Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.289/2003
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6S.289/2003 /kra

Urteil vom 7. Oktober 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly,
Gerichtsschreiber Garré.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Clavadetscher,
Niederlenzerstrasse 27, Postfach, 5600 Lenzburg 2,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus,
5001 Aarau.

Strafzumessung (Art. 63 StGB), bedingter Strafvollzug (Art. 41 StGB),
Widerruf,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
1. Strafkammer,
vom 23. Juni 2003.

Sachverhalt:

A.
X. ________ versuchte, von Ende September bis am 27. November 1993 für die
Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erpresserisch "Spendengelder" einzutreiben.
Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte ihn dafür am 26. September
1996 wegen versuchter Erpressung zu einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten,
bedingt mit einer Probezeit von 2 Jahren, und zu einer Busse von Fr. 300.--.

B.
Anfangs November 1997 erschien X.________ in Begleitung von Z.________ am
Wohnort von A.________ in Rohr und verlangte einen Spendenbeitrag in Höhe von
Fr. 10'000.-- für die PKK. A.________ fühlte sich bedroht und bekam Angst vor
Repressalien. Anfangs September 1998 erschienen X.________ und ein
unbekannter Mann in der neuen Wohnung von A.________ in Aarau und verlangten
drohend einen Beitrag in der Höhe von Fr. 30.-- bis 50.-- pro Monat für die
PKK. Das Opfer wurde nach beiden Vorfällen auch von einer Gruppe von
PKK-Sympathisanten, der X.________ zugeordnet wird, bedroht. Aus Angst
bezahlte A.________ einen Betrag von ungefähr Fr. 5'000.--.
Am 30. April 2001 missachtete X.________ mit seinem Personenwagen das Signal
"Kein Vortritt" und kollidierte mit einem von rechts kommenden Fahrzeug.

C.
Am 13. November 2002 verurteilte das Bezirksgericht Aarau X.________ wegen
Erpressung, teilw. versuchter Erpressung und Missachtung des Signals "Kein
Vortritt" zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 6 Monaten und einer Busse
von Fr. 300.--. Er wurde zudem für 5 Jahre unbedingt aus dem Gebiete der
Schweiz verwiesen. Der mit Urteil des Obergerichts vom 26. September 1996
gewährte bedingte Strafvollzug für eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten wurde
widerrufen .

D.
In teilweiser Gutheissung der Berufung des Verurteilten sprach das
Obergericht des Kantons Aargau X.________ mit Urteil vom 23. Juni 2003 vom
Vorwurf der versuchten Erpressung frei. Es verurteilte ihn wegen Erpressung
und Missachtung des Signals "Kein Vortritt" zu einer unbedingten
Gefängnisstrafe von 4 Monaten und einer Busse von Fr. 300.--. Es verzichtete
auf eine Landesverweisung und wies die Berufung im Übrigen ab.

E.
X.________ führt Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof  und beantragt,
das Urteil der Vorinstanz sei insofern (teilweise) aufzuheben, als er zu
einer Gefängnisstrafe von 4 Monaten verurteilt wurde. Es sei zudem insoweit
aufzuheben, als die Berufung gegen die Verweigerung des bedingten
Strafvollzuges und gegen den Widerruf der bedingt vollziehbaren Strafe vom
26. September 1996 abgewiesen wurde. Er stellt schliesslich ein Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege.

F.
Das Obergericht verzichtet, unter Hinweis auf die Ausführungen im
angefochtenen Urteil, auf Gegenbemerkungen. Die Staatsanwaltschaft verzichtet
auf Gegenbemerkungen und stellt den Antrag, die Nichtigkeitsbeschwerde sei
abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe Art. 156 Ziff. 1, Art. 63
und eventuell Art. 68 StGB verletzt, indem sie beweismässig feststehende
Umstände nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt und andere Umstände in
fehlerhafter Ermessensausübung falsch gewichtet habe (Beschwerde S. 5). Das
Wegfallen der Verurteilung wegen versuchter Erpressung hätte zu einer
grösseren Strafreduktion führen sollen. Die Überschreitung der
Widerrufsgrenze von 3 Monaten sei ungenügend begründet. Zu Unrecht sei die
ANAG-Vorstrafe von 7 Tagen Gefängnis  aus dem Jahre 1989 straferhöhend, die
lange Dauer des straffreien Verhaltens hingegen nicht strafmindernd
berücksichtigt worden. Auch seine Strafempfindlichkeit sei nicht korrekt
beurteilt worden (Beschwerde S. 5-8)
1.2 Gemäss Art. 63 StGB misst der Richter die Strafe nach dem Verschulden des
Täters zu; er berücksichtigt die Beweggründe, das Vorleben und die
persönlichen Verhältnisse des Schuldigen. Das Bundesgericht hat die bei der
Strafzumessung geltenden Grundsätze letztmals in BGE 129 IV 6 E. 6 erläutert.
Es kann darauf verwiesen werden.

1.3 Die Vorinstanz erwägt, das Ausmass des vom Beschwerdeführer angestrebten
finanziellen Erfolges sei beträchtlich und die schädigende Wirkung der
Drohungen für das Opfer gross. Straferhöhend seien die kollektive Begehung,
die zwei Vorstrafen und - wenn auch nur in geringem Mass - die Widerhandlung
gegen das SVG zu berücksichtigen, strafmindernd die allgemeine Lebensführung
und das Geständnis bezüglich der SVG-Widerhandlung. Neutral zu bewerten sei
das hartnäckige Bestreiten im Strafverfahren betreffend die Erpressung.
Dasselbe gelte für die Strafempfindlichkeit. Das Verschulden wiege insgesamt
nicht leicht (angefochtenes Urteil S. 26 f.).
1.4 Die Vorinstanz hat sich mit den Tat- und Täterkomponenten rechtsgenügend
auseinandergesetzt. Sowohl die straferhöhenden als auch die strafmindernden
Momente wurden korrekt bewertet und gewichtet. Der Beschwerdeführer ist
einschlägig vorbestraft, er war während des ganzen die Erpressung
betreffenden Strafverfahrens unkooperativ und er handelte als
Überzeugungstäter.  Nach der Praxis des Bundesgerichts kommen die
Strafempfindlichkeit und Strafempfänglichkeit als (strafmindernde)
Zumessungsfaktoren nur in Betracht, wenn Abweichungen vom Grundsatz einer
einheitlichen Leidempfindlichkeit geboten sind, wie etwa bei
Gehirnverletzten, Schwerkranken, unter Haftpsychose Leidenden oder
Taubstummen (Urteil 6S.703/1995 vom 26.3.1996, zit. in Hans Wiprächtiger,
Basler Kommentar, N. 95 zu Art. 63, mit Hinweisen). Derartige Gründe liegen
hier nicht vor. Die Vorinstanz hat die Strafzumessungskriterien gemäss Art.
63 StGB korrekt angewendet.

1.5 Der Beschwerdeführer legt nicht dar, weshalb auch Art. 68 und Art. 156
Ziff. 1 StGB verletzt sein sollten. Insoweit kann mangels Begründung nicht
auf die Beschwerde eingetreten werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die günstige
Prognose für den bedingten Strafvollzug zu Unrecht verneint. Seit dem Vorfall
vom November 1997 habe er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen, und er
habe seit über zwei Jahren keine "Spenden" mehr gesammelt. Die fehlende
Arbeitsfähigkeit sei nicht negativ zu werten. Die Vorinstanz habe zudem die
Warnwirkung des Widerrufs des bedingten Strafvollzuges  verkannt (Beschwerde
S. 9 f.).
2.2 Nach Art. 41 Ziff. 1 StGB kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe von
nicht mehr als 18 Monaten aufgeschoben werden, wenn Vorleben und Charakter
des Verurteilten erwarten lassen, er werde dadurch von weiteren Delikten
abgehalten. Der Richter hat über das zukünftige Verhalten des Täters eine
Prognose anzustellen, wobei ihm ein erhebliches Ermessen zusteht. Das
Bundesgericht hebt den Entscheid der Vorinstanz nur auf, wenn sie nicht von
rechtlich massgebenden Gesichtspunkten ausgegangen ist oder diese in
Überschreitung oder Missbrauch ihres Ermessens unrichtig gewichtet hat (BGE
128 IV 193 E. 3a; 118 IV 97 E. 2a).

2.3 Die Vorinstanz hebt die Vorstrafen des Beschwerdeführers hervor sowie
insbesondere die Tatsache, dass er wiederum auf dem gleichen Gebiet und aus
den gleichen Beweggründen gehandelt hat. Es fehle die Bewährung am
Arbeitsplatz, und selbst die U-Haft von 14 Tagen  habe nicht abschreckend
gewirkt. Es sei daher davon auszugehen, dass der Widerruf des bedingten
Strafvollzuges auf ihn keine Warnwirkung haben werde.

2.4 Die Ausführungen der Vorinstanz beruhen auf einer Gesamtwürdigung aller
für eine rechtsgenügende Prognose wesentlichen Umstände. Der einschlägig
vorbestrafte Beschwerdeführer delinquierte aus Überzeugung und liess sich
weder von der U-Haft noch von den bedingten Verurteilungen beeindrucken. Die
einschlägige Vorstrafe ist schon an sich als erheblich ungünstiges Element zu
gewichten (Urteil 6S. 101/2003 vom 8.5.2003 und 6S.815/1997 vom 24.3.1999).
Dies gilt hier umso mehr, als der Beschwerdeführer aus dem selben Motiv die
gleiche Art von Delinquenz in der Probezeit fortgesetzt hat. Zusammenfassend
hat die Vorinstanz Vorleben und Charakter des Beschwerdeführers eingehend
gewürdigt und sein gesamtes Persönlichkeitsbild in Betracht gezogen. Es liegt
keine Bundesrechtsverletzung vor.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer bringt schliesslich vor, der mit Urteil des
Obergerichts vom 26. September 1996 gewährte bedingte Strafvollzug sei zu
Unrecht widerrufen worden. Es liege ein leichter Fall vor, und seit der Tat
seien fast 10 Jahre vergangen (Beschwerde S. 10).

3.2 Die Vorinstanz führt zur Begründung ihres Entscheids aus, der
Beschwerdeführer habe während der Probezeit delinquiert und die
Voraussetzungen eines leichten Falles seien nicht erfüllt (angefochtenes
Urteil S. 30).

3.3 Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder
Vergehen, handelt er trotz förmlicher Mahnung des Richters einer ihm
erteilten Weisung zuwider, entzieht er sich beharrlich der Schutzaufsicht
oder täuscht er in anderer Weise das auf ihn gesetzte Vertrauen, so lässt der
Richter die Strafe vollziehen (Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB). Wenn begründete
Aussicht auf Bewährung besteht, kann der Richter in leichten Fällen
stattdessen, je nach den Umständen, den Verurteilten verwarnen, zusätzliche
Massnahmen nach Art. 41 Ziff. 2 StGB anordnen und die im Urteil bestimmte
Probezeit um höchstens die Hälfte verlängern (Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB).
Nach der Rechtsprechung ist ein leichter Fall im Sinne von Art. 41 Ziff. 3
Abs. 2 StGB in der Regel bei Freiheitsstrafen von bis zu 3 Monaten
anzunehmen. Ausnahmen sind möglich bei besonderen (objektiven oder
subjektiven) Umständen, die nicht bereits für den Schuldspruch oder die
Bemessung der Strafe bestimmend waren. Für die Annahme eines leichten Falles
trotz einer Strafe von mehr als 3 Monaten kann beispielsweise sprechen, dass
der nachträgliche Vollzug der aufgeschobenen Strafe für den Täter eine
unverhältnismässige Härte bedeuten würde (BGE 117 IV 97 E. 3c, S. 102). Die
Annahme eines leichten Falles kommt jedoch nur in Betracht, wenn die
Freiheitsstrafe in der Nähe von 3 Monaten liegt (BGE 122 IV 156 E. 3c). Das
Bundesgericht hat bei einer 5-monatigen Gefängnisstrafe die Hypothese eines
leichten Falles noch in Betracht gezogen (Urteil 6S.340/1999 vom 11.10.1999,
E. 2 und 6S.830/1997 vom 2.3.1998, E. 1c, zit. in Roland M. Schneider, Basler
Kommentar, N. 235 zu Art. 41).

3.4 Die dem Beschwerdeführer auferlegte Strafe beträgt 4 Monate. Damit könnte
ein leichter Fall noch in Betracht gezogen werden. Die Vorinstanz begründet
den Widerruf des bedingten Vollzugs nur knapp und ohne Berücksichtigung der
neusten Lehre und Rechtsprechung. Sie unterlässt es ferner, die besonderen
Umstände des Falles in Betracht zu ziehen, insbesondere die Tatsache, dass
die erste Tat vor fast zehn Jahren begangen wurde und dass der
Beschwerdeführer in der Zwischenzeit invalid geworden ist. Da die Vorinstanz
insoweit keine tatsächlichen Feststellungen trifft, ist es dem Bundesgericht
nicht möglich zu prüfen, ob die Verneinung eines leichten Falles mit dem
Bundesrecht in Einklang steht (Art. 277 BStP).

3.5 Das angefochtene Urteil ist deshalb in diesem Punkt aufzuheben und die
Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung im Sinne der
obigen Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

4.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und im Übrigen abgewiesen, soweit
darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der
Beschwerdeführer grundsätzlich eine reduzierte Gerichtsgebühr zu bezahlen
(Art. 278 Abs. 1 BStP). In teilweiser Gutheissung des Gesuches um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege wird auf die Erhebung von Kosten verzichtet.
Der Anwalt des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse für das
Beschwerdeverfahren mit einem reduzierten Betrag von Fr. 1000.-- entschädigt.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird in Anwendung von Art. 277 BStP teilweise
gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 23. Juni
2003 aufgehoben, soweit es den Widerruf der Vorstrafe betrifft, und die Sache
an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen,
soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird teilweise gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Der Anwalt des Beschwerdeführers wird mit Fr. 1000.-- entschädigt.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 7. Oktober 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: