Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.205/2003
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6S.205/2003 /kra

Urteil vom 23. September 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiber Monn.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Markus Schultz,
Neugasse 48, 9000 St. Gallen,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8500 Frauenfeld.

Einstellungsverfügung (Verdacht der sexuellen Nötigung),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons
Thurgau vom
11./20. März 2003.

Sachverhalt:

A.
Am 16. November 1999 reichte X.________ (geboren am 16. Februar 1974) gegen
Y.________ Strafanzeige ein wegen Unzucht mit Kindern, eventuell sexuellen
Handlungen mit Kindern und Unzucht mit unmündigen Pflegebefohlenen, eventuell
sexuellen Handlungen mit Abhängigen. Er warf Y.________ vor, dieser habe ihn
als Lehrmeister während einer Berufsausbildung zum Naturheiler von Dezember
1989 bis Mai 1994 mehrfach sexuell missbraucht. Die Vorfälle hätten begonnen,
als er noch nicht 16 Jahre alt gewesen sei, und erst mit 19 Jahren habe er es
geschafft, sich von Y.________ zu lösen. Am 29. November 1999 reichte
X.________ eine zweite Strafanzeige gegen Y.________ ein, worin der
Sachverhalt wiederholt wurde und neu strafbare Handlungen gegen die sexuelle
Integrität, eventuell strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit geltend
gemacht wurden.

B.
Mit Verfügung vom 18. April 2002 stellte das Untersuchungsrichteramt des
Kantons Thurgau die Strafuntersuchung ein. Eine dagegen gerichtete Beschwerde
wurde durch die Anklagekammer des Kantons Thurgau am 13. August 2002
abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Die I.
öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hiess am 7. Januar 2003
eine staatsrechtliche Beschwerde gut und hob den Beschluss der Anklagekammer
vom 13. August 2002 auf (1P.511/2002).

Die Anklagekammer des Kantons Thurgau wies mit Entscheid vom 11./20. März
2003 die Beschwerde erneut ab, soweit sie darauf eintrat.

C.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der
Entscheid der Anklagekammer vom 11./20. März 2003 sei aufzuheben und die
Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es sei ihm
die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Die Vorinstanz beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei. Weitere Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gemäss Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP ist das Opfer, das sich bereits vorher am
Verfahren beteiligt hat, zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
legitimiert, soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf
deren Beurteilung auswirken kann. Opfer ist jede Person, die durch eine
Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität
beeinträchtigt wurde (Art. 2 Abs. 1 OHG). Wenn sich die
Nichtigkeitsbeschwerde gegen einen letztinstanzlichen Einstellungsbeschluss
richtet, kann in der Regel nicht erwartet werden, dass das Opfer seine
Zivilforderung im kantonalen Verfahren bereits adhäsionsweise geltend gemacht
hat. Wenn das Opfer noch keine Zivilforderungen geltend gemacht hat, muss es
jedoch mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde darlegen, welche
Zivilansprüche es geltend zu machen gedenkt, weshalb sich der angefochtene
Entscheid auf diese auswirkt und warum es sie im kantonalen Verfahren nicht
vorgebracht hat. Wenn angesichts der begangenen Straftat allerdings
offensichtlich ist, welche Zivilforderung dem Opfer zusteht und weshalb der
angefochtene Entscheid diese möglicherweise beeinflusst, kann auf die
Nichtigkeitsbeschwerde eingetreten werden, selbst wenn die Beschwerde keine
diesbezüglichen Angaben enthält (BGE 127 IV 185 E. 1a mit Hinweisen).

Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei im Alter von 15 bis 19 Jahren von
seinem Lehrmeister sexuell missbraucht worden. Damit kommt ihm eine
Opferstellung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG zu. Er war zudem am kantonalen
Verfahren beteiligt.

Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe Zivilforderungen bereits
angemeldet, wenn auch noch nicht beziffert (Beschwerde S. 2/3 Ziff. II/3).
Dem angefochtenen Entscheid ist jedoch nicht zu entnehmen, dass er im
kantonalen Verfahren Zivilforderungen angemeldet hätte (vgl. angefochtener
Entscheid S. 3 Ziff. 1, S. 5 Ziff. 3, S. 6 - 9 Ziff. 5, S. 10 Ziff. 8).
Immerhin ist ersichtlich, dass er vor der Vorinstanz geltend gemacht hat, es
sei wegen der angeklagten Vorfälle zu einer schweren Traumatisierung und
Invalidisierung und zu einer stationären Behandlung gekommen (angefochtener
Entscheid S. 7). Vor Bundesgericht führt er - wenn auch im Zusammenhang mit
der Frage der unentgeltlichen Rechtspflege - aus, er sei nach wie vor nicht
arbeitsfähig und in Behandlung (Beschwerde S. 3). Es ist offensichtlich, dass
er aus diesem Grund gedenkt, Schadenersatz- oder allenfalls
Genugtuungsansprüche geltend zu machen. Ebenfalls ist offensichtlich, dass
sich der Ausgang des Verfahrens auf die Beurteilung der Zivilansprüche
auswirken kann. Auch wenn die Beschwerde in diesem Punkt einlässlicher hätte
begründet werden sollen, kann nach dem oben Gesagten darauf eingetreten
werden.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, es verletze Art. 8 OHG, wenn ein
Verfahren nicht von einem Richter beurteilt, sondern eingestellt werde
(Beschwerde S. 11 Ziff. III.3).

Die Rüge ist offensichtlich unbegründet. Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG kann
das Opfer den Entscheid eines Gerichts verlangen, wenn das Verfahren durch
eine nicht-richterliche Behörde eingestellt wird (BGE 122 IV 79 E. 4b/aa).
Der Beschwerdeführer konnte die Einstellungsverfügung des
Untersuchungsrichteramtes bei der Anklagekammer des Kantons Thurgau
anfechten, also bei einem durch Gesetz geschaffenen, zuständigen,
unabhängigen und unparteiischen Gericht im Sinne von Art. 30 Abs. 1 BV. Damit
ist Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG Genüge getan.

3.
Die dem Beschwerdegegner angelasteten Handlungen sind in zwei zeitliche
Phasen aufzuteilen. Einerseits geht es um den Zeitraum von Dezember 1989 bis
zum 16. Februar 1990, als der Beschwerdeführer 16 Jahre alt wurde, und
anderseits um den Zeitraum vom 16. Februar 1990 bis Mai 1994. Die Vorinstanz
kommt zum Schluss, soweit die Tatbestände der sexuellen Handlungen mit
Kindern gemäss Art. 187 StGB bzw. mit Abhängigen gemäss Art. 188 StGB in
Frage kämen, seien die Vorwürfe verjährt (angefochtener Entscheid S. 14 -
16).

Was der Beschwerdeführer unter dem Titel "Verletzung von Art. 337 StGB"
vorbringt (Beschwerde S. 11 Ziff. III.2), geht an der Sache vorbei. Die
Vorinstanz hat nicht verkannt, dass eine allfällige sexuelle Nötigung gemäss
Art. 189 StGB noch nicht verjährt wäre (angefochtener Entscheid S. 16). Die
Frage, ob dem Beschwerdegegner eine sexuelle Nötigung angelastet werden kann,
hat jedoch nichts damit zu tun, ob die beiden anderen in Frage kommenden
Delikte der sexuellen Handlungen mit Kindern bzw. mit Abhängigen bereits
verjährt sind. Dass diese beiden anderen Delikte verjährt sind, anerkennt der
Beschwerdeführer im Übrigen sinngemäss selber, wenn er ausführt, "die
grundsätzlichen Überlegungen der Anklagekammer zu den Verjährungsbestimmungen
sind im Grundsatz richtig" (Beschwerde S. 11). Von einer unzulässigen
"Vermischung der Rechtsordnungen" kann nicht die Rede sein.

4.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die sexuellen Kontakte seien der
sexuellen Nötigung zuzuordnen, weil er in starker psychischer Abhängigkeit
und unter starkem psychischem Druck des Beschwerdegegners gestanden habe
(vgl. Beschwerde S. 4 - 10). Dieser bestreitet, den Beschwerdeführer zu
sexuellen Handlungen genötigt zu haben (angefochtener Entscheid S. 14,
16/17).

4.1 Der sexuellen Nötigung im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB macht sich
schuldig, wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder anderen
sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet,
sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht. Im
Gegensatz zum früheren Recht setzt eine sexuelle Nötigung nicht mehr die
Widerstandsunfähigkeit des Opfers voraus. Immer ist aber eine erhebliche
Einwirkung erforderlich. Die sexuellen Nötigungstatbestände verbieten den
Angriff auf die sexuelle Freiheit. Sie gelten als Gewaltdelikte und sind
damit prinzipiell als Akte physischer Aggression zu verstehen. Die
Tatbestandsvariante des Unter-psychischen-Druck-Setzens stellt jedoch klar,
dass sich die tatbestandsmässige Ausweglosigkeit der Situation für das Opfer
auch ergeben kann, ohne dass der Täter eigentliche Gewalt anwendet; es kann
vielmehr genügen, dass dem Opfer eine Widersetzung aus anderen Gründen nicht
zuzumuten ist, weil die gesamten Umstände eine Qualität erreichen, die sie
als so genannte "strukturelle Gewalt" erscheinen lassen. Ob die tatsächlichen
Verhältnisse die tatbeständlichen Anforderungen eines Nötigungsmittels
erfüllen, kann nur nach einer umfassenden Würdigung der konkreten Umstände
entschieden werden. Kognitive Unterlegenheit und emotionale wie soziale
Abhängigkeit können - insbesondere bei Kindern und Jugendlichen - einen
ausserordentlichen Druck erzeugen, der es ihnen verunmöglicht, sich gegen
sexuelle Übergriffe zu wehren. Eine Tatbestandsmässigkeit setzt aber in jedem
Fall voraus, dass unter den konkreten Umständen das Nachgeben des Kindes oder
Jugendlichen verständlich erscheint. Das Ausnützen allgemeiner Abhängigkeits-
oder Freundschaftsverhältnisse genügt für sich genommen in der Regel nicht,
um einen relevanten psychischen Druck im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB zu
begründen (vgl. BGE 128 IV 97 E. 2b mit Hinweisen).

4.2 Nach Auffassung der Vorinstanz genügen die dem Beschwerdegegner
vorgeworfenen Handlungen dem Kriterium des psychischen Drucks nicht. Der
Beschwerdeführer sei vom Beschwerdegegner in die Naturheillehre eingeführt
worden und habe dann zusammen mit seiner Schwester und finanziert durch den
Vater die Naturheilpraxis des Beschwerdegegners zu einem Preis von 520'000
Franken übernommen. Danach habe er als neuer Geschäftsinhaber weiterhin in
engen beruflichen und persönlichen Beziehungen zum Beschwerdegegner
gestanden, wobei er mit diesem über Jahre hinweg homosexuelle Kontakte gehabt
habe. Dem Beschwerdeführer wäre es als Geschäftsinhaber ein Leichtes gewesen,
seiner Selbstbestimmung in dem Sinne Nachachtung zu verschaffen, dass er den
Beschwerdegegner des Geschäftes verwiesen oder keine weiteren beruflichen und
persönlichen Kontakte mehr gepflegt hätte. Daran ändere nichts, dass der
Beschwerdegegner angeblich für die Bekanntgabe der Rezepturen einzelner
Naturheilmittel als Gegenleistung sexuelle Handlungen mit dem
Beschwerdeführer verlangt haben soll, da dieser vorgängig eine entsprechende
Anlehre beim Beschwerdegegner absolviert gehabt habe und damit selber in der
Lage gewesen sei, Naturheilmittel herzustellen. Insgesamt habe eine
gegenseitige homoerotische bzw. homosexuelle Beziehung zwischen dem
Beschwerdeführer und dem Beschwerdegegner vorgelegen, die auf einem
freiwilligen Mitmachen des Beschwerdeführers beruht habe (vgl. angefochtener
Entscheid S. 17/18).

4.3 Diese Ausführungen, die sich auf die Zeit beschränken, nachdem der
Beschwerdeführer die Naturheilpraxis des Beschwerdegegners übernommen hat und
deren Geschäftsführer geworden ist, sind zwar für diese Zeit möglicherweise
richtig, aber sie sind auf jeden Fall unvollständig.

Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich zunächst nicht, wann der
Beschwerdeführer Geschäftsführer der Naturheilpraxis geworden ist. Seinen
Aussagen ist zu entnehmen, dass der Verkauf der Praxis Ende 1990 durchgeführt
wurde (Beschwerdebeilage 17 S. 5 oben). Zu diesem Zeitpunkt war der
Beschwerdeführer weniger als 17 Jahre alt. Geschäftsführer dürfte er deshalb
erst später geworden sein.

Zuvor wurde der Beschwerdeführer durch den Beschwerdegegner zum Naturheiler
ausgebildet. Auch in dieser Zeit der Ausbildung soll es zu sexuellen
Kontakten gekommen sein. Zu diesen äussert sich die Vorinstanz nicht.

Zum einen geht es um sexuelle Kontakte, die vor dem 16. Altersjahr des
Beschwerdeführers stattgefunden haben sollen. Solche werden vom
Beschwerdegegner bestritten. Die Vorinstanz äussert sich dazu nur im
Zusammenhang mit der Frage der Verjährung der sexuellen Handlungen mit
Kindern und stellt fest, diese "eventuellen" Kontakte seien "nicht bewiesen";
in der Folge beantwortet sie die Frage der Verjährung "unabhängig davon,
welche der Sachverhaltsdarstellungen nun ihre Richtigkeit hat" (angefochtener
Entscheid S. 14). Im Zusammenhang mit dem Vorwurf der sexuellen Nötigung
erwähnt sie diesen Vorwurf, der ihrer Darstellung gemäss "seine Richtigkeit"
haben könnte, mit keinem Wort. Dies ist mangelhaft.

Zum zweiten kam es im Frühling 1990 zu sexuellen Handlungen, die der
Beschwerdegegner zugegeben hat (angefochtener Entscheid S. 5). Auch dazu
äussert sich die Vorinstanz nicht. Es ist nun aber nicht von vornherein
ausgeschlossen, dass der etwas über 16 Jahre alte Beschwerdeführer während
der Ausbildung zum Naturheiler vom Beschwerdegegner derart abhängig war, dass
er befürchtete, dessen Zuneigung zu verlieren, wenn er sich sexuell mit ihm
nicht einlasse.

In Anwendung von Art. 277 BStP ist der angefochtene Entscheid deshalb
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie sich zu
den gesamten Vorwürfen, die der Beschwerdeführer gegenüber dem
Beschwerdegegner erhebt, äussere.

5.
Bei diesem Ausgang sind keine Kosten zu erheben. Der Vertreter des
Beschwerdeführers ist aus der Bundesgerichtskasse angemessen zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird in Anwendung von Art. 277 BStP
gutgeheissen, das Urteil der Anklagekammer des Kantons Thurgau vom 11./20.
März 2003 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Markus Schultz, wird für
das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 3'000.--
entschädigt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau
und der Anklagekammer des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. September 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: