urteil 6S.394/2002 vom 27. Februar 2003 E. 4.2).

Mit der dargelegten Ausrichtung des Strafrechts sowie der von der
Rechtsprechung verfolgten einzelfall- und situationsgerechten Anwendung des
komplexen Massnahmenrechts geht auch einher, dass gerichtlich angeordnete
Massnahmen weitgehend abänderbar sind. Der Richter kann auf seinen Entscheid
über eine einmal angeordnete Massnahme unter den gesetzlichen Voraussetzungen
von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 3 StGB zurückkommen, wobei die Rechtsprechung die in
dieser Bestimmung enthaltenen Möglichkeiten wiederholt grosszügig ausgelegt
hat (BGE 123 IV 100 E. 3b und c; 106 IV 101 E. 2d). Aufgrund des 1991
revidierten Art. 44 Ziff. 6 Absatz 2 StGB kann das Gericht sogar auf einen
rechtskräftig angeordneten Strafvollzug zurückkommen und eine stationäre
Massnahme unter Strafaufschub anordnen, wenn die Voraussetzungen für eine
solche beim rauschgiftsüchtigen Verurteilten nachträglich gegeben sind. Der
Anwendungsbereich dieser Bestimmung wurde in der Folge noch durch die
Rechtsprechung auf trunksüchtige Verurteilte ausgeweitet (BGE 122 IV 292 E.
2e).

2.5 Mit Schlussabstimmung vom 13. Dezember 2002 hat die Bundesversammlung den
revidierten Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches verabschiedet (BBl. 2002
8240). Die Referendumsfrist ist am 3. April 2003 unbenutzt abgelaufen. Der
Zeitpunkt des Inkrafttretens ist noch offen. Das revidierte Gesetz trägt
generell der Forderung nach mehr Durchlässigkeit zwischen den Massnahmen und
im Besonderen auch der Kritik der Lehre an Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB
Rechnung (Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 21. September
1998, BBl 1999 II 1979 S. 2069 und S. 2084). Die Bestimmung, welche anstelle
von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB tritt, lautet:
Art. 62a nStGB
"1Begeht der bedingt Entlassene während der Probezeit eine Straftat und zeigt
er damit, dass die Gefahr, der die Massnahme begegnen soll, fortbesteht, so
kann das für die Beurteilung der neuen Tat zuständige Gericht nach Anhörung
der Vollzugsbehörde:
a)die Rückversetzung anordnen;
b)die Massnahme aufheben und, sofern die Voraussetzungen dazu erfüllt sind,
eine neue Massnahme anordnen; oder
c)die Massnahme aufheben und, sofern die Voraussetzungen dazu erfüllt sind,
den Vollzug einer Freiheitsstrafe anordnen.

...."
Damit hat das Gericht in Zukunft, bevor es den Vollzug der früheren Strafe
erwägt, nicht nur die Möglichkeit der Rückversetzung, sondern auch jene der
Anordnung einer Ersatzmassnahme zu prüfen. Ausserdem soll künftig der
Entscheid über die Folgen der Nichtbewährung beim Richter liegen, der die in
der Probezeit begangene Straftat beurteilt. Dadurch wird die im geltenden
Recht angelegte Doppelspurigkeit aufgehoben, wonach zuerst der Richter über
die in der Probezeit begangene Tat urteilt, darauf die Vollzugsbehörde über
die Rückversetzung entscheidet und gegebenenfalls danach noch der Richter die
Frage des nachträglichen Strafvollzugs beurteilen muss. Die Neuerungen haben
zum Ziel, dass eine einzige Instanz eine zusammenfassende Beurteilung der
aktuellen Situation des Täters vornimmt (Botschaft, a.a.O., S. 2084;
Wiprächtiger, Die Revision des Strafgesetzbuches: Freiheitsentziehende
Massnahmen - eine Bestandesaufnahme nach den Beratungen des Ständerates, in:
AJP 2001 S. 139 ff. S. 145).

3.
Vor diesem Hintergrund ist nun zu prüfen, ob bis zum Inkrafttreten des neuen
Rechts weiterhin davon auszugehen ist, dass das Gericht gemäss Art. 45 Ziff.
3 Abs. 1 StGB zwingend den Vollzug der (Rest-)Strafe anzuordnen hat.

3.1 Ausgangspunkt der Gesetzesanwendung ist der Gesetzestext. Selbst ein
klarer Wortlaut bedarf aber der Auslegung, wenn er vernünftigerweise nicht
der wirkliche Sinn des Gesetzes sein kann.  Massgebend ist nicht der
Buchstabe des Gesetzes, sondern dessen Sinn, der sich namentlich aus den dem
Gesetz zu Grunde liegenden Wertungen ergibt, im Wortlaut jedoch unvollkommen
ausgedrückt sein kann (BGE 128 IV 272 E. 2; 127 IV 198 E. 3b S. 200).

Bei der Auslegung des geltenden Rechts kann auf laufende Revisionen Bezug
genommen werden (BGE 128 II 282 E. 3.5.; 128 IV 3 E. 4b; 128 IV 25 E. 3a; 127
IV 97 E. 1b). So darf in objektiv-zeitgemässer Auslegung einer Gesetzesnorm
ein Sinn gegeben werden, der für den historischen Gesetzgeber infolge eines
Wandels der tatsächlichen Verhältnisse nicht voraussehbar war und in der
bisherigen Anwendung auch nicht zum Ausdruck gekommen ist (BGE 125 II 206 E.
4d/bb S. 213). Die Berücksichtigung von Gesetzesentwürfen im Rahmen der
Auslegung rechtfertigt sich vor allem, wenn damit das geltende System nicht
grundsätzlich geändert werden soll und nur eine Konkretisierung des
bestehenden Rechtszustandes angestrebt wird oder Lücken des geltenden Rechts
ausgefüllt werden sollen (BGE 124 II 193 E. 5d; 122 IV 292 E. 2d; 117 II 466
E. 5a, S. 475).

3.2 Der Wortlaut von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB sieht lediglich die
Rückversetzung in die frühere Massnahme und den Vollzug der Strafe vor und
schliesst damit die Anordnung einer Ersatzmassnahme klar aus. Dies war auch
eindeutig die Absicht des damaligen Gesetzgebers, der eine analoge Bestimmung
zu Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 Satz 1 StGB schaffen wollte (siehe oben E. 2.1).
Stellt man auf die Entstehung der hier diskutierten Norm ab, so ergibt sich
also unmittelbar aus dem Gesetz, dass das Gericht den Vollzug der Strafe
zwingend anzuordnen hat (so auch Stratenwerth, a.a.O., § 11 N. 60). Was die
dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen anbelangt, steht das schweizerische
Massnahmerecht schon seit der Revision von 1971 im Zeichen der Flexibilität,
indem es dem Gericht vielfach erlaubt, Massnahmen anzuordnen, welche im
ursprünglichen Urteil nicht vorgesehen waren. Diese Grundhaltung wurde durch
die punktuelle Revision im Jahr 1991 sowie die seitherige Rechtsprechung (BGE
122 IV 292, 123 IV 100 und 125 IV 225) tendenziell noch verstärkt. In BGE 122
IV 292 hat das Bundesgericht dem Richter die in Art. 44 Ziff. 6 Absatz 2 StGB
vorgesehene Möglichkeit unter Verzicht auf eine ausdrückliche gesetzliche
Grundlage sogar noch durch Analogieschluss ausgedehnt.

3.3 Einen solchen Analogieschluss schlägt ein Teil der Lehre unter Hinweis
auf die allgemeine Ausrichtung des Massnahmerechts nun auch in der hier zu
beurteilenden Frage vor, nämlich die entsprechende Anwendung von Art. 43
Ziff. 3 Abs. 3 StGB. Diese Bestimmung lässt für den Fall, dass sich eine
gerichtlich angeordnete Massnahme während ihres Vollzugs als erfolglos
erweist, zu, dass der Richter eine Ersatzmassnahme anordnet. Zwischen Art. 43
Ziff. 3  Abs. 3 und Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB besteht insoweit Analogie,
als die Vollzugsbehörde die frühere Massnahme in beiden Fällen als
gescheitert erachtet.

Es gibt jedoch zwischen den beiden Bestimmungen einen wesentlichen
Unterschied: Im Fall von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB hat der Verurteilte ein
neues Delikt begangen und ein Gericht hat dieses neue Delikt beurteilt. Im
Rahmen dieser Beurteilung prüft das Gericht auch, ob dem Täter für das neue
Delikt eine Massnahme aufzuerlegen ist. Gibt es für den Täter eine geeignete
Massnahme, so ist davon auszugehen, dass diese mit dem Urteil über die neue
Straftat angeordnet wird. Entsprechend hat das Gericht vorliegend bei der
Beurteilung der in der Probezeit begangenen Tat die Anordnung einer
stationären Massnahme geprüft, darauf jedoch in Ermangelung der
Voraussetzungen verzichtet. Es macht keinen Sinn, dass nach Rechtskraft
dieses Urteils ein zweites Gericht - dasjenige, welches gemäss Art. 45 Ziff.
3 Abs. 1 StGB über die Folgen der Nichtbewährung zu urteilen hat, - die
gleiche Frage erneut prüft. Der Analogieschluss, den ein Teil der Lehre
vorschlägt, erscheint demnach nicht als gerechtfertigt.

3.4 Unbefriedigend an der heutigen Rechtslage ist allerdings, dass es zu
Konfliktsituationen kommen kann zwischen der Sanktion, welche  das Gericht im
Urteil über die neue Straftat verhängt hat, und dem Vollzug der Reststrafe,
der nach Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB zwingend anzuordnen ist. Eine solche
Situation tritt ein, wenn im Urteil über die in der Probezeit begangene
Straftat eine neue Massnahme angeordnet wird. In dieser Situation kann dem
Anliegen des Vorrangs der Massnahme zwar Nachachtung verschafft werden, indem
die Vollzugsbehörde in Anwendung von Art. 2 Abs. 8 VStGB 1 (SR 311.01) den
Vollzug der Massnahme als dringlicher und zweckmässiger wertet und den
Vollzug der Reststrafe erneut aufschiebt. Der Entscheid, welcher aufgrund von
Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB ergangen ist, wird aber dadurch faktisch wieder
aufgehoben und hätte genauso gut unterbleiben können.

Durch eine analoge Anwendung von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 3 StGB könnten solche
Konfliktsituationen jedoch nicht grundlegend vermieden  werden. Im Gegenteil:
Hat das Gericht für die neue Straftat den sofortigen Vollzug der Strafe
angeordnet, würde die Gefahr eines Konflikts zwischen den Sanktionen gerade
erst dadurch geschaffen, dass dem Richter im Rahmen von Art. 45 Ziff. 3 Abs.
1 StGB die Möglichkeit eingeräumt würde, eine Ersatzmassnahme anzuordnen. In
dieser Konstellation, die im Übrigen auch im zu beurteilenden Fall gegeben
ist, steht der Vollzug der Reststrafe, wie ihn die Vorinstanz angeordnet hat,
mit dem Vollzug der neuen Strafe im Einklang.

Das eigentliche Problem von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB liegt demnach nicht
in der fehlenden Möglichkeit, eine Ersatzmassnahme anzuordnen, sondern in der
Doppelspurigkeit, welche im Zusammenhang mit der Zuständigkeit besteht.

3.5 Dementsprechend kann auch die Berücksichtigung der vom Parlament
verabschiedeten Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches nicht
dazu führen, dass dem Gericht im Rahmen des geltenden Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1
StGB die Möglichkeit der Anordnung einer Ersatzmassnahme eingeräumt wird. Die
Änderung des Gesetzes beschränkt sich nämlich nicht auf die Erweiterung der
Möglichkeiten des Gerichts, sondern ordnet die Zuständigkeit völlig neu. Es
handelt sich bei der Revision insoweit um eine grundlegende Systemänderung
und nicht etwa nur um eine einfache Lückenfüllung.

3.6 Gegen eine Änderung der Rechtsprechung zu Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB
sprechen überdies die in der Lehre geäusserten Bedenken: Als Ersatzmassnahme
käme je nach den konkreten Umständen auch eine Massnahme in Frage, die
schwerwiegender in die persönliche Freiheit des Täters eingreifen würde als
die bisherige Massnahme bzw. der Vollzug der Reststrafe. Die Durchbrechung
der Rechtskraft des Urteils, mit welchem die frühere Massnahme angeordnet
worden sei, bedürfe in solchen Fällen einer gesetzlichen Ermächtigung
(Stratenwerth, a.a.O., § 11 N. 59 nennt insbesondere die Verwahrung). Der in
der Lehre geäusserte Vorschlag, Art. 43 Ziff. 3 Abs. 3 StGB nur bei Anordnung
bestimmter Massnahmen - jener mit therapeutischem Charakter - für zulässig zu
erklären (Heer, a.a.O., N. 43 zu Art. 45), erscheint zur Lösung des Problems
wenig tauglich:

Die Frage, ob unter den Voraussetzungen von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB eine
Ersatzmassnahme angeordnet werden könnte, ist generell abstrakt zu
beurteilen. Auf das Kriterium, wie eingreifend die im konkreten Fall
anzuordnende Massnahme ist, kann nicht abgestellt werden. Andernfalls müsste
jeweils im konkreten Fall die geeignete Massnahme ermittelt werden, bevor
feststeht, ob die Anordnung einer Massnahme überhaupt zulässig ist.

3.7 An der bisherigen Rechtsprechung, wonach die Anordnung einer
Ersatzmassnahme im Rahmen von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB ausgeschlossen ist,
wird aus diesen Gründen festgehalten. Soweit die geltende Rechtslage
unbefriedigend ist, ergibt sich dies aus der Zuständigkeitsordnung und nicht
aus der fehlenden Möglichkeit der Anordnung einer Ersatzmassnahme. Die
aufgrund der geltenden Zuständigkeitsordnung zuweilen entstehenden Konflikte
zwischen den angeordneten Sanktionen können gemäss Art. 2 Abs. 8 VStGB 1
gelöst werden. Aufgrund dieser Bestimmung ist bis zum Inkrafttreten des
revidierten Gesetzes auch sichergestellt, dass gegebenenfalls die Massnahme,
welche das Gericht im Urteil über die neue Straftat angeordnet hat, Vorrang
geniesst.

4.
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach abzuweisen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art.
278 Abs. 1 BStP). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gemäss Art. 152
OG kann bewilligt werden, da von der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers
auszugehen ist. Überdies hat er den angefochtenen Entscheid mit vertretbaren
Argumenten in Frage gestellt (vgl. BGE 124 I 304 E. 2c). Dem Beschwerdeführer
werden deshalb keine Kosten auferlegt. Seinem Vertreter wird aus der
Bundesgerichtskasse eine angemessene Entschädigung ausgerichtet.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Fürsprecher Erich Giesser, wird für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- aus der
Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Generalprokurator des Kantons
Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 7. August 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: