Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.416/2003
Zurück zum Index Kassationshof in Strafsachen 2003
Retour à l'indice Kassationshof in Strafsachen 2003


6S.416/2003 /kra

Urteil vom 10. Februar 2004
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiber Schönknecht.

X. _________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Walter Heuberger,

gegen

A.________,
Beschwerdegegnerin,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau.

SVG-Widerhandlungen (Nichtanpassen der Geschwindigkeit etc.),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
3. Strafkammer,
vom 25. September 2003.

Sachverhalt:

A.
X. _________ fuhr am 5. Juni 2002 um 20.20 Uhr mit seinem Personenwagen von
Fislisbach her kommend auf der Mellingerstrasse ausserorts in Richtung
Mellingen. An einer Stelle, an welcher die Mellingerstrasse in einer leichten
Rechtskurve verläuft, bemerkte er vor sich A.________. Diese war gerade im
Begriff, die Mellingerstrasse an der Kreuzung mit der Verbindungsstrasse
"Boll" auf einem Pferd, mit einem zweiten Pferd an der Leine, in Richtung
Vita Parcours zu überqueren. In der Absicht, auf der linken Strassenseite an
A.________ vorbeizufahren, überfuhr X._________ die Sicherheitslinie, ohne
seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Als er sich bewusst wurde, dass dieses
Manöver nicht gelingen konnte, wechselte er wieder auf die rechte
Strassenseite und bremste ab. Gleichwohl kollidierte er in der Folge mit dem
an der Leine mitgeführten Pferd.

B.
Das Bezirksgericht Baden sprach X._________ am 5. Februar 2003 wegen
Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die Strassen-, Verkehrs- und
Sichtverhältnisse und Überfahrens der Sicherheitslinie der mehrfachen groben
Verkehrsregelverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr.
600.--. Die von A.________ geltend gemachte Schadenersatzforderung in der
Höhe von Fr. 1'347.45 hiess es in vollem Umfang gut.

Mit Urteil vom 25. September 2003 wies das Obergericht des Kantons Aargau die
von X._________ dagegen ergriffene Berufung ab.

C.
X._________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Obergericht des Kantons Aargau verzichtet auf Gegenbemerkungen.
Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde ist der Kassationshof
an die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Behörde gebunden (Art.
277bis Abs. 1 BStP). Ausführungen, die sich dagegen richten, sind unzulässig
(Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).
Die Vorinstanz hat im Rahmen der Beweiswürdigung festgestellt, dass der
Beschwerdeführer mindestens 80 km/h schnell fuhr, als er die
Beschwerdegegnerin wahrnahm. Indem der Beschwerdeführer geltend macht, wie
bei jeder Geschwindigkeitsfeststellung sei auch hier eine Sicherheitsmarge
abzuziehen, weshalb von einer rechtlich relevanten Geschwindigkeit von 75
km/h auszugehen sei, richtet er sich gegen die tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz. Insoweit ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz verletze Bundesrecht, wenn
sie das Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die Strassen-, Verkehrs- und
Sichtverhältnisse sowie das Überfahren der Sicherheitslinie als grobe
Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG qualifiziere.

2.1 Gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Gefängnis oder Busse bestraft, wer
durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die
Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.
Art. 90 Ziff. 2 SVG ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt, wenn der
Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet
und die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret gefährdet. Subjektiv
erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines rücksichtslosen oder
sonst wie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens zumindest eine grobe
Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (BGE 126 IV 192 E. 3). Eine ernstliche Gefahr
für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist bereits bei
einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte Gefahr
setzt die nahe liegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder
Verletzung voraus (BGE 123 IV 88 E. 3a mit Hinweisen).

2.2 Die Geschwindigkeit ist stets den Umständen anzupassen, namentlich den
Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen (Art. 32 Abs. 1 SVG). Der
Fahrzeugführer darf insbesondere nur so schnell fahren, dass er innerhalb der
überblickbaren Strecke anhalten kann (Art. 4 Abs. 1 der
Verkehrsregelverordnung [VRV; SR 741.11]).
Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz wies das
Fahrzeug des Beschwerdeführers bei leichtem Regen und nasser Fahrbahn einen
Bremsverzögerungsfaktor von 4,5 m/s2 auf. Ausgehend von einer Reaktionszeit
von einer Sekunde und einer Mindestausgangsgeschwindigkeit von 80 km/h betrug
sein Anhalteweg somit mindestens 77,1 m (22,2 m Reaktionsweg + 54,9 m
Bremsweg). Wegen der Krümmung der Mellingerstrasse und des hohen Graswuchses
an den Strassenböschungen, konnte der Beschwerdeführer ein Hindernis auf der
rechten Fahrspur auf Höhe der Kreuzung mit der Verbindungsstrasse "Boll"
frühestens aus einer Distanz von 70 m erkennen. Demnach war es ihm nicht
möglich, innerhalb der für ihn frei überblickbaren Strecke anzuhalten und
eine Kollision zu vermeiden. Er hat die Beschwerdegegnerin damit einer
konkreten Gefahr ausgesetzt. Es ist lediglich dem Zufall zu verdanken, dass
sich diese zum Kollisionszeitpunkt bereits auf der linken Strassenseite
befand. Im Übrigen bestand die nahe liegende Möglichkeit, dass das Pferd der
Beschwerdegegnerin - durch den Aufprall mit dem mitgeführten Pferd
aufgeschreckt - ausschlagen und die Beschwerdegegnerin abwerfen würde.
Bei den Vorschriften über das Anpassen der Geschwindigkeit an die Strassen-,
Verkehrs- und Sichtverhältnisse handelt es sich um grundlegende
Verkehrsregeln. Sie sind wesentlich für die Gewährleistung der Sicherheit des
Strassenverkehrs. Der Beschwerdeführer hat sie in objektiv schwerwiegender
Weise missachtet. Rein rechnerisch trifft es zwar zu, dass bereits bei einer
Bremsausgangsgeschwindigkeit von 75 km/h ein Anhalteweg von 69 m resultiert
und eine Kollision hätte vermieden werden können. Ein Fahrzeugführer darf
jedoch nicht so schnell fahren, dass er nur ganz knapp vor einem möglichen
Hindernis halten kann. Um jede Gefährdung auszuschliessen, hat er vielmehr
eine Sicherheitsstrecke zwischen dem Hindernis und dem Punkt, an dem er
bestenfalls halten kann, einzurechnen (BGE 76 IV 53 E. 3). Zudem ist zu
berücksichtigen, dass bereits eine relativ geringe Überschreitung der den
jeweiligen Verhältnissen angepassten Geschwindigkeit die mit einer Kollision
verbundenen Risiken massiv erhöht. Anschaulich lässt sich dies anhand des
folgenden Rechenbeispiels verdeutlichen: Fährt ein Auto mit einer
Bremsausgangsgeschwindigkeit von 55 km/h statt mit einer solchen von 50 km/h,
hat es dort, wo es mit 50 km/h stillstehen würde, noch eine Geschwindigkeit
von 28,2 km/h, bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 60 km/h noch eine
solche von 40,5 km/h. Derartige Aufprallgeschwindigkeiten können bei
Fussgängern zu schwersten Verletzungen führen. Ab einer
Kollisionsgeschwindigkeit von 20 km/h sind Becken- und Beinbrüche, ab einer
solchen von 45 km/h tödliche Verletzungen sehr wahrscheinlich (BGE 121 II 127
E. 4b mit Hinweis). Indem der Beschwerdeführer mit einer Geschwindigkeit von
mindestens 80 km/h in die unübersichtliche Rechtskurve vor der Unfallstelle
fuhr, schuf er die Gefahr solch schwerwiegender Verletzungen. Es ist
notorisch, dass kleine Strassen auch ausserorts zu einem nicht unerheblichen
Teil von Spaziergängern, Joggern, Fahrradfahrern oder Reitern frequentiert
werden. Im vorliegenden Fall wurde die Gefahr zusätzlich dadurch erhöht, dass
die Sicherheitslinie zur linken und die Böschung zur rechten Seite dem
Beschwerdeführer jegliches Ausweichmanöver verunmöglichten.
Nach dem Gesagten erweist sich die Geschwindigkeit des Beschwerdeführers als
den konkreten Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen offensichtlich
unangepasst. Der objektive Tatbestand des Art. 90 Ziff. 2 SVG ist somit
erfüllt. In subjektiver Hinsicht haben die Vorinstanzen zutreffend ein grobes
Verschulden bejaht. Der Beschwerdeführer macht denn auch nicht geltend, dass
es an dieser Tatbestandsvoraussetzung fehle. Es verletzt daher kein
Bundesrecht, wenn die Vorinstanz die Geschwindigkeitsüberschreitung als grobe
Verkehrsregelverletzung beurteilte.

2.3 Auf Strassen mit Sicherheitslinien ist immer rechts dieser Linien zu
fahren (Art. 34 Abs. 2 SVG). Insbesondere dürfen die Sicherheitslinien von
Fahrzeugen weder überfahren noch überquert werden (Art. 73 Abs. 6 lit. a der
Signalisationsverordnung [SSV; 741.21]).
Auch diese Vorschrift ist für die Verkehrssicherheit fundamental. Es ist
notorisch, dass ihre Übertretung geeignet ist, eine erhebliche Gefahr für
andere Verkehrsteilnehmer zu schaffen (BGE 119 V 241 E. 3d bb). Betroffen war
im vorliegenden Fall vorab die Beschwerdegegnerin, da sie sich zum
Kollisionszeitpunkt auf der linken Strassenhälfte befand. Das Vorbringen des
Beschwerdeführers, er habe die linke Fahrspur nur für kurze Zeit beansprucht,
ist demnach unerheblich, zumal auch zu berücksichtigen ist, dass dieser durch
sein Manöver dringend benötigten Bremsweg verlor.
In subjektiver Hinsicht macht der Beschwerdeführer geltend, er habe sich
nicht rücksichtslos verhalten. Vielmehr habe er die Sicherheitslinie
überfahren, um der Beschwerdegegnerin auszuweichen. Eine grobfahrlässige
Gefährdung der Verkehrssicherheit im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG liegt nach
bundesgerichtlicher Rechtsprechung immer vor, wenn der Täter sich der
allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist (BGE
119 V 241 E. 3d bb mit Hinweisen). Da der Beschwerdeführer die
Sicherheitslinie nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanzen
wissentlich überfuhr, ist ihm in Bezug auf die Gefährdung der
Beschwerdeführerin somit zumindest grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Was er
mit seinem Verhalten bezweckte, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich.
Die Vorinstanz verletzte daher kein Bundesrecht, indem sie das Überfahren der
Sicherheitslinie als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff.
2 SVG qualifizierte.

3.
Der Beschwerdeführer rügt weiter, die Vorinstanz habe in Bezug auf das
Überfahren der Sicherheitslinie den Rechtfertigungsgrund der Notstandshilfe
zu Unrecht verneint.

3.1 Die Tat, die jemand begeht, um sein Rechtsgut aus einer unmittelbaren,
nicht anders abwendbaren Gefahr zu erretten, ist straflos, wenn die Gefahr
vom Täter nicht verschuldet ist und ihm den Umständen nach nicht zugemutet
werden konnte, das gefährdete Gut preiszugeben (Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB).
Straflos bleibt sodann, wer eine Tat begeht, um das Gut eines anderen aus
einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu erretten (Art. 34
Ziff. 2 StGB).

3.2 Wie die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat, hat der Beschwerdeführer
die Gefahr, welche mit dem Ausweichmanöver auf die linke Fahrspur abgewendet
werden sollte, durch seine Geschwindigkeitsüberschreitung selbst verschuldet.
Der Beschwerdeführer macht indessen geltend, mit dem Überfahren der
Sicherheitslinie habe er die Gefahr einer Verletzung der Beschwerdegegnerin
abwenden wollen. Es liege daher ein Fall der Notstandshilfe im Sinne von Art.
34 Ziff. 2 StGB vor. Für die Annahme dieses Rechtfertigungsgrundes sei es
irrelevant, wer die Gefahr verschuldet habe.
Ob es vorliegend von Bedeutung ist, dass die Notstandssituation vom
Beschwerdeführer verschuldet wurde, kann offen bleiben. Wie die Vorinstanz
zutreffend erkannt hat, mangelt es am Erfordernis der Proportionalität der
Notstandstat. Wäre der Beschwerdeführer nämlich wie beabsichtigt mit
unverminderter Geschwindigkeit auf der linken Fahrspur an der
Beschwerdegegnerin vorbeigefahren, wäre der Gegenverkehr einer ungleich
höheren Gefahr ausgesetzt gewesen als die Beschwerdegegnerin im Falle einer
sofortigen Vollbremsung. Es verletzt somit kein Bundesrecht, dass die
Vorinstanz den Rechtfertigungsgrund der Notstandshilfe verneinte.

4.

Demnach ist die Nichtigkeitsbeschwerde im Strafpunkt abzuweisen, soweit
darauf einzutreten ist.

5.
Im Zivilpunkt macht der Beschwerdeführer geltend, die Vorinstanz habe
Bundesrecht verletzt, indem sie seine Berufung abwies. Zur Begründung führt
er sinngemäss ein Selbstverschulden der Beschwerdegegnerin an.
Erreicht der Streitwert der Zivilforderung, berechnet nach den für die
zivilprozessuale Berufung geltenden Vorschriften, den erforderlichen Betrag
nicht, und handelt es sich auch nicht um einen Anspruch, der im
zivilprozessualen Verfahren ohne Rücksicht auf den Streitwert der Berufung
unterläge, so ist eine Nichtigkeitsbeschwerde im Zivilpunkt nur zulässig,
wenn der Kassationshof auch mit dem Strafpunkt befasst ist (Art. 271 Abs. 2
BStP). Der Kassationshof tritt auf die Beschwerde im Zivilpunkt dabei nur
ein, wenn er die Beschwerde im Strafpunkt gutheisst und dessen abweichende
Beurteilung auch für die Entscheidung im Zivilpunkt Bedeutung haben kann
(Art. 277quater Abs. 2 BStP).
Bei der Schadenersatzforderung der Beschwerdegegnerin handelt es sich um eine
vermögensrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 46 OG. Da der Streitwert
Fr. 8'000.-- nicht erreicht und die Nichtigkeitsbeschwerde im Strafpunkt
abzuweisen ist, ist im Zivilpunkt auf sie nicht einzutreten.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Kosten dem Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 278 Abs. 1 BStP).
Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
und dem Obergericht des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 10. Februar 2004

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: