Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.180/2003
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6S.180/2003 /kra

Urteil vom 24. Juli 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Monn.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Bühler,
Zollikerstrasse 141, 8008 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Herrenacker 26, Postfach, 8201
Schaffhausen.

Versuchte vorsätzliche Tötung,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Schaffhausen vom

14. Februar 2003.

Sachverhalt:

A.
Der türkische Staatsangehörige X.________ ist mit einer Türkin verheiratet
und hat nebst zwei Söhnen mehrere Töchter. Es wird ihm vorgeworfen, er habe
in den Jahren 1997 und 2001 seine Frau und seine Töchter mehrfach massiv
gewürgt. Daneben habe er sie wiederholt körperlich verletzt und Drohungen
ausgestossen, welche die ganze Familie zu ängstigen vermochten. Dabei soll es
ihm zur Hauptsache darum gegangen sein, sich bei seiner Familie Respekt und
Disziplin zu verschaffen.

B.
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen sprach X.________ am 14. Februar
2003 im Berufungsverfahren des Versuchs der vorsätzlichen Tötung im Sinne von
Art. 111 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 StGB, der mehrfachen Gefährdung des
Lebens im Sinne von Art. 129 StGB, der mehrfachen Körperverletzung im Sinne
von Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 Abs. 3 StGB sowie der mehrfachen
Drohung im Sinne von Art. 180 StGB schuldig und bestrafte ihn mit 7 ½ Jahren
Zuchthaus, unter Anrechnung von 425 Tagen erstandener Untersuchungs- und
Sicherheitshaft. Der Verurteilte wurde für die Dauer von zehn Jahren des
Landes verwiesen.

C.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, es sei
das Urteil des Obergerichts aufzuheben. Es sei ihm die unentgeltliche
Prozessführung zu gewähren und Rechtsanwalt Dr. Marcel Bühler als
unentgeltlicher Rechtsvertreter einzusetzen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerde richtet sich nur gegen den Schuldspruch wegen versuchter
vorsätzlicher Tötung (Beschwerde S. 4 Ziff. 3). Diesem Schuldspruch liegt
folgender Sachverhalt zugrunde (vgl. Anklageschrift, von deren Sachverhalt
die Vorinstanz gemäss angefochtenem Entscheid S. 7 unten ausgeht, Ziff. II
3c):

Anlässlich eines Streits in der Wohnung der Familie X.________, der sich am
15. Dezember 2001 ereignete, drückte der Beschwerdeführer seine Tochter
A.________ gewaltsam auf ein Sofa und würgte sie mit der linken Hand am Hals
derart lange und massiv, dass sie mit heraushängender Zunge nach Luft
schnappte und Angst hatte, sie würde demnächst in Ohnmacht fallen. Nur weil
die Ehefrau und die Tochter B.________ einschritten, liess der
Beschwerdeführer, der sein Würgen nicht mehr unter Kontrolle hatte, von
A.________ ab. Später warf der Beschwerdeführer seiner Ehefrau und B.________
vor, sie hätten ihn am Würgen gehindert, sodass er "seine Tat nicht habe
vollbringen können". Der Tochter A.________ erklärte er, "dass er oder sie
weiterleben werde, aber einer von beiden sterben müsse". A.________ litt nach
dem Angriff unter Schluck- und Nackenbeschwerden (vgl. angefochtener
Entscheid S. 4 lit. c und S. 9).

Die Vorinstanz kommt in rechtlicher Hinsicht zum Schluss, mit seinem Vorgehen
habe der Beschwerdeführer, der um die Lebensgefährlichkeit des Würgens
gewusst habe, den Tod von A.________ in Kauf genommen und sich deshalb einer
versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig gemacht (vgl. angefochtener
Entscheid S. 9).

2.
Der Beschwerdeführer macht dagegen geltend, er habe darauf vertraut, dass
seine Tochter nicht sterben werde. Das Motiv seines Handelns sei nicht die
Tötung seiner Tochter gewesen, sondern die Disziplinierung der Familie, um
sich Respekt zu verschaffen und die eigene Stellung und Autorität erhalten zu
können (vgl. Beschwerde S. 5 - 10 Ziff. 5). Die Argumentation der Vorinstanz
sei im Übrigen widersprüchlich, weil sie ihn nur in einem Fall der versuchten
vorsätzlichen Tötung, im ähnlichen Fall von Anklageziffer II 2 demgegenüber
der Gefährdung des Lebens für schuldig befunden habe (vgl. Beschwerde S. 10 -
12 Ziff. 7).

3.
Eine Gefährdung des Lebens gemäss Art. 129 StGB begeht, wer einen anderen
skrupellos und wissentlich in unmittelbare Lebensgefahr bringt und genau dies
auch will, aber davon ausgeht, er beherrsche die Gefahr, so dass sie sich
nicht verwirklichen könne. Wer es demgegenüber nicht nur für möglich hält,
dass der Tod des anderen eintreten könnte, sondern den Tod überdies für den
Fall, dass er eintritt, in Kauf nimmt und sich mit ihm abfindet, mag er ihm
auch unerwünscht sein, begeht ein - gegebenenfalls nur versuchtes -
eventualvorsätzliches Tötungsdelikt gemäss Art. 111 ff. StGB.

Was der Täter in Kauf nimmt, betrifft so genannte innere Tatsachen und damit
eine Tatfrage, die gemäss Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP im Verfahren der
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nicht aufgeworfen und geprüft werden
kann. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn bei einem Täter, der nicht
geständig ist, aus äusseren Umständen auf die inneren Tatsachen geschlossen
werden muss. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sich insoweit Tat- und
Rechtsfragen teilweise gewissermassen überschneiden. Daher hat der
Sachrichter die relevanten tatsächlichen Umstände möglichst erschöpfend
darzustellen, damit erkennbar wird, aus welchen Umständen er auf Inkaufnahme
der Tatbestandsverwirklichung geschlossen und damit auf Eventualvorsatz
erkannt hat. Denn der Sinngehalt der zum Eventualvorsatz entwickelten Formeln
lässt sich nur im Lichte der tatsächlichen Umstände des Falles prüfen, und
das Bundesgericht kann daher in einem gewissen Ausmass die richtige Bewertung
dieser Umstände im Hinblick auf den Rechtsbegriff des Eventualvorsatzes
überprüfen.

Zu den relevanten Umständen für die Entscheidung der Frage, ob der Täter
eventualvorsätzlich gehandelt hat, gehören unter anderem die Grösse des - ihm
bekannten - Risikos der Tatbestandsverwirklichung und die Schwere der
Sorgfaltspflichtsverletzung. Je grösser etwa das Risiko des Erfolgseintritts
ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtsverletzung wiegt, desto näher liegt
die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf
genommen. Zu den relevanten Umständen können auch die Beweggründe des Täters
und die Art der Tathandlung gehören (BGE 125 IV 242 E. 3c mit Hinweisen).

4.
Ob es sich beim Vorfall aus dem Jahr 1997, der in Anklageziffer II 2
geschildert wird (vgl. angefochtener Entscheid S. 3 Ziff. 2), um eine
Gefährdung des Lebens handelt, wie die Vorinstanz annimmt, oder ob auch in
diesem Fall auf eine versuchte vorsätzliche Tötung hätte erkannt werden
sollen, ist im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, da der entsprechende
Schuldspruch durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen nicht
angefochten worden ist. Zu prüfen ist nur Anklageziffer II 3c. Aber im
Hinblick auf diese Prüfung muss angemerkt werden, dass sich die beiden
Sachverhalte in einigen Punkten unterscheiden. Deshalb ist die Rüge des
Beschwerdeführers, die Vorinstanz habe ein widersprüchliches Urteil gefällt,
von vornherein nicht zu hören.

Für die Frage, ob im Falle von Anklageziffer II 3c eine versuchte
vorsätzliche Tötung vorliegt, ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer
am 15. Dezember 2001 schon früh am Morgen schlecht gelaunt war und bis zum
Nachmittag wegen Kleinigkeiten über seine beiden Töchter in eine zunehmende
Wut geriet, die sich schliesslich derart explosionsartig und unkontrolliert
entlud, dass er beide Töchter abwechselnd und mehrfach in einer
lebensgefährlichen Weise angriff (vgl. angefochtener Entscheid S. 3/4 Ziff.
3a bis 3c). Davon, dass er sich beim letzten und hier zu beurteilenden
Angriff auf A.________ noch irgendwie unter Kontrolle gehabt hätte, kann
offensichtlich nicht die Rede sein. Seine Tochter dürfte das Würgen nur
deshalb überlebt haben, weil ihre Schwester und die Ehefrau des
Beschwerdeführers eingriffen. Selbst einige Zeit später am Abend war der Zorn
des Beschwerdeführers immer noch so gross, dass er seiner Ehefrau und
B.________ vorwarf, sie hätten ihn mit ihrem Eingreifen daran gehindert, die
Tat zu "vollbringen". Unter den gegebenen Umständen ist entgegen der
Darstellung in der Beschwerde festzustellen, dass es dem Beschwerdeführer im
Zeitpunkt seines Angriffs auf A.________ nicht mehr darum ging, "sich Respekt
zu verschaffen", sondern dass er seine Tochter wegen ihres seiner Ansicht
nach unbotmässigen Verhaltens nur noch züchtigen und bestrafen wollte und
dass er es in seinem unmässigen Zorn dabei ohne weiteres in Kauf nahm, seine
Tochter sogar zu töten. Der angefochtene Schuldspruch ist folglich
bundesrechtlich nicht zu beanstanden.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer grundsätzlich die
bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 278 Abs. 1 BStP).

Er stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Da er
sich seit 2 ½ Jahren in Haft befindet, kann davon ausgegangen werden, dass er
bedürftig ist. Die erste kantonale Instanz hat auch im vorliegend zu
prüfenden Fall auf Gefährdung des Lebens erkannt. Folglich kann nicht gesagt
werden, dass die Rechtsbegehren des Beschwerdeführers von vornherein
aussichtslos waren. Es ist deshalb in Gutheissung des Gesuchs auf eine
Kostenauflage zu verzichten. Der Vertreter des Beschwerdeführers ist aus der
Bundesgerichtskasse zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Der Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Dr. Marcel Bühler, wird für
das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse
entschädigt.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Schaffhausen und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 24. Juli 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: