Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.72/2003
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6S.72/2003 /kra

Urteil vom 16. Mai 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen,
Gerichtsschreiber Kipfer Fasciati.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Guido Ehrler, Postfach 321, 4005
Basel,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Bielstrasse 9, 4509 Solothurn.

Widerruf des bedingten Strafvollzuges,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Solothurn, Strafkammer, vom 15. Januar 2003.

Sachverhalt:

A.
Am 18. Mai 2000 reiste der algerische Staatsangehörige X.________, (geb.
1977) in die Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch. Am 18. August 2000 wurde
er mit Strafverfügung des geringfügigen Diebstahls (Deliktsumme Fr. 218.--)
schuldig gesprochen und zu einer bedingt vollziehbaren Haftstrafe von 20
Tagen bei einer Probezeit von einem Jahr verurteilt (Verurteilung 1). Die
Strafverfügung erwuchs in Rechtskraft.

B.
Mit Urteil vom 18. Mai 2001 verurteilte das Richteramt Solothurn-Lebern
X.________ wegen Diebstahls (Deliktsumme Fr. 667.--), Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz (Konsum von Haschisch, Besitz und Anstaltentreffen zum
Verkauf von 3 g Kokain) sowie Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über
Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) zu einer unbedingten
Gefängnisstrafe von zwei Monaten (Verurteilung 2). Dem erkennenden Richteramt
war die Verurteilung 1 nicht bekannt.

C.
Gegen das Urteil vom 18. Mai 2001 erhob X.________ Appellation beim
Obergericht des Kantons Solothurn; er beschränkte die Appellation auf die
Frage des bedingten Vollzugs der ausgefällten Strafe und auf den Schuldspruch
wegen Verletzung des ANAG.

Im Laufe des Rechtsmittelverfahrens wurde die Verurteilung 1 bekannt.

Mit Urteil vom 15. Januar 2003 hiess das Obergericht die Appellation
weitgehend gut: Es sprach ihn vom Vorwurf der Widerhandlung gegen das ANAG
frei, und es gewährte den bedingten Vollzug für die ausgefällte
Gefängnisstrafe von zwei Monaten. Gleichzeitig ordnete es jedoch den
nachträglichen Vollzug der mit Verurteilung 1 ausgesprochenen bedingten
Haftstrafe von 20 Tagen an.

D.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, die sich allein gegen
die Anordnung des Vollzugs der Erststrafe richtet. Er beantragt die Aufhebung
der entsprechenden Ziffer des obergerichtlichen Urteils. Ausserdem sucht er
um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege und um Gewährung der
aufschiebenden Wirkung für seine Beschwerde nach.

E.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen zur Beschwerde verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde kann nur damit begründet werden, dass die
angefochtene Entscheidung eidgenössisches Recht verletze (Art. 269 Abs. 1
BStP). Dabei hat der Beschwerdeführer kurz darzulegen, welche
Bundesrechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid
verletzt sind. Das Verfassungsrecht gilt nicht als Bundesrecht im Sinne von
Art. 269 Abs. 1 BStP. Ausführungen, die sich gegen die tatsächlichen
Feststellungen des Entscheides richten, das Vorbringen neuer Tatsachen, neue
Einwände, Bestreitungen und Beweismittel sowie Erörterungen über die
Verletzung kantonalen Rechts sind unzulässig (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).
Der Kassationshof ist an die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen
Behörde gebunden (Art. 277bis Abs.1 BStP; BGE 126 IV 65 E. 1 mit Hinweisen).

2.
2.1 Gestützt auf Art. 41 Ziff. 3 StGB ordnet die Vorinstanz den Vollzug der
mit Verurteilung 1 ausgesprochenen bedingt vollziehbaren Haftstrafe von 20
Tagen an. Sie lässt sich dabei von folgenden Gesichtspunkten leiten. Der
Beschwerdeführer habe nur zwölf Tage nach Eröffnung der Vorstrafe wegen
Diebstahls erneut einen Diebstahl begangen und kurz darauf überdies gegen das
Betäubungsmittelgesetz verstossen. Er habe damit seine Unbelehrbarkeit zum
Ausdruck gebracht. Unter diesen Umständen könne nicht mehr von einem leichten
Fall im Sinne von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB ausgegangen werden. Im Übrigen
könnte ihm keine gute Prognose gestellt werden, wenn die Haftstrafe nicht
vollzogen würde.

Gleichzeitig gewährt die Vorinstanz den bedingten Vollzug für die von ihr
selbst ausgesprochene Gefängnisstrafe von zwei Monaten. Sie stellt dabei -
neben Momenten, welche die Prognose belasten - vor allem darauf ab, dass sich
der Beschwerdeführer in den letzten beiden Jahren wohl verhalten hat. Für die
Prognose entscheidend aber sei, dass der Beschwerdeführer gemäss
Widerrufsentscheid die Haftstrafe von 20 Tagen werde verbüssen müssen. Der
Vollzug dieser Strafe werde auf den Beschwerdeführer eindrücklich und
nachhaltig wirken, sodass die Gefahr eines Rückfalls ausgeschlossen werden
könne.

2.2 Dagegen bringt der Beschwerdeführer zunächst generell Folgendes vor: Das
Bundesgericht habe in zwei publizierten Entscheiden die Grundsätze für den
Widerruf einer bedingt ausgesprochenen Strafe präzisiert. Danach könne auch
eine Strafe von mehr als drei Monaten unter bestimmten Umständen noch als
leichter Fall im Sinne von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB qualifiziert werden
(BGE 117 IV 97). Es sei zu prüfen, ob sich die Bewährungsprognose so sehr
verschlechtert habe, dass nunmehr der Vollzug der Strafe als die wirksame
Sanktion erscheine (BGE 128 IV 3). In Bezug auf seine konkrete Situation
macht der Beschwerdeführer geltend, dass die Vorinstanz nicht ausreichend
begründe - und damit das Begründungsgebot verletze -, weshalb nicht von einem
leichten Fall auszugehen sei, obwohl die Zweitstrafe deutlich unter der
Grenze von drei Monaten liege. Sodann verwerte die Vorinstanz die Tatsache,
dass er kurz nach seiner ersten Verurteilung erneut straffällig wurde, sowohl
bei der Strafzumessung als auch beim Entscheid über den Widerruf der
Erststrafe. Dass er kurz nach der Erstverurteilung erneut delinquiert habe,
genüge nicht für den Ausschluss eines leichten Falles. Er habe sich in den
letzten beiden Jahren wohl verhalten, weshalb die Vorinstanz auch auf eine
gute Prognose hinsichtlich der Zweitstrafe schliesse und dafür den bedingten
Vollzug gewähre. Deshalb sei auch vom Widerruf abzusehen. Im Übrigen handle
es sich bei seinen Delikten um die Akulturationskriminalität eines aus
ärmlichen Verhältnissen in Algerien stammenden jungen Mannes, der sich vom
Angebot in schweizerischen Warenhäusern habe verführen lassen. Inzwischen
habe er sich von seinen Taten distanzieren können, und er bereue sie. Auch
die einmalige Episode der Betäubungsmitteldelikte spräche nicht für
Fortsetzungsgefahr.

3.
Begeht der zu einer bedingten Strafe Verurteilte während der Probezeit ein
Verbrechen oder ein Vergehen, so lässt der Richter die Strafe vollziehen.
Wenn begründete Aussicht auf Bewährung besteht, kann der Richter in leichten
Fällen stattdessen den Verurteilten verwarnen und eine zusätzliche Massnahme
- Schutzaufsicht, Weisung, Verlängerung der Probezeit - anordnen (Art. 41
Ziff. 3 Abs. 1 und 2 StGB).

3.1 Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, die Vorinstanz habe nicht
hinreichend begründet, weshalb sie das Vorliegen eines leichten Falles
ausschliesse, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Das Begründungsgebot
ist Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch ist
verfassungsrechtlicher Natur (Art. 29 Abs. 2 BV), weshalb dessen Verletzung
im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde nicht gerügt werden kann (vgl. oben
E. 1).

Hingegen hebt das Bundesgericht einen kantonalen Entscheid gemäss Art. 277
BStP auf, wenn die Feststellungen der Vorinstanz so mangelhaft sind, dass die
Anwendung des eidgenössischen Rechts nicht überprüft werden kann. Davon ist
vorliegend nicht auszugehen: Die Vorinstanz schliesst einen leichten Fall
aus, weil der Beschwerdeführer ein relativ erhebliches Verschulden treffe,
das vor allem im beabsichtigten Verkauf von 3 g Kokain zum Ausdruck komme;
auch der Diebstahl sei keineswegs ein Bagatellfall. Besonders belastend sei
jedoch der Umstand, dass er diese Delikte unmittelbar nach Eröffnung einer
Erststrafe begangen habe. Diese Angaben lassen die Überprüfung der
Bundesrechtsanwendung zu.

3.2 Die Frage, ob ein leichter Fall im Sinne von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB
vorliegt, prüft das Bundesgericht in freier Kognition; da es sich dabei aber
um die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs handelt, weicht es in
Grenzfällen nur mit einer gewissen Zurückhaltung von der Auffassung der
Vorinstanz ab (vgl. Roland M. Schneider, N. 230 ff. zu Art. 41, in:
Niggli/Wiprächtiger, Basler Kommentar zum Schweizerischen Strafgesetzbuch,
Bd. I). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung gilt die Regel, dass es
sich bei einer Zweitstrafe von bis zu drei Monaten um einen leichten Fall
handelt. Abweichungen von dieser Regel sind durch besondere Umstände zu
rechtfertigen, welche nicht bereits für den Schuldspruch oder die Bemessung
der Strafe bestimmend waren (BGE 117 IV 97 E. 3c/cc; 122 IV 156 E. 3c; vgl.
auch Schneider, a.a.O., N. 233 f., N. 236). Vor diesem Hintergrund ist
festzustellen, dass die von der Vorinstanz angeführten Motive nicht
hinreichend zu begründen vermögen, weshalb trotz eines schuldangemessenen
Strafmasses von nur zwei Monaten ein leichter Fall zu verneinen ist. Dies
führt jedoch nicht zur Gutheissung der Beschwerde.

3.3 Der Richter ist auch bei Vorliegen eines leichten Falles nicht
verpflichtet, vom Vollzug der Erststrafe abzusehen (Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2
StGB: ."...kann..."). Er ist jedoch nur berechtigt, vom Vollzug abzusehen,
wenn neben dem Vorliegen eines leichten Falles kumulativ auch "die begründete
Aussicht auf Bewährung besteht". Für die Prognosestellung gelten dieselben
Kriterien, die auch beim Entscheid über die Gewährung des bedingten
Strafvollzugs zu berücksichtigen sind. Dabei steht dem Sachrichter, der eine
Gesamtwürdigung aller relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen hat, ein weites
Ermessen zu. Der Kassationshof des Bundesgerichts kann in das Ermessen auf
Nichtigkeitsbeschwerde hin, mit der ausschliesslich eine Verletzung von
Bundesrecht geltend gemacht werden kann (Art. 269 BStP), nur eingreifen, wenn
das kantonale Gericht gesetzliche Vorgaben verletzte, wenn es von rechtlich
nicht massgebenden Gesichtspunkten ausgegangen ist oder wenn es wesentliche
Gesichtspunkte ausser Acht gelassen beziehungsweise in Überschreitung oder
Missbrauch seines Ermessens falsch gewichtet hat (vgl. BGE 127 IV 101 E. 2c;
125 IV 1 E. 1; 123 IV 150 E. 2a mit Hinweisen).

Die Vorinstanz geht hinsichtlich der Zweitstrafe zwar von einer günstigen
Prognose aus, dies jedoch nur mit Vorbehalten und unter der ausdrücklichen
Bedingung des Vollzugs der Erststrafe. Sie unterstellt damit, dass die
Bewährungsprognose für den Beschwerdeführer, der sich durch die erste
bedingte Strafe nicht hat beeindrucken lassen, nur günstig ist, wenn deren
Vollzug eindrücklich und nachhaltig auf ihn wirke. Diese Einschätzung ist
unter dem Gesichtspunkt einer Gesamtwürdigung plausibel. Die Vorinstanz hat
damit weder das Recht verletzt noch das ihr zustehende Ermessen
überschritten. Daran vermögen die weiteren Vorbringen des Beschwerdeführers,
insbesondere der Hinweis auf BGE 128 IV 3, nichts zu ändern.

Die Beschwerde ist demnach abzuweisen.

4.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist abzuweisen, da die Beschwerde
von Anfang an aussichtslos war. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der
Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 278 Abs. 1 BStP). Seinen
finanziellen Verhältnissen ist bei der Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung
zu tragen.

Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um Bewilligung der
aufschiebenden Wirkung für die Beschwerde gegenstandslos geworden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Solothurn und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 16. Mai 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: