Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.275/2003
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6S.275/2003
6S.276/2003 /kra

Urteil vom 21. November 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Garré.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecherin Eva Saluz, Spitalgasse 14,
3011 Bern,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern.

6S.275/2003
Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt (Art. 100bis StGB)

6S.276/2003
Widerruf des bedingten Strafvollzugs (Art. 41 Ziff. 3 StGB)

Nichtigkeitsbeschwerden gegen die Urteile des Obergerichts des Kantons Bern,
1. Strafkammer, vom 3. April 2003.

Sachverhalt:

A.
X. ________ (geb. 9. Oktober 1979) beging zwischen Juni 2000 und Juli 2002
eine grosse Anzahl strafbarer Handlungen gegen das Vermögen, die Freiheit und
das Strassenverkehrsrecht. Diese Taten fallen in die Probezeit zweier
bedingter Vorstrafen von je 60 Tagen Gefängnis, die der Gerichtspräsident 15
des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen am 1. Oktober 1999 und 31. März 2000
wegen ähnlicher Straftatbestände ausgesprochen hatte.

B.
Der Gerichtspräsident 3 des Gerichtskreises VII Konolfingen sprach X.________
am 24. Oktober 2002 schuldig des mehrfachen Diebstahls, der Sachbeschädigung
und des Hausfriedensbruchs, der mehrfachen Entwendung eines Motorfahrzeuges
zum Gebrauch, des Missbrauchs von Kontrollschildern sowie des Fahrens ohne
Fahrzeugausweis und ohne Haftpflichtversicherung, des Fahrens in
angetrunkenem Zustand sowie der Verweigerung der Blutprobe, des Fahrens mit
Lernfahrausweis ohne Begleitperson, des mehrfachen Fahrens trotz entzogenen
Lernfahrausweises, des Missachtens eines Fahrverbots sowie des mehrfachen
Nichttragens der Sicherheitsgurte und wies ihn deswegen in eine
Arbeitserziehungsanstalt ein.
Mit Urteil vom gleichen Tag widerrief er den bedingten Strafvollzug der
beiden Vorstrafen, schob aber den Vollzug zugunsten der Massnahme auf.

C.
Auf Appellation des Betroffenen hin erklärte das Obergericht des Kantons Bern
am 3. April 2003 X.________ des mehrfachen Diebstahls und der Entwendung
eines Motorfahrzeuges zum Gebrauch schuldig. Mit Bezug auf die übrigen
Schuldsprüche stellte es fest, dass das erstinstanzliche Urteil in
Rechtskraft erwachsen ist. Es bestätigte die Einweisung in eine
Arbeitserziehungsanstalt wie auch mit separatem Urteil den
Widerrufsentscheid.

D.
X.________ führt zwei Nichtigkeitsbeschwerden und beantragt, die
vorinstanzlichen Urteile bezüglich die Einweisung in eine
Arbeitserziehungsanstalt und den Widerruf seien aufzuheben. Er stellt zudem
in beiden Beschwerden Gesuche um aufschiebende Wirkung und unentgeltliche
Rechtspflege.

E.
Die Vorinstanz hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Die Staatsanwaltschaft
schliesst auf Abweisung der Beschwerden und Gewährung der aufschiebenden
Wirkung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Nichtigkeitsbeschwerde 6S.275/2003

1.
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 100bis StGB sei unkorrekt
angewandt worden. Er arbeite, erwerbe seinen Unterhalt, pflege die
Vater-Tochter Beziehung, lebe in einer festen Beziehung und sei zudem zu
einer solchen Massnahme nicht motiviert. Die Einweisungsvoraussetzungen seien
daher nicht erfüllt und die Massnahme erweise sich als unverhältnismässig
(Beschwerde S. 6 f.).
1.2 Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer habe innerhalb von zwei
Jahren eine grosse Anzahl von nicht leicht zu nehmenden Delikten verübt
(angefochtenes Urteil S. 14). In einem Gutachten des integrierten
forensisch-psychiatrischen Dienstes der Universität Bern (IFPD) vom 28. Mai
2002 habe man festgehalten, dass er auffällige Persönlichkeitszüge aufweise,
welche im Sinne einer schweren neurotischen Fehlentwicklung aufgrund
negativer Kindheitserlebnisse mit körperlichen Misshandlungen, emotionaler
Vernachlässigung und starker Verunsicherung zu werten seien. Die Prognose sei
ungünstig, wenn nicht nochmals ein ernsthafter Versuch unternommen werde, ihm
in einem gut strukturierten Rahmen Bedingungen zu schaffen, in denen er
seinerseits die Möglichkeit bekomme, eine berufliche Ausbildung zu erlangen
sowie einen Einstieg in das Berufs- und Arbeitsleben zu finden. Weiter sei
eine therapeutische Begleitung zur Unterstützung des angestrebten
Lernprozesses, zur Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie zur
Entwicklung von Problemlösungsstrategien nötig (angefochtenes Urteil S. 16
f.). Gestützt auf diese gutachterlichen Befunde kommt die Vorinstanz zum
Schluss, dass der Beschwerdeführer eine erhebliche charakterliche
Entwicklungsstörung i.S.v. Art. 100bis StGB aufweise, die im Zusammenhang mit
den Straftaten stehe. Zwar sei seit Herbst 2002 eine gewisse Stabilisierung
zu beobachten. Ihm fehle aber immer noch eine berufliche Ausbildung, die ihm
eine solide Basis für ein Leben ohne ständiges Delinquieren geben könnte
(angefochtenes Urteil S. 17). Dabei sei er einer Erziehung noch zugänglich
und seine Entwicklungsdefizite könnten noch korrigiert werden (angefochtenes
Urteil S. 18). Stelle man ihn vor die Alternative einer allfälligen
unbedingten Gefängnisstrafe in der Grössenordnung von einem Jahr werde er die
nötige Motivation aufbringen (angefochtenes Urteil S. 19).

1.3 Für junge Erwachsene (achtzehn- bis fünfundzwanzigjährige Täter) gilt das
ordentliche Sanktionensystem des Erwachsenenstrafrechts, es sei denn, sie
erfüllen die Voraussetzungen für eine Einweisung in eine
Arbeitserziehungsanstalt (Art. 100 Abs. 1 StGB). Voraussetzungen und
Zielsetzung (Art. 100bis Ziff. 1 und 3 StGB) lassen die Einweisung als eine
Massnahme erscheinen, mit der eine erheblich gestörte oder gefährdete
Entwicklung mit erzieherischen Mitteln noch behoben werden soll (BGE 125 IV
237 E. 6b). Angestrebt wird eine zweckgerichtete und individualisierte
sozialpädagogische Betreuung, die der charakterlichen und sozialen Festigung
der verurteilten jungen Erwachsenen dienen soll und damit künftigen
Straftaten vorbeugen will (BGE 123 IV 113 E. 4c S. 122; Urteil 1P. 334/2003
vom 17. Juli 2003, E. 8.1, je mit Hinweisen). Der Richter muss diese
Massnahme aufgrund eingehender Abklärungen gebührend begründen (BGE 102 IV
166 E. 3b S. 171). Wesentliche Beurteilungskriterien bilden Fehlentwicklung,
Erziehbarkeit, Delinquenzverhütung und Ungefährlichkeit (BGE 125 IV 237 E.
6b). Dabei ist ein Mindestmass an Kooperationsbereitschaft erforderlich (BGE
123 IV 113 E. 4c), und der Grundsatz der Verhältnismässigkeit muss beachtet
werden (Hansueli Gürber/ Christoph Hug, Basler Kommentar, N. 2 zu Art. 100bis
StGB; Stefan Trechsel, Kurzkommentar, N. 9 zu Art. 100bis StGB; Peter Noll,
Die Arbeitserziehung, in ZStrR 89/1973 S. 153).

1.4 Der Vorinstanz ist zuzustimmen, dass die Voraussetzungen einer
Arbeitserziehungsmassnahme erfüllt sind. Der mehrmals vorbestrafte
Beschwerdeführer weist ein grosses Ausbildungs- und Entwicklungsdefizit auf
und ist höchst rückfallgefährdet. Bei der Arbeitserziehung geniesst die
berufliche Ausbildung einen hohen Stellenwert (BGE 123 IV 113 E. 4c/aa S.
123). Der Beschwerdeführer wird in einem solchen gut strukturierten Rahmen
die therapeutische Begleitung finden, die er zur Unterstützung des
Lernprozesses und zur Entwicklung neuer Problemlösungsstrategien braucht.
Entgegen der Meinung der Verteidigung (Beschwerde S. 8) wäre eine ambulante
Psychotherapie keine adäquate Alternative, zumal die Erfahrung gezeigt hat,
dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage ist, eine solche Massnahme ernst
zu nehmen. Alle bisherigen rechtskräftigen Weisungen hat er trotz weiter
bestehendem Behandlungsbedarf missachtet (angefochtenes Urteil S. 18). Gemäss
den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 277bis
BStP) hat der Beschwerdeführer anlässlich der Fortsetzungsverhandlung
erklärt, er möchte eigentlich nicht ins Gefängnis gehen (angefochtenes Urteil
S. 18). Ein Mindestmass an Kooperationsbereitschaft wurde daher von der
Vorinstanz zu Recht bejaht. Dem Beschwerdeführer wird an Stelle der
eingeschlagenen kriminellen Laufbahn eine positive Entwicklungsperspektive
aufgezeigt, indem ihm eine Berufsbildungsmöglichkeit mit schrittweiser
Öffnung zu vermehrter Selbständigkeit angeboten wird. Was der
Beschwerdeführer hingegen mit einer Gefängnisstrafe zu gewinnen hätte, ist
nicht ersichtlich. Die Vorinstanz führt überzeugend aus, dass die allfällige
Gefängnisstrafe nicht mehr bedingt auszusprechen wäre und dass sie insgesamt
im Bereich der Mindestdauer einer Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt
liegen würde (angefochtenes Urteil S. 19). Auch das Erfordernis der
Verhältnismässigkeit ist daher auf jeden Fall gegeben.

1.5 Zusammenfassend ist der Beschwerdeführer aufgrund seiner
Persönlichkeitsentwicklung sowohl massnahmebedürftig als auch massnahmefähig.
Eine Verletzung von Art. 100bis StGB liegt nicht vor. Die
Nichtigkeitsbeschwerde ist daher abzuweisen.

Nichtigkeitsbeschwerde 6S.276/2003

2.
Der Beschwerdeführer geht in seiner Begründung davon aus, die Vorinstanz habe
in Bezug auf die beiden Vorstrafen die Einweisung in eine
Arbeitserziehungsanstalt angeordnet. Das trifft nicht zu. Die Vorinstanz hat
den bedingten Strafvollzug i.S.v. Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB widerrufen und
diesen dann in Anwendung von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 4 StGB zugunsten der
Einweisung aufgeschoben (angefochtenes Urteil S. 4). Dieses Vorgehen ist
bundesrechtskonform. Die Beschwerde ist abzuweisen.

Kosten

3.
Bei diesem Ausgang der Verfahren wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig
(Art. 278 Abs. 1 BStP). Da seine Rechtsbegehren von Anfang an aussichtslos
waren, sind die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen. Der
finanziellen Situation des Beschwerdeführers wird bei der Festsetzung der
Gerichtskosten angemessen Rechnung getragen.

4.
Mit dem Entscheid in der Sache werden die Gesuche um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerden werden abgewiesen.

2.
Die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege werden abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer
auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Generalprokurator des Kantons
Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 21. November 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: