Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.376/2003
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6S.376/2003 /pai

Urteil vom 20. September 2004
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly, Karlen, Zünd,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprech Franz Norbert Bommer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich,
Eidgenössische Zollverwaltung Oberzolldirektion, Monbijoustrasse 40, 3003
Bern,
Schweizerische Bundesanwaltschaft,
Taubenstrasse 16, 3003 Bern.

Verjährung (Art. 70 Abs. 3 StGB),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich,

I. Strafkammer, vom 2. Juni 2003.

Sachverhalt:

A.
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X.________ am 2. Juni 2003
wegen mehrfacher Erschleichung einer Falschbeurkundung gemäss Art. 15 Ziff. 1
Abs. 2 VStrR, wegen mehrfacher Zollübertretung sowie wegen mehrfacher
Hinterziehung oder Gefährdung der Steuern gemäss Art. 77 der
Mehrwertsteuerverordnung zu einer Busse von Fr. 23'000.--. Dem Schuldspruch
liegen drei Ausfuhrabfertigungen für Schmuckwaren im Gesamtwert von Fr.
595'000.-- zu Grunde, bei denen X.________ andere als in den
Zolldeklarationen angegebene, aber ähnlich aussehende Schmuckstücke
mitführte. Drei weitere gleichartige Handlungen erachtete das Obergericht als
verjährt. Es trat deshalb in diesen Punkten auf die Anklage nicht ein.

B.
X. ________ erhebt beim Bundesgericht eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, es sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben, soweit es ihn
auch für die Handlung vom 1. Januar 1996 wegen Erschleichens einer
Falschbeurkundung schuldig spreche und bestrafe.

Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies am 21. April 2004 die
Beschwerde, die X.________ gegen das obergerichtliche Urteil auch bei dieser
Instanz einreichte, ab, soweit es darauf eintrat.

Das Obergericht, die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, die
Eidgenössische Zollverwaltung Oberzolldirektion sowie die Schweizerische
Bundesanwaltschaft haben auf Gegenbemerkungen zur Beschwerde verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet einzig die Frage, ob das
dem Beschwerdeführer vorgeworfene Erschleichen einer Falschbeurkundung vom 1.
Januar 1996 verjährt ist.

Die Vorinstanz legt zutreffend dar, dass das fragliche Delikt gemäss Art. 15
Ziff. 1 Abs. 2 VStrR ein Vergehen darstellt, bei dem nach den im Tatzeitpunkt
geltenden Art. 70 und 72 Ziff. 2 Abs. 2 aStGB in Verbindung mit Art. 2 VStrR
die absolute Verjährung nach siebeneinhalb Jahren eintritt. Da die
Verjährungsfrist somit bis am 1. Juli 2003 lief, war bei Fällung und
Eröffnung des angefochtenen Entscheids am 2. Juni 2003 die umstrittene
Handlung nach der zur Tatzeit geltenden Regelung noch nicht verjährt.

Die seit dem 1. Oktober 2002 geltenden neuen Bestimmungen über die Verjährung
finden freilich auch auf Taten Anwendung, die vor ihrem Inkrafttreten verübt
wurden, wenn sie für den Täter milder sind (Art. 337 StGB; BGE 129 IV 49 E.

5.1  S. 51). Nach Art. 70 Abs. 1 lit. c StGB in der seit dem 1. Oktober 2002
geltenden Fassung verjährt die am 1. Januar 1996 erschlichene
Falschbeurkundung nach sieben Jahren, also am 2. Januar 2003. Allerdings
sieht das neue Recht in Art. 70 Abs. 3 StGB vor, dass die Verjährung nicht
mehr eintritt, wenn vor dem Fristablauf ein erstinstanzliches Urteil ergangen
ist.

In der hier umstrittenen Sache fällte der erstinstanzliche Richter am 11.
Dezember 2002 das Urteil. Er eröffnete es jedoch nicht mündlich, sondern
stellte es dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers am 30. Januar 2003 zu.
Dieser nahm den Entscheid am 2. Februar 2003 in Empfang. Vorliegend war am 1.
Januar 2003, als die Verjährungsfrist ablief, das erstinstanzliche Urteil
wohl gefällt, aber den Parteien noch nicht eröffnet. Der Eintritt der
Verjährung hängt hier somit davon ab, ob ein bereits gefälltes, aber noch
nicht eröffnetes Urteil als ergangen im Sinne von Art. 70 Abs. 3 StGB
anzusehen ist.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz sei zu Unrecht vom
Grundsatz abgewichen, dass ein Urteil erst mit seiner Eröffnung rechtlich
wirksam werde. Die Mitteilung an die Parteien bilde den letzten Akt des
erstinstanzlichen Prozesses. Es sei deshalb folgerichtig, dass auch dieser
letzte Schritt vor Ablauf der Verjährungsfrist abgeschlossen sein müsse. Nur
so sei sichergestellt, dass der verjährungsrechtlich massgebende Zeitpunkt
mit dem Beginn der Frist für das Ergreifen von Rechtsmitteln zusammenfalle
und so eine übersichtliche und kohärente Ordnung entstehe. Andernfalls könnte
auch ein Urteil, das erst längere Zeit nach seiner Fällung eröffnet wird,
noch Wirkungen entfalten, was dem Grundgedanken der Verjährung zuwiderliefe.
Wegen der unterschiedlichen Sachlage könne die Rechtsprechung zur
retrospektiven Konkurrenz, bei der das Bundesgericht auf den Zeitpunkt der
Fällung und nicht jenen der Eröffnung abstelle (BGE 129 IV 113 E. 1.2), nicht
auf den vorliegenden Fall übertragen werden.

2.1  Die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Urteil die Beendigung des Laufs der
Verjährung bewirkt, stellte sich schon unter dem alten Recht. Nach Art. 70
und 72 aStGB mussten Verurteilungen vor Ablauf der - relativen oder absoluten
- Verjährungsfrist erfolgen und waren nachher nicht mehr zulässig. In diesem
Zusammenhang war ebenfalls die Frage zu beantworten, in welchem Zeitpunkt das
vor Ablauf der Verjährungsfrist auszusprechende rechtskräftige Strafurteil
ergangen war, ob dies bereits mit der Fällung oder erst mit der Eröffnung
zutraf.

Die bisherige Rechtsprechung erklärt den Zeitpunkt der Fällung für
massgebend. Denn danach könne ein Urteil gemäss dem Grundsatz "lata sententia
iudex desinit iudex esse" nicht mehr abgeändert werden. Da der Richter auf
ein einmal gefälltes Urteil somit im Prinzip nicht mehr zurückkommen könne,
spiele der Zeitpunkt der Mitteilung an die Parteien verjährungsrechtlich
keine Rolle (BGE 121 IV 64 E. 2 S. 65 f.). Es wird ebenfalls darauf
hingewiesen, dass bei der schriftlichen Mitteilung der Zeitpunkt der
Eröffnung in einem gewissen Ausmass vom Verhalten der Parteien abhänge und
nicht mehr der Strafverfolgung zugerechnet werden könne (BGE 101 IV 392 E. 3
S. 394; 92 IV 171 E. b S. 172 mit Verweis auf ältere unpublizierte
Entscheide).
Allerdings ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass der Richter auf ein
gefälltes Urteil, das noch nicht mitgeteilt ist, zurückkommt (vgl. für das
zürcherische Recht Richard Frank/Hans Sträuli/Georg Messmer, Kommentar zur
zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. Zürich 1997, § 190 N. 3 und 8; in
diesem Sinn ferner BGE 122 I 97 E. 3a/bb S. 99; strenger demgegenüber BGE 129
IV 113 E. 1.2 S. 116; Jean-François Poudret, Commentaire de la loi fédérale
d'organisation judiciaire, Band I, Bern 1990, Art. 38 Ziff. 6; vgl. auch
Werner Wichser, Tücken der Unabänderlichkeit eines Gerichtsurteils, SJZ
93/1997 S. 171 ff.). Das Bundesgericht hat bereits erklärt, dass eine
allfällige Abänderungsmöglichkeit der Entscheide vor ihrer Eröffnung die
angeführte Praxis nicht in Frage stellt. Im Fall des Rückkommens auf ein
gefälltes, aber noch nicht mitgeteiltes Urteil endet der Lauf der Verjährung
erst mit dem Datum der nachträglichen Abänderung, d.h. die Modifikation muss
noch vor Eintritt der Verjährung erfolgen (BGE 101 IV 392 E. 3 S. 395).

Die nachgezeichnete Rechtsprechung zur alten gesetzlichen Regelung ist von
der Doktrin, soweit sie überhaupt darauf einging, kommentarlos oder
zustimmend übernommen worden (vgl. etwa Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4.
Aufl. Zürich/Basel/Genf 2004, N. 585 Anm. 86; Hans Schultz, ZBJV 103/1967 S.
430 f.; Elisabeth Trachsel, Die Verjährung gemäss den Art. 70-75bis des
schweizerischen Strafgesetzbuches, Diss. Zürich 1990, S. 178). Da beim Erlass
der neuen Bestimmungen über die Verjährung dieser Fragenkreis nicht
diskutiert wurde und sich in den Gesetzesmaterialien keine Äusserungen dazu
finden, liegt es nahe, die bisherige Praxis auch unter dem neuen Recht
weiterzuführen. Dies drängt sich jedenfalls auf, soweit nicht triftige Gründe
dagegen sprechen.

2.2  Der Beschwerdeführer verweist auf einen neueren Entscheid des
Bundesgerichts, der ein Abrücken von der bisherigen Praxis zu markieren
scheint. Tatsächlich wurde in einer Zivilrechtsstreitigkeit erklärt, das
Verfahren werde nicht bereits mit der Fällung des Urteils durch den
Spruchkörper, sondern erst mit dessen Eröffnung beendigt. Weiter wird
ausgeführt, das Urteil "n'existe légalement qu'une fois qu'il a été
officiellement communiqué aux parties. Tant qu'il ne l'a pas été, il est
inexistant (Nichturteil), il n'est qu'un projet" (BGE 122 I 97 E. 3a/bb S.
99).

Diese Erwägungen, die mit Blick auf ein Urteil erfolgten, das überhaupt nie
eröffnet wurde, können nicht verallgemeinert werden. Der Beschwerdeführer
legt selber zutreffend dar, dass der Zeitpunkt der Urteilswirkungen nicht
generell, sondern nur mit Blick auf den jeweiligen Fragenkreis zu beurteilen
ist. Dabei sind auch praktische Aspekte des Verfahrensablaufs
mitzuberücksichtigen.

2.3  Es ist zwar davon auszugehen, dass Urteile Wirksamkeit nur erlangen
können, wenn sie überhaupt jemals eröffnet werden. Soweit eine Mitteilung an
die Parteien erfolgt, steht aber nichts entgegen, einzelne Urteilswirkungen
auf den Zeitpunkt der Entscheidfällung zurückzubeziehen. Das kann sich
deshalb aufdrängen, weil der Richter von den Verhältnissen im Zeitpunkt der
Fällung des Urteils ausgehen muss und er die Eröffnung - namentlich bei
schriftlicher Mitteilung - nur beschränkt selber steuern kann. Die
Beurteilung, ob eine Straftat verjährt ist, kann der Richter nur bezogen auf
den Zeitpunkt, in dem er seinen Entscheid trifft, vornehmen. Denn bei
schriftlicher Eröffnung weiss er zum Voraus nicht genau, wann dem
Angeschuldigten das Urteil zugestellt wird. Dementsprechend könnte er unter
Umständen gar nicht beurteilen, ob bei der schriftlichen Eröffnung die
Verjährung einer Straftat eingetreten wäre, wenn auf diesen Zeitpunkt
abgestellt werden müsste. Aus diesem Grund stellt die jüngste Rechtsprechung
auch bei der sog. retrospektiven Konkurrenz darauf ab, ob die nachträglich zu
beurteilenden Taten begangen wurden, bevor das Urteil gefällt und nicht bevor
es eröffnet wurde (BGE 129 IV 113 E. 1.2 S. 116).

Aus diesen Erwägungen ist bei der Beurteilung der Frage, wann ein
erstinstanzliches Urteil gemäss Art. 70 Abs. 3 StGB ergangen sei, an die
dargestellte bisherige Praxis anzuknüpfen. Dementsprechend endet der Lauf der
Verjährung bereits mit der Fällung und nicht erst mit der Eröffnung des
erstinstanzlichen Urteils. Allerdings ist zu präzisieren, dass dies nur unter
der Voraussetzung gilt, dass das Urteil überhaupt je eröffnet wird. Ausserdem
wäre von der genannten Regel abzuweichen, wenn zwischen der Fällung und
Eröffnung ein so grosser Zeitraum läge, dass er mit Blick auf die Dauer der
massgeblichen Verjährungsfrist nicht ausser Acht gelassen werden kann. Ein
solcher Ausnahmefall ist vorliegend indessen nicht gegeben, erfolgte doch die
Eröffnung wenige Wochen nach der Fällung des Urteils.

3.
Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich demnach als unbegründet und ist
abzuweisen.

Bei diesem Ausgang sind die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 278 Abs. 1 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich, der Eidgenössischen Zollverwaltung Oberzolldirektion, der
Schweizerischen Bundesanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. September 2004

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: