Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.64/2003
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6S.64/2003/pai
6S.65/2003

Urteil vom 3. August 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Karlen,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Borner.

S. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Mark Schibler, Käfiggässchen
10, 3011 Bern,

gegen

H.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecherin Brigitte Kreuzer,
Chaumontweg 2, Postfach,
3095 Spiegel b. Bern,
Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern.

Vergewaltigung, Widerrufsentscheid,

Nichtigkeitsbeschwerden gegen die Urteile des Obergerichts des Kantons Bern,
3. Strafkammer, vom 12. Dezember 2002 (Nr. 308/III/2002 und 309/III/2002).

Sachverhalt:

A.
A.a Die zum Tatzeitpunkt knapp 20-jährige H.________ war als Kind in Somalia
rituell beschnitten worden. Dabei wurden ihr Teile der Geschlechtsorgane
entfernt und die Vagina vom Schambein her bis auf eine kleine, etwa
Daumen-durchgängige Öffnung zugenäht (Infibulation). Sie und ihre Freundin
R.________ verliessen in der Nacht vom 14./15. März 2001 heimlich das
Schulheim X.________, um in den Ausgang zu gehen. Nach dem Besuch des
Dancings Babalu in Bern fuhren sie mit S.________, seinen Kollegen A. und B.
G.________, seiner Kollegin K.________, einem Kollegen von B. und A. sowie
C.________ zu dessen Wohnung an der Effingerstrasse. Dort standen ihnen ein
kleineres und ein grösseres Zimmer zur Verfügung.

Zunächst befanden sich alle im kleineren Zimmer, wo auch Joints geraucht und
Alkohol getrunken wurde. Als H.________ einschlief, begaben sich alle ins
grosse Zimmer. Später ging S.________ ins kleinere Zimmer zurück. Nach
mehreren Wortwechseln, bei denen H.________ klar sagte, sie wolle keinen Sex
mit ihm, riss S.________ ihre Beine, die sie fest zusammendrückte,
auseinander, legte sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf sie, überwand
mit dem Penis den von der Infibulation herrührenden natürlichen Widerstand,
wodurch das Narbengewebe aufgerissen wurde, und drang in die Vagina von
H.________ ein.

A.b Am 22. Februar, 10. und 11. Juni sowie 2. Juli 2001 benützte S.________
ohne gültigen Fahrausweis Fahrzeuge der Städtischen Verkehrsbetriebe Bern.

B.
Das Kreisgericht VIII Bern-Laupen verurteilte S.________ am 23. April 2002
wegen Vergewaltigung mittels psychischen Unter-Druck-Setzens sowie mehrfacher
Widerhandlung gegen das Transportgesetz zu einer bedingten Zuchthausstrafe
von 15 Monaten, Fr. 240.-- Busse und zur Bezahlung von Fr. 10'000.--
Genugtuung an H.________. Gleichentags widerrief es den bedingten
Strafvollzug einer fünftägigen Gefängnisstrafe, die das
Untersuchungsrichteramt III Bern-Mittelland am 18. Mai 2000 wegen
Urkundenfälschung und Widerhandlung gegen das Transportgesetz ausgesprochen
hatte.

Auf Appellation des Verurteilten sowie Anschlussappellation von H.________
und des Generalprokurators des Kantons Bern erkannte das Obergericht des
Kantons Bern am 12. Dezember 2002 ebenfalls auf Vergewaltigung, jedoch
mittels Gewaltanwendung; es setzte die Freiheitsstrafe auf 18 Monate fest,
verwies S.________ zusätzlich für drei Jahre des Landes, beides bei bedingtem
Vollzug, und bestätigte im Übrigen den erstinstanzlichen Entscheid.

C.
S.________ führt je eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Entscheid des
Obergerichts, der wegen Vergewaltigung verurteilt (6S.65/2003), und gegen den
gleichentags separat ergangenen Widerrufsentscheid (6S.64/2003). Er
beantragt, die angefochtenen Entscheide seien aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet (act. 7).

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde kann nur damit begründet werden, dass die
angefochtene Entscheidung eidgenössisches Recht verletze (Art. 269 Abs. 1
BStP). Ausführungen, die sich gegen die tatsächlichen Feststellungen des
Entscheides richten, sind unzulässig (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Der
Kassationshof ist im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde an den von der
kantonalen Behörde festgestellten Sachverhalt gebunden (Art. 277bis Abs. 1
BStP). Soweit der Beschwerdeführer von einem abweichenden Sachverhalt ausgeht
oder ihn ergänzt, kann auf die Beschwerde somit nicht eingetreten werden.

1.1 Die Vorinstanz beschreibt die Persönlichkeit der Beschwerdegegnerin und
ihre Situation, in der sie sich in der Tatnacht befand, wie folgt: Die knapp
zwanzigjährige Beschwerdegegnerin, die aus Somalia stammt und wegen einer
Lernbehinderung mehrere Jahre im Schulheim X.________ verbrachte, sei durch
eine strenge religiöse Erziehung geprägt; deshalb sei nachvollziehbar, dass
sie völlig verängstigt gewesen sei und sich in einem Ausnahmezustand befunden
habe. Dies insbesondere, wenn man sich vergegenwärtige, was der Verlust der
Jungfräulichkeit vor ihrem religiös-sittlichen Hintergrund für sie bedeuten
würde. In diesem Zustand seien ihr die im Nebenzimmer anwesenden Kollegen des
Beschwerdeführers nicht als mögliche Hilfe, sondern als Bedrohung erschienen,
zumal sie damit habe rechnen müssen, dass diese aus Loyalität eher zum
Beschwerdeführer halten würden. Für die Familie der Beschwerdegegnerin habe
es offensichtlich überhaupt keine Rolle gespielt, ob sie ihre
Jungfräulichkeit freiwillig oder unter Zwang verloren hatte. Sie sei denn
auch tatsächlich von ihrem Verlobten verlassen und von ihrer Familie
verstossen worden, obwohl sie allen von der Vergewaltigung erzählt hatte.

Weiter hält die Vorinstanz fest, der Beschwerdeführer habe trotz der
wiederholten und klar wahrnehmbaren Äusserung der Beschwerdegegnerin, sie
wolle nicht mit ihm schlafen, den Geschlechtsverkehr an ihr vollzogen. Er
habe dabei ihren Widerstand, der sich im Zusammenpressen der Beine
manifestiert habe, dadurch gebrochen, dass er ihre Beine auseinandergedrückt
und sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf sie gelegt habe. Dabei sei die
Beschwerdegegnerin durch die im anderen Raum anwesenden Kollegen des
Beschwerdeführers, die Situation an sich und insbesondere aufgrund der durch
die Defibulation zu erwartenden Schmerzen und späteren Konsequenzen stark
eingeschüchtert gewesen, was sie daran gehindert habe, sich weitergehend
gegen den Beschwerdeführer zur Wehr zu setzen.

1.2 Wenn der Beschwerdeführer vorbringt, es sei unbestritten, dass er keine
unüblichen Anstrengungen unternommen habe, um die Beschwerdegegnerin
irgendwie ihrer Abwehrmöglichkeiten zu berauben (z.B. Festhalten der Arme,
Zuhalten des Mundes etc.); wendet er sich gegen den verbindlich
festgestellten Sachverhalt. Danach hat der Beschwerdeführer die Beine der
Beschwerdegegnerin, die sie fest zusammengepresst hatte, gewaltsam
auseinandergerissen. Auf die Vorbringen des Beschwerdeführers ist somit nicht
einzutreten.
Ebenso wenig einzutreten ist auf die Annahme des Beschwerdeführers, die
Beschwerdegegnerin habe die Beine kaum spürbar zusammengepresst bzw. der
Beschwerdeführer habe keinen nennenswerten Kraftaufwand benötigt, um diese
auseinanderzudrücken. Denn die Vorinstanz erachtete die Aussage der
Beschwerdegegnerin, "ich habe die Beine fest zusammengedrückt", als
glaubwürdig. Wenn jemand die Beine "fest" zusammendrückt, bedarf es auch
eines erheblichen Kraftaufwandes, um sie auseinanderzudrücken. Soweit der
Beschwerdeführer davon ausgeht, er sei relativ klein und schmächtig und der
Beschwerdegegnerin gar nicht oder höchstens geringfügig körperlich überlegen
gewesen, ist er nicht zu hören. Die Vorinstanz hat nämlich keine derartigen
Feststellungen getroffen.
Der Beschwerdeführer macht geltend, aus den Aussagen der Beschwerdegegnerin
gehe sinngemäss hervor, dass es nicht das Auseinanderdrücken der Beine,
sondern ein sich aus der Situation ergebender psychischer Druck gewesen sei,
der ihren Widerstand gebrochen habe. Damit widerspricht der Beschwerdeführer
den oben erwähnten verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (E. 1.1), was
unzulässig ist.

2.
Eine Vergewaltigung nach Art. 190 Abs. 1 StGB begeht, wer eine Person
weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er
sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum
Widerstand unfähig macht.

2.1 Die Verübung von Gewalt erfordert eine physische Einwirkung auf das
Opfer, die darauf gerichtet ist, dessen geleisteten oder erwarteten
Widerstand zu brechen (Guido Jenny, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht,
Art. 189 N 16; BGE 122 IV 97 E. 2b). Unter Umständen kann bereits
Niederdrücken, mit überlegener Körperkraft festhalten, brutal zu Boden
stossen, in eine Telefonkabine drängen oder den Arm auf den Rücken drehen als
Gewalt definiert werden. Ein Teil der Lehre und die ältere Rechtsprechung
verlangen zudem, dass der Täter ein grösseres Mass an Kraft anwenden muss,
als unter gewöhnlichen Umständen zur Vornahme der jeweiligen sexuellen
Handlung erforderlich ist. Die neuere Rechtsprechung (BGE 122 IV 97) lässt
eine geringfügige Kraftanstrengung dann nicht genügen, wenn dem Opfer nach
Lage der Dinge Widerstand möglich und zumutbar ist. Es genügt grundsätzlich
diejenige Gewalt, die nötig war, das konkrete Opfer gefügig zu machen
(Philipp Maier, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II, Art. 189 N 14 mit
Hinweisen).

Ob die tatsächlichen Verhältnisse die tatbeständlichen Anforderungen eines
Nötigungsmittels erfüllen, lässt sich erst auf Grund einer umfassenden
Würdigung der relevanten konkreten Umstände entscheiden. Es ist mithin eine
individualisierende Beurteilung notwendig, die sich auf hinlänglich
typisierbare Merkmale stützen muss (BGE 124 IV 154 E. 3b).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer hat die Beine der Beschwerdegegnerin, die sie fest
zusammendrückte, auseinandergerissen und sich mit dem gesamten Körpergewicht
auf sie gelegt. Diese physische Einwirkung ist vom Ausmass her durchaus
vergleichbar mit dem oben (E. 2.1) erwähnten Niederdrücken oder mit
überlegener Körperkraft Festhalten. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer
bei der Penetration die Hautnarbe der zugenähten Schamlippen aufreissen und
damit einen grossen Widerstand überwinden musste, um in die Vagina der
Beschwerdegegnerin eindringen zu können. Aus dieser Vorgehensweise wird
deutlich, dass der Beschwerdeführer ein grösseres Mass an Kraft anwandte, als
unter gewöhnlichen Umständen zur Vornahme des Geschlechtsverkehrs
erforderlich ist.

Selbst wenn man das Auseinanderreissen der Beine durch den Beschwerdeführer
lediglich als geringfügige Kraftanstrengung ansehen wollte, wäre der
Beschwerdegegnerin aufgrund der geschilderten Umstände (siehe E. 1.1) ein
weiter gehender Widerstand nicht möglich und auch nicht zumutbar gewesen.
Folglich erachtete die Vorinstanz die objektiven Tatbestandsmerkmale zu Recht
als erfüllt.

Soweit der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang die Situation, in der sich
die Beschwerdegegnerin befand, abweichend schildert, kann darauf nicht
eingetreten werden, weil er damit dem verbindlich festgestellen Sachverhalt
widerspricht. Dasselbe gilt, soweit er den subjektiven Tatbestand in Frage
stellt. Die Vorinstanz kommt in tatsächlicher Hinsicht nämlich zum Schluss,
der Beschwerdeführer habe den Widerstand der Beschwerdegegnerin wahrgenommen
und ihn bewusst mit Gewalt gebrochen.

3.2 Der Beschwerdeführer macht Ausführungen zur Tatbestandsvariante des
nötigenden Unterdrucksetzens. Nachdem im vorliegenden Fall die
Tatbestandsvariante der Gewaltanwendung gegeben ist (E. 3.1), erübrigen sich
weitere Erörterungen.

3.3 Nach dem Gesagten ist die Nichtigkeitsbeschwerde (6S.65/2003) abzuweisen,
soweit darauf eingetreten werden kann.

4.
Für den Fall, dass der Schuldspruch wegen Vergewaltigung aufgehoben werden
sollte, begehrt der Beschwerdeführer auch die Aufhebung des
Widerrufsentscheids hinsichtlich der fünftägigen Gefängnisstrafe
(6S.64/2003).

Nachdem es mit dem Urteil betreffend Vergewaltigung sein Bewenden hat, ist
auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht einzutreten.

5.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da
seine Begehren von vornherein aussichtslos erschienen, ist das Gesuch
abzuweisen (Art. 152 OG).

Folglich wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 278 Abs. 1 BStP).
Bei der Bemessung der Gerichtsgebühr ist jedoch seinen finanziellen
Verhältnissen Rechnung zu tragen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde (6S.65/2003) wird abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist.

2.
Auf die Nichtigkeitsbeschwerde (6S.64/2003) wird nicht eingetreten.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

4.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Generalprokurator des Kantons Bern und
dem Obergericht des Kantons Bern, 3. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. August 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: