Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.224/2003
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6S.224/2003 /bri

Urteil vom 3. Januar 2004
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Ersatzrichterin Romy,
Gerichtsschreiber Monn.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Eric Stern,

gegen

Statthalteramt des Bezirkes Horgen, Seestrasse 124, 8810 Horgen.

Widerhandlung gegen das SVG,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons
Zürich, III. Strafkammer, vom 7. Mai 2003.

Sachverhalt:

A.
Am 9. Februar 2001, um 08.20 Uhr, kam es auf der Verzweigung Alte
Landstrasse/Dorfstrasse in Kilchberg zu einer Kollision zwischen dem von
links kommenden Lieferwagen von A._________ und dem Personenwagen von
X._________. Diese wollte nach links fahren und stellte deshalb den Blinker
nach links. Dabei sah sie den vortrittsbelasteten Lieferwagen links stehen.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass von rechts keine
vortrittsberechtigten Fahrzeuge mehr herannahten, fuhr sie los, ohne zu
prüfen, ob sich die Situation in Bezug auf die vortrittsbelasteten Fahrzeuge
in der Zwischenzeit verändert habe. Deshalb übersah sie, dass der Lieferwagen
von  A.________ mittlerweile beinahe vollständig an ihrem Auto vorbeigefahren
war. Es kam zu einer Kollision mit der hinteren rechten Ecke des
Lieferwagens.

A. _________ wurde am 1. März 2001 wegen Missachtung des Vortrittsrechts mit
Fr. 300.-- gebüsst. Die Verfügung ist rechtskräftig.

B.
Der Einzelrichter in Strafsachen am Bezirksgericht Horgen sprach X._________
am 11. Januar 2002 der Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 31
Abs. 1 SVG und Art. 3 Abs. 1 VRV in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 1 SVG
schuldig und büsste sie mit Fr. 100.--.

Eine dagegen gerichtete kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde durch das
Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 7. Mai 2003 abgewiesen.

C.
X._________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der
Beschluss des Obergerichts vom 7. Mai 2003 sei aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz wirft der Beschwerdeführerin vor, sie sei beim Abbiegen ihren
Vorsichtspflichten nicht gehörig nachgekommen. Obwohl sie kurz zuvor zu ihrer
Linken den wartenden Lieferwagen wahrgenommen hatte, und nachdem sie die ihr
gegenüber vortrittsberechtigten Fahrzeuge hatte vorbeifahren lassen, habe sie
beim Losfahren nicht mit einem erneuten Routineblick nach links überprüft, ob
sich die Verkehrssituation in Bezug auf die ihr gegenüber vortrittsbelasteten
Fahrzeuge in der Zwischenzeit verändert habe. Mit einem solchen Kontrollblick
hätte sie die bereits erfolgte Vortrittsverweigerung durch den Lieferwagen
erkennen können (angefochtener Beschluss S. 5/6).

Die Beschwerdeführerin verweist demgegenüber auf den aus der Grundregel von
Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz, wonach jeder
Strassenbenützer darauf vertrauen darf, dass sich die anderen
Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss verhalten. Nach ihrer Auffassung habe sie
sich darauf verlassen dürfen, dass der vortrittsbelastete Lenker des
Lieferwagens das ihr zustehende Vortrittsrecht respektieren werde, zumal er
ja bei der Kreuzung angehalten und damit zu erkennen gegeben habe, dass er
der Beschwerdeführerin das Vortrittsrecht gewähren werde. Sie habe nicht
damit rechnen müssen, dass der von links kommende Lieferwagenlenker
unvermittelt und mit übersetzter Geschwindigkeit in die Kreuzung hineinfahren
und damit die Kollision herbeiführen werde (Beschwerde S. 6 - 8).

2.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung braucht der Vortrittsberechtigte
an Strassenkreuzungen nicht zum vornherein mit der Missachtung seines
Vortrittsrechts zu rechnen. Dieses Prinzip gilt jedoch nicht absolut. Nach
Art. 26 Abs. 2 SVG ist jeder Strassenbenützer, also auch der
Vortrittsberechtigte, ausdrücklich zu besonderer Vorsicht verpflichtet, wenn
Anzeichen dafür bestehen, dass ein anderer sich nicht richtig verhalten wird.
Lässt er in einem solchen Fall die nach den Umständen gebotene Vorsicht
ausser acht, so handelt auch der Vortrittsberechtigte pflichtwidrig und kann
sich infolgedessen nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, um sein
Verhalten zu rechtfertigen (BGE 92 IV 138 E. 1). Anzeichen für unrichtiges
Verhalten der anderen Strassenbenützer können sich unter anderem aus der
Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage ergeben, die nach
der allgemeinen Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar
in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten
Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts ihrer besonderen
Gefahrenträchtigkeit ein risikoarmes Verhalten gefordert (BGE 125 IV 83 E.
2b).

3.
Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz war die
Verkehrssituation unübersichtlich, unklar und schwierig, zumal die
Beschwerdeführerin als Ortskundige wusste, dass die wartepflichtigen
Fahrzeuge zu ihrer Linken solange zufahren konnten, bis sie ihrerseits den
ihr gegenüber vortrittsberechtigten Fahrzeugen die Vorfahrt gewährt hatte
(angefochtener Beschluss S. 9/10). Bei dieser Sachlage hätte die
Beschwerdeführerin in Betracht ziehen müssen, dass der Lenker des
Lieferwagens, den sie zuvor links stehen gesehen hatte, ihr Anhalten bei der
Kreuzung dahin interpretieren könnte, dass sie zunächst auf ihr
Vortrittsrecht verzichte. Sie durfte sich nicht ohne Weiteres darauf
verlassen, dass der Lieferwagen einfach bis zu ihrer Wegfahrt stehen bleiben
werde. Genau eine Situation wie die vorliegend zu beurteilende hätte eine
besonders hohe Vorsicht erfordert.

Die Behauptung der Beschwerdeführerin, der Lieferwagen sei mit übersetzter
Geschwindigkeit gefahren, geht an der Sache vorbei; die Frage, ob sie ihre
Vorsichtspflichten erfüllt hat, ist unabhängig von der Geschwindigkeit des
anderen Fahrzeugs zu beurteilen. Auch ihre Behauptung, es seien keine
Fahrzeuge mehr von rechts gekommen, als sie in die Kreuzung hineinfuhr, ist
unerheblich; entscheidend ist nur, dass sie nach den Feststellungen der
Vorinstanz zunächst an der Kreuzung angehalten hatte, um von rechts kommende
Fahrzeuge vorbeifahren zu lassen; die Pflicht der Beschwerdeführerin, die
Verkehrslage zu ihrer Linken abzuklären, hängt nicht davon ab, ob weitere
Fahrzeuge von ihrer rechten Seite in die Kreuzung gefahren sind oder nicht.
Und schliesslich hat die Vorinstanz nicht übersehen, dass die
Beschwerdeführerin nach links eine uneingeschränkte Sicht hatte
(angefochtener Beschluss S. 6); dies ändert jedoch nichts daran, dass die
Situation gesamthaft gesehen, wie oben schon gesagt, unüber-sichtlich, unklar
und schwierig war; der von der Beschwerdeführerin erwähnte Umstand macht nur
deutlich, dass es ihr ohne Weiteres möglich gewesen wäre, die Situation durch
einen kurzen Kontrollblick nach links abzuklären.

Der angefochtene Schuldspruch ist bundesrechtlich nicht zu bean-standen und
die Beschwerde deshalb abzuweisen.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die
bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 278 Abs. 1 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Statthalteramt des Bezirkes
Horgen und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 3. Januar 2004

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: