Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.369/2003
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6S.369/2003 /zga

Urteil vom 12. Januar 2004
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen,
Gerichtsschreiber Weissenberger.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Martin Brauen,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus,
5001 Aarau.

Mangelnde Aufmerksamkeit im Strassenverkehr,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
3. Strafkammer,
vom 13. August 2003.

Sachverhalt:

A.
X. ________ fuhr mit einem Linienbus auf dem rechten Fahrstreifen von einer
Haltestelle weg und auf einen Kreisel zu. Gleichzeitig näherte sich auf dem
linken Fahrstreifen Y.________ mit seinem Sattelschlepper ebenfalls dem
Kreisel. Er fuhr mit der Fahrerkabine leicht vor dem Linienbus in den Kreisel
ein. Dabei schwenkte der Anhänger des Sattelschleppers auf die rechts
verlaufende Busspur aus. Der Busfahrer bremste das Fahrzeug noch deutlich vor
der Wartelinie zum Kreisel zum Stillstand ab, doch streifte der
Sattelschlepper den fast stehenden Bus.

B.
Gestützt auf diesen Sachverhalt wurde X.________ mit Strafbefehl des
Bezirksamtes Baden vom 25. Januar 2002 wegen mangelnder Aufmerksamkeit im
Strassenverkehr zu einer Busse von Fr. 250.-- verurteilt. Y.________ wurde
nicht verzeigt.

X. ________ erhob gegen den Strafbefehl Einsprache. Das Bezirksgericht Baden
verurteilte ihn am 20. Juni 2002 wegen mangelnder Aufmerksamkeit im
Strassenverkehr zu einer Busse von Fr. 250.--.

Eine von X.________ dagegen erhobene Berufung hiess das Obergericht des
Kantons Aargau am 13. August 2003 teilweise gut und setzte die Busse auf Fr.
100.-- herab. Im Übrigen wies das Obergericht die Berufung ab.

C.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 13. August 2003 aufzuheben und
die Sache an die Vorinstanz zu seiner Freisprechung zurückzuweisen.

Das Obergericht des Kantons Aargau verzichtet auf Gegenbemerkungen und
verweist auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil (act. 6).

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde kann nur damit begründet werden, dass das
angefochtene Urteil eidgenössisches Recht verletze. Die Rüge der Verletzung
verfassungsmässiger Rechte ist ausgeschlossen (Art. 269 BStP). Das
Bundesgericht hat seinem Entscheid die tatsächlichen Feststellungen der
kantonalen Behörde zu Grunde zu legen, wobei offensichtlich auf Versehen
beruhende Feststellungen von Amtes wegen berichtigt werden. Ausführungen, die
sich gegen die tatsächlichen Feststellungen des Entscheids richten, das
Vorbringen neuer Tatsachen, neue Einreden, Bestreitungen und Beweismittel,
sowie Erörterungen über die Verletzung kantonalen Rechts sind unzulässig
(Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).

Soweit sich der Beschwerdeführer gegen die tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz zu wenden scheint oder diese ergänzt (vgl. etwa Beschwerde, S. 8
ff.), ist er nicht zu hören.

2.
2.1 Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe das Fehlverhalten
des Unfallbeteiligten im Voraus erkennen und deshalb auf sein Vortrittsrecht
verzichten müssen. Die Streifkollision wäre für ihn vermeidbar gewesen. Es
begründet dies wie folgt: Der Beschwerdeführer und die Auskunftsperson (es
handelt sich bei ihr um den Lenker des Sattelschleppers) seien sich
jedenfalls darüber einig, dass "der Sattelschlepper etwas vor dem Bus den
Kreisel erreicht" habe. Es sei somit nicht zweifelhaft, dass der
Beschwerdeführer den Sattelschlepper bei der Einfahrt in den Kreisel seitlich
vor sich sah. Die Auswertung des Fahrtenschreibers ergebe, dass der
Beschwerdeführer "erst im letzten Moment - also rund 12 m vor der
Kollisionsstelle -" abgebremst habe. Offen könne bleiben, ob der Kreisel mit
dem Sattelschlepper überhaupt habe befahren werden können, ohne auf den
Busstreifen auszuscheren. Mit der Feststellung im Polizeirapport über das von
der Polizei beobachtete Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer werde der
optische Eindruck auf Grund der aktenkundigen Polizeifotografien bekräftigt,
"dass ein solches Überfahren regelmässig stattfindet, möglicherweise auch um
den Verkehrsfluss nicht zu beeinträchtigen". Mit dem Ausschwenken des
Anhängers des Sattelschleppers auf die rechte Fahrspur sei deshalb nach
Auffassung der Mehrheit des Obergerichts "zu rechnen" gewesen. Der
Beschwerdeführer habe folglich unaufmerksam gehandelt, indem er seine
Fahrweise nicht an die absehbare Verkehrsregelverletzung des Lenkers des
Sattelschleppers angepasst habe (angefochtenes Urteil, S. 6).

2.2 Der Beschwerdeführer bringt dagegen zusammengefasst vor, die
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz über den Unfallhergang genügten
für eine Verurteilung nicht. Die Darstellung des Sachverhalts beruhe zudem
weitgehend auf Erfahrungssätzen, die das Bundesgericht im Verfahren der
Nichtigkeitsbeschwerde überprüfen könne. So trage die auf einem angenommenen
abstrakten angeblichen Erfahrungssatz beruhende Feststellung, wonach das
Überfahren der Busspur "absehbar" gewesen sei, allein nichts bei zur
Beurteilung der Frage, welche konkreten Sorgfaltsmassstäbe für einen
Busfahrer gälten, der auf der Busspur annähernd gleichzeitig neben einem
langsam neben ihm vorbeifahrenden Sattelschlepper in Richtung eines Kreisels
fahre. Indem die Vorinstanz ihr Urteil allein damit begründe, verletze sie
die Grundsätze des Vertrauensprinzips nach Art. 26 SVG (Beschwerde, S. 6
ff.).

3.
3.1 Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer gestützt auf Art. 90 Ziff. 1 SVG
i.V.m. Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 3 Abs. 1 VRV verurteilt.

Gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG muss der Führer das Fahrzeug ständig so
beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Nach Art. 3
Abs. 1 Satz 1 VRV muss der Fahrzeugführer seine Aufmerksamkeit der Strasse
und dem Verkehr zuwenden.

Laut Art. 100 Ziff. 1 SVG ist auch die fahrlässige Handlung strafbar, sofern
das SVG nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt. Fahrlässig verletzt ein
Fahrzeuglenker Verkehrsregeln, wenn die Tat darauf zurückzuführen ist, dass
er die vermeidbaren Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger
Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder darauf nicht Rücksicht genommen hat (vgl.
Art. 18 Abs. 3 Satz 1 und Art. 102 StGB, Art 102 Ziff. 1 SVG).

Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet sich
nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen
Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen
(BGE 122 IV 225 E. 2b S. 228). Laut dem aus Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten
Vertrauensgrundsatz darf jeder Strassenbenützer darauf vertrauen, dass sich
die anderen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss verhalten. Ein solches
Vertrauen ist jedoch nicht gerechtfertigt und muss einem Misstrauen weichen,
wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig
verhalten wird oder wenn ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers
auf Grund einer unklaren Verkehrssituation oder anderen Gefahrenquelle nach
der allgemeinen Erfahrung unmittelbar in die Nähe rückt (BGE 125 IV 83 E. 2b
S. 87 f.). Das wird von Art. 26 Abs. 2 SVG dahin gehend umschrieben, dass
besondere Vorsicht geboten ist gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten
Leuten, sowie wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer
nicht richtig verhalten wird.

3.2 Im zu beurteilenden Fall mündeten zwei parallele Fahrstreifen auf einen
Kreisel ein, dessen Fahrbahn in zwei Fahrstreifen (Art. 1 Abs. 5 VRV)
unterteilt war und damit Platz für zwei Fahrzeuge nebeneinander bot. In
solchen Fällen darf nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung der von der
rechten Fahrbahn in den Kreisel einmündende Fahrzeuglenker darauf vertrauen,
dass der Lenker auf seiner Linken gemäss der Einspurung die innere Seite des
Kreisels befahren und ihn somit nicht auf seinem Streifen bzw. seiner Spur
behindern wird (BGE 127 IV 220 E. 3d S. 228).

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass beim Einmünden in den Kreisel
keiner der Unfallbeteiligten gegenüber dem anderen vortrittsberechtigt war.
Sowohl vor als auch im Kreisel selbst durften sie ihren jeweiligen
Fahrstreifen nur verlassen, wenn sie dadurch den übrigen Verkehr nicht
gefährdeten (Art. 44 Abs. 1 SVG). Fraglich ist, ob sich der Beschwerdeführer
auf das Vertrauensprinzip im Sinne der dargestellten Rechtsprechung berufen
kann oder dem konkrete Anzeichen für das Fehlverhalten des Unfallbeteiligten
entgegenstehen.

3.3 Die Vorinstanz geht nicht davon aus, der Beschwerdeführer habe seine
Durchfahrt erzwungen. Sie wirft ihm nur vor, auf Grund ungenügender
Aufmerksamkeit das Fehlverhalten des Fahrers des Sattelschleppers nicht
vorausgesehen und sein Fahrverhalten nicht nach der erkennbaren
Gefahrenquelle ausgerichtet zu haben. Die tatsächlichen Feststellungen im
angefochtenen Urteil genügen allerdings nicht, um beurteilen zu können, ob
der Beschwerdeführer zu spät und falsch reagiert hat.

Die Vorinstanz stellt unter anderem nicht fest, in welcher Distanz zum
Kreisel der vordere Teil des Sattelschleppers am Bus vorbeifuhr, ob der
Beschwerdeführer bereits zu jenem Zeitpunkt mit dem späteren Fehlverhalten
des anderen Fahrers rechnete oder angesichts der Lebenserfahrung hätte
rechnen müssen, und mit welcher Geschwindigkeit der Beschwerdeführer zu
diesem Zeitpunkt fuhr. Sie begnügt sich mit den Hinweisen, dass "der
Sattelschlepper etwas vor dem Bus den Kreisel erreicht" habe, der
Beschwerdeführer rund 12 m vor der Kollision und damit "erst im letzten
Moment" abgebremst habe sowie "ein solches Überfahren" regelmässig stattfinde
und deshalb allgemein damit zu rechnen sei (angefochtenes Urteil, S. 6).

Allein aus dem Umstand, dass an einer bestimmten Stelle angeblich regelmässig
Fahrzeuge nicht vollständig in ihrer Fahrspur bleiben, sondern auf die
parallel dazu verlaufende Spur auszuschwenken pflegen, darf nicht geschlossen
werden, dies sei einer konkreten Person auch bekannt gewesen. Selbst wenn
solche individuellen Kenntnisse hier anzunehmen wären, vermöchte dies für
sich genommen noch keine Umkehr des Vertrauens in ein regelkonformes
Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer zu begründen.

Angesichts der trotz zwei Fahrspuren optisch sehr engen Platzverhältnisse bei
der Einfahrt in den Kreisel (dazu die Fotos in den kantonalen Akten Nr. 9)
könnte allerdings möglicherweise angenommen werden, das Fehlverhalten des
Fahrers des Sattelschleppers wäre für jeden Verkehrsteilnehmer in der Lage
und mit der Erfahrung des Beschwerdeführers als Berufschauffeur in
unmittelbare Nähe gerückt. Die Vorinstanz stellt dazu jedoch nichts fest.
Allein gestützt auf die Fotos des Unfallortes bei den Akten vermag das
Bundesgericht diese Frage nicht abschliessend zu beurteilen.

Wollte man klare Anhaltspunkte für das spätere Ausschwenken des
Sattelschleppers auf die rechte Fahrspur bejahen, müsste zur Begründung einer
Sorgfaltspflichtverletzung zusätzlich feststehen, ab welchem Zeitpunkt der
Beschwerdeführer das drohende Fehlverhalten spätestens hätte voraussehen
müssen, wann er erkannte bzw. gegebenenfalls wann er hätte annehmen müssen,
dass der andere Fahrer nicht an der Wartelinie zum Kreisel anhalten werde,
und ob er im massgebenden Moment die Streifkollision noch hätte verhindern
können. Dabei gilt es unter anderem zu beachten, dass der Fahrer des
Sattelschleppers dafür verantwortlich war, sicherzustellen, den Kreisel ohne
Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer zu befahren, und der
Beschwerdeführer grundsätzlich darauf vertrauen durfte. Sofern es dem Lenker
des Sattelschleppers nicht möglich gewesen sein sollte, vollständig in seinem
Fahrstreifen zu bleiben, hätte er vor dem Kreisel anhalten und den weitgehend
neben ihm fahrenden Bus vorbei lassen müssen. Entgegen der Auffassung der
Vorinstanz lässt sich nur aus dem Umstand, dass zwei grössere Fahrzeuge
leicht versetzt in einen engen Kreisel einfahren, nicht mit grosser
Wahrscheinlichkeit schliessen, einer der beiden Lenker werde aus seinem
Fahrstreifen ausscheren. Die genauen räumlichen Verhältnisse am Unfallort
wären insoweit wesentlich. Sie lassen sich dem angefochtenen Urteil aber
nicht entnehmen.

Mangelnde Aufmerksamkeit könnte dem Beschwerdeführer allenfalls vorgeworfen
werden, wenn er noch hätte halten können, als der Anhänger in seine Fahrspur
ausschwenkte, oder wenn diese Verkehrsregelverletzung nach der allgemeinen
Lebenserfahrung in einem Zeitpunkt als sehr wahrscheinlich voraussehbar war,
als er dem Lastwagenfahrer gefahrenfrei die Vorfahrt hätte lassen können.
Ohne entsprechende Feststellungen kann auch die Bedeutung der Tatsache, dass
der Beschwerdeführer aus einer Distanz von 12 m zum Kollisionspunkt zu
bremsen begann, nicht abgeschätzt werden.

4.
Die Beschwerde ist deshalb in Anwendung von Art. 277 BStP gutzuheissen,
soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten
zu erheben und ist dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung aus der
Bundesgerichtskasse auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gemäss Art. 277 BStP
gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Aargau, 3. Strafkammer, vom 13. August 2003 aufgehoben und die Sache
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtsgebühren erhoben.

3.
Dem Beschwerdeführer wird für das Verfahren vor Bundesgericht eine
Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 12. Januar 2004

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: