Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.433/2003
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6S.433/2003 /pai

Sitzung vom 27. Mai 2004
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly, Karlen, Zünd,
Gerichtsschreiber Heimgartner.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Kurt Rusch,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Thöny,
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Sennhofstrasse 17, 7001 Chur.

Ehrverletzung,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden,
Kantonsgerichtsausschuss, vom 30. Juli 2003.

Sachverhalt:

A.
X. ________ und Y.________ waren als Pflegeassistentin beziehungsweise
Krankenschwester in der Psychiatrischen Klinik A.________ tätig. X.________
war eine Bezugsperson der Töchter von Y.________, die im Sommer 2000 von zu
Hause ausrissen. Anlässlich eines Gesprächs mit der Stationsschwester und dem
Pflegedienstleiter erzählte X.________ am 22. Juli 2000, dass sie von
Y.________ massiv verbal bedroht worden sei, da diese das Gefühl habe, sie
würde ihre Töchter manipulieren. Unter anderem habe Y.________ ihr gesagt,
dass derjenige, der hinter diesem Komplott stecke, dies mit seinem Kopf
bezahlen müsse, ohne dass ihre Hände dabei schmutzig würden. Zudem habe sie
auch von Blutrache gesprochen. Auf Anraten ihrer Vorgesetzten wandte sich
X.________ auch an die Kantonspolizei Graubünden.

B.
Das Bezirksgericht Hinterrhein wies am 10. April 2003 die von Y.________
wegen dieser Äusserungen eingereichte Ehrverletzungsklage gegen X.________
ab. Das Gericht erachtete den Wahrheitsbeweis im Sinne von Art. 173 Ziff. 2
StGB für erbracht.

C.
Am 30. Juli 2003 sprach das Kantonsgericht Graubünden X.________ auf Berufung
Y.________s hin der üblen Nachrede gemäss Art. 173 StGB schuldig und
verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 1'000.--.

D.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Kantonsgericht und die Staatsanwaltschaft haben auf Gegenbemerkungen zur
Beschwerde verzichtet. Y.________ beantragt in ihrer Vernehmlassung die
Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe Bundesrecht
verletzt, indem sie die vorgebrachten Rechtfertigungsgründe nicht geprüft
habe. Sie habe sich in einem Notstand gemäss Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
befunden, als sie sich wegen der Drohungen an ihre Vorgesetzten und die
Polizei gewandt habe. Zudem habe sie mit ihrem Vorgehen die Wahrung
berechtigter Interessen bezweckt.

Die Vorinstanz ist demgegenüber der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin mit
den Rechtfertigungsgründen sinngemäss geltend mache, ihre Äusserungen würden
der Wahrheit entsprechen. Damit stelle sie die Ehrverletzung beziehungsweise
Tatbestandsmässigkeit in Abrede. Die Frage nach einem Rechtfertigungsgrund
würde sich aber erst stellen, wenn eine tatbestandsmässige Handlung vorliege,
was die Beschwerdeführerin aber sinngemäss bestreite. Somit könne sie sich
auch nicht auf einen Rechtfertigungsgrund berufen. Vielmehr hätte sie den
Entlastungsbeweis führen müssen, was sie jedoch nicht beantragt habe.
Entgegen der Auffassung des Bezirksgerichts sei die Zulassung zum
Entlastungsbeweis nicht beziehungsweise verspätet beantragt worden. Gemäss
Art. 166 Abs. 1 StPO/GR müsse der Antrag auf Zulassung in der Stellungnahme
zur Strafklage gestellt werden und sei daher in einem späteren Zeitpunkt
nicht mehr zu hören.

2.
Die dogmatische Einordnung der Straflosigkeit infolge der Erbringung des
Entlastungsbeweises ist umstritten, betrifft jedoch gemäss einhelliger Lehre
nicht die Tatbestandsmässigkeit (vgl. dazu Franz Riklin, Basler Kommentar II,
Basel 2003, Art. 173 N. 25). Dies ergibt sich aus Art. 173 Ziff. 3 StGB, der
unter gewissen Umständen die Führung des Wahrheitsbeweises ausschliesst,
womit auch die Äusserung zutreffender Tatsachen zu einer Strafbarkeit nach
Art. 173 StGB führen kann. Nach Rechtsprechung und Lehre haben die
Rechtfertigungsgründe des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs Vorrang
gegenüber dem Entlastungsbeweis im Sinne von Art. 173 Ziff. 2 StGB, welcher
nur zum Zuge kommt, wenn die Straflosigkeit sich nicht bereits aus einem
Rechtfertigungsgrund ergibt (BGE 123 IV 97 E. 2c/aa, mit Hinweisen; Günter
Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht Besonderer Teil I, 6. Aufl. 2003, § 11 N.
51 f.). Bevor sich die Frage nach einem allfälligen Wahrheitsbeweis stellt,
hat der Richter somit zunächst über die Tatbestandsmässigkeit und das
Vorliegen allfälliger Rechtfertigungsgründe des Allgemeinen Teils zu
befinden.

3.
Die Vorinstanz verkennt, dass die Unwahrheit der Äusserung der dargelegten
Lehre und Rechtsprechung zu Folge kein Tatbestandsmerkmal darstellt. Das
Vorliegen von Rechtfertigungsgründen schliesst im Übrigen nicht aus, dass die
Aussage auch der Wahrheit entspricht. Vermag ein der Ehrverletzung
Beschuldigter einen Rechtfertigungsgrund des Allgemeinen Teils des StGB
darzutun, ist er von der Last, den Wahrheitsbeweis zu erbringen, befreit
(Lionel Frei, Der Entlastungsbeweis nach Art. 173 Ziff. 2 und 3 StGB und sein
Verhältnis zu den Rechtfertigungsgründen, Diss. Bern 1976, S. 95).

Insbesondere das Vorliegen eines (Putativ-)Notstands im Sinne von Art. 34
Ziff. 1 Abs. 1 StGB (in Verbindung mit Art. 19 StGB) kann hier gestützt auf
die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht zum Vornherein
ausgeschlossen werden. Ein Notstand setzt namentlich eine unmittelbare Gefahr
für ein Rechtsgut voraus. Nach der Rechtsprechung kann eine derartige Gefahr
auch vorliegen, wenn die Verletzung eines Rechtsguts zwar nicht unmittelbar
bevorsteht, eine Abwehr später aber nicht mehr oder nur noch unter sehr viel
grösseren Risiken möglich wäre (BGE 122 IV 1 E. 3a, mit Hinweisen). Es muss
somit in tatsächlicher Hinsicht festgestellt werden, ob Umstände vorlagen,
die darauf schliessen lassen, dass die Beschwerdeführerin einer
entsprechenden Gefahr ausgesetzt war, beziehungsweise sich einer solchen
Gefahr im Sinne eines Sachverhaltsirrtums (Art. 19 StGB) ausgesetzt sah.
Indem die Vorinstanz diese Prüfung unterliess und nicht abklärte, ob sich der
Sachverhalt, wie von der Beschwerdeführerin geschildert, zugetragen hat,
verletzte sie Bundesrecht.

4.
Aus diesem Grund ist die Beschwerde gutzuheissen und die Sache zu neuer
Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerdeführerin ist eine
angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 278 Abs. 3 BStP). Bei diesem
Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die Kosten zu tragen (Art.
278 Abs. 1 BStP). Sie stellt indes ein Gesuch um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege. Gemäss Art. 152 OG gewährt das Bundesgericht
einer bedürftigen Partei, deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint,
Befreiung von der Zahlung der Gerichtskosten. Nötigenfalls kann ihr ein
Rechtsanwalt beigegeben werden. Da von der Bedürftigkeit der
Beschwerdegegnerin auszugehen ist und ihr Rechtsbegehren zudem nicht von
vornherein aussichtslos war, kann das Gesuch bewilligt werden. Auf eine
Kostenauflage ist demnach zu verzichten, und dem Vertreter der
Beschwerdegegnerin ist für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse eine angemessene Entschädigung auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Kantonsgerichts des Kantons Graubünden vom 30. Juli 2003 aufgehoben und die
Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege der Beschwerdegegnerin wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Der Beschwerdeführerin wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine
Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin, Rechtsanwalt Christian Thöny,
Chur, wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr.
1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Graubünden und dem Kantonsgericht von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. Mai 2004

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: