Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.178/2003
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6S.178/2003 /pai

Urteil vom 26. August 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen,
Gerichtsschreiber Boog.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Thomas Ulrich,
Neuhofstrasse 25, 6340 Baar,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Marc Bieri,
Töpferstrasse 5, 6004 Luzern,
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern.

Fahrlässige schwere Körperverletzung; Strafzumessung (Art. 125 StGB, Art. 63
StGB),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern,
II. Kammer, vom 12. Dezember 2002.

Sachverhalt:

A.
Die 1977 geborene Y.________ fuhr am frühen Morgen des 24. Januar 1997 in
Hochdorf mit ihrem Fahrrad auf einer Nebenstrasse vom Seminar Baldegg in
Richtung Abwasserreinigungsanlage (ARA) und bog nach links in die
vortrittsberechtigte Industriestrasse ein. Dabei kollidierte sie frontal mit
dem vom damals 19-jährigen X.________ gesteuerten Personenwagen, der auf der
Industriestrasse von Hochdorf in Richtung Baldegg unterwegs war. Y.________
wurde gegen die Frontscheibe und Dachkante des Personenwagens geworfen und
anschliessend nach vorn auf die Strasse geschleudert. Sie erlitt schwere
Verletzungen u.a. im Schädelbereich, die eine Schädigung der Gedächtnis- und
Sehfunktionen zur Folge hatten.

B.
Am 28. Oktober 1997 verurteilte das Amtsstatthalteramt Hochdorf X.________
wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu 2 Monaten Gefängnis, bedingt
bei einer Probezeit von 2 Jahren, und zu Fr. 1'000.-- Busse, als Zusatzstrafe
zum Urteil des Polizeirichteramtes des Kantons Zug vom 25. August 1997. Die
Strafuntersuchung gegen Y.________ wegen Nichtgewährens des Vortritts stellte
das Amtsstatthalteramt in Anwendung von Art. 66bis Abs. 1 StGB ein.

Da X.________ die Strafverfügung des Amtsstatthalteramtes nicht annahm,
wurden die Akten dem Amtsgericht Hochdorf zur Beurteilung überwiesen. Dieses
sprach X.________ am 23. April 1998 von der Anklage der fahrlässigen schweren
Körperverletzung frei. Auf Appellation von Y.________ hin bestätigte das
Obergericht des Kantons Luzern am 23. März 1999 den Freispruch.

Das Bundesgericht hiess am 2. Juni 2000 eine von Y.________ geführte
staatsrechtliche Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat, und hob den
angefochtenen Entscheid auf. Die konnexe eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde schrieb es als gegenstandslos ab.

Mit Urteil vom 6. Februar 2001 sprach das Obergericht des Kantons Luzern
X.________ erneut vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung
frei. Y.________ gelangte ein zweites Mal ans Bundesgericht, welches die von
ihr erhobene staatsrechtliche Beschwerde mit Entscheid vom 25. April 2002
wiederum guthiess und das angefochtene Urteil abermals aufhob. Die
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde schrieb es als gegenstandslos ab.
Mit Urteil vom 12. Dezember 2002 erklärte das Obergericht des Kantons Luzern
X.________ nunmehr der fahrlässigen schweren Körperverletzung, begangen durch
Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die Sicht- und Strassenverhältnisse,
schuldig und verurteilte ihn zu einem Monat Gefängnis, mit bedingtem
Strafvollzug bei einer Probezeit von zwei Jahren, und zu einer Busse von Fr.
800.--, als Zusatzstrafe zum Urteil des Polizeirichteramtes des Kantons Zug
vom 25. August 1997.

C.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

D.
Das Obergericht des Kantons Luzern beantragt in seinen Gegenbemerkungen die
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Vernehmlassungen
wurden nicht eingeholt.

E.
Mit Entscheid vom heutigen Datum hat der Kassationshof eine in derselben
Sache eingereichte staatsrechtliche Beschwerde abgewiesen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer wendet sich zunächst gegen den Schuldspruch der
fahrlässigen schweren Körperverletzung. Er macht geltend, er habe nicht mit
der Verletzung seines Vortrittsrechts rechnen müssen, so dass er nicht
verpflichtet gewesen sei, seine Geschwindigkeit herabzusetzen. Vielmehr habe
er darauf vertrauen dürfen, dass sich die anderen Strassenbenützer
verkehrsgemäss verhalten. Er habe durch seine Fahrweise kein unerlaubtes
Risiko geschaffen.

1.2 Die Vorinstanz stellt verbindlich fest (Art. 277bis Abs. 1 BStP), der
Beschwerdeführer sei mit einer Geschwindigkeit von 75 km/h auf der
Industriestrasse gefahren. Die Strasse sei im Unfallzeitpunkt höchstens
teilweise leicht vereist gewesen und habe eine Bremsverzögerung von annähernd
6,5 m/s2 zugelassen. Die Sicht sei wegen des herrschenden Nebels
beeinträchtigt gewesen; die Sichtweite habe weniger als 50 Meter betragen.
Die Vorinstanz gelangt zum Schluss, der Beschwerdeführer, welcher erst seit
rund fünf Monaten im Besitz des Führerausweises war, habe seine
Geschwindigkeit nicht den Umständen, namentlich nicht den Strassen- und
Sichtverhältnissen, aber auch nicht seiner geringen Erfahrung als Neulenker
angepasst.

1.3 Gemäss Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets den Umständen
anzupassen, namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung, sowie den
Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Der Fahrzeuglenker darf nur so
schnell fahren, dass er innerhalb der überblickbaren Strecke halten kann
(Art. 4 Abs. 1 VRV; vgl. BGE 126 IV 91 E. 4 a/bb).

1.4 Die Annahme der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe seine
Geschwindigkeit nicht den Umständen angepasst, verletzt kein Bundesrecht. Das
ergibt sich ohne weiteres daraus, dass die von ihm gefahrene Geschwindigkeit
von 75 km/h ein Anhalten auf die der herrschenden Sichtweite entsprechende
Distanz von 50 Metern nicht mehr erlaubte. Was der Beschwerdeführer hiegegen
einwendet, geht an der Sache vorbei. Zwar trifft zu, dass nach dem aus Art.
26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz der Strassenbenützer, sofern
nicht besondere Umstände dagegen sprechen, darauf vertrauen darf, dass sich
die anderen Verkehrsteilnehmer ebenfalls ordnungsgemäss verhalten, ihn also
nicht behindern oder gefährden (BGE 118 IV 277 E. 4a mit weiteren Hinweisen).
Indes kann sich auf den Vertrauensgrundsatz nur berufen, wer sich selbst
verkehrsregelkonform verhält. Wer gegen die Verkehrsregeln verstösst und
dadurch eine unklare oder gefährliche Verkehrslage schafft, kann nicht
erwarten, dass andere diese Gefahr durch erhöhte Vorsicht ausgleichen (BGE
120 IV 252 E 2 d/aa; 118 IV 277 E. 4a mit weiteren Hinweisen). Da der
Beschwerdeführer seine Geschwindigkeit den herrschenden Verkehrsbedingungen
nicht anpasste, ist daher ohne Bedeutung, ob konkrete Anzeichen dafür
bestanden, die Geschädigte werde sein Vortrittsrecht verletzen.

Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, die Geschädigte habe den Unfall
zumindest mitverursacht. Dieser sei für ihn weder vorhersehbar noch
vermeidbar gewesen.

2.2 Gemäss Art. 18 Abs. 3 Satz 1 StGB begeht der Täter ein Verbrechen oder
Vergehen fahrlässig, wenn die Tat darauf zurückzuführen ist, dass er die
Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht
oder darauf nicht Rücksicht genommen hat. Voraussetzung für einen
Schuldspruch ist somit die Verletzung einer Sorgfaltspflicht. Die
Handlungsweise ist sorgfaltswidrig, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat auf
Grund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte
Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen und
wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat (Art. 18
Abs. 3 Satz 2 StGB; BGE 127 IV 62 E. 2d S. 64 f. mit Verweisungen).

Die Gefahr des Erfolgseintritts ist für den Täter voraussehbar, wenn sein
Verhalten geeignet ist, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den
Erfahrungen des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen oder
mindestens zu begünstigen. Dabei genügt es, wenn der Täter in groben Zügen
den zum Erfolg führenden Kausalverlauf als Folge seines pflichtwidrigen
Verhaltens voraussehen konnte. Die Voraussehbarkeit ist zu verneinen, wenn
ganz aussergewöhnliche Umstände, wie das Mitverschulden eines Dritten oder
Material- und Konstruktionsfehler, als Mitursachen hinzutreten, mit denen
schlechthin nicht gerechnet werden musste und die derart schwer wiegen, dass
sie als wahrscheinlichste und unmittelbarste Ursache des Erfolges erscheinen
und so alle anderen mitverursachenden Faktoren - namentlich das Verhalten des
Angeschuldigten - in den Hintergrund drängen. Damit der Eintritt des Erfolgs
auf das pflichtwidrige Verhalten des Täters zurückzuführen ist, muss neben
der Voraussehbarkeit auch das Erfordernis der Vermeidbarkeit gegeben sein.
Dabei ist zu prüfen, ob der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre (BGE 128 IV
49 E. 2b; 121 IV 286 E. 3 je mit Hinweisen).

2.3 Die Vorinstanz nimmt zu Recht an, das Fahrverhalten der Geschädigten sei
nicht derart aussergewöhnlich gewesen, dass damit schlechterdings nicht hätte
gerechnet werden müssen. Dass der Unfall für den Beschwerdeführer nicht
voraussehbar war, trifft daher nicht zu. Unbehelflich ist sodann der Einwand,
da sich die Geschädigte vorschriftswidrig verhalten habe, hätte sich der
Unfall auch bei einer reduzierten Geschwindigkeit ereignet. Wenn der
Beschwerdeführer eine Fahrgeschwindigkeit eingehalten hätte, die ein Anhalten
auf Sichtweite erlaubt hätte, ist nicht einzusehen, wie es unter solchen
Umständen eine Kollision nicht hätte vermeidbar sein sollen.
Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer wendet sich schliesslich gegen die Strafzumessung der
Vorinstanz. Er beanstandet zum einen, dass die Vorinstanz bei ihm eine
Charakterschwäche angenommen habe. Andererseits rügt er, die Vorinstanz habe
die Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht berücksichtigt.

3.2 Die Vorinstanz nimmt an, es lasse auf eine Charakterschwäche beim
Beschwerdeführer schliessen, dass er kaum zwei Monate nach dem zu
beurteilenden Unfall und mithin kaum beeindruckt von dessen tragischen Folgen
erneut einen schweren Unfall mit sechs Verletzten verursacht habe, wobei er
wegen übersetzter Geschwindigkeit und Fahrens auf der Gegenfahrbahn schuldig
gesprochen worden sei.

Dies ist nicht zu beanstanden. Im Rahmen der Würdigung der Täterkomponente
dürfen ebenfalls Umstände berücksichtigt werden, die Rückschlüsse auf die
Einstellung des Betroffenen gegenüber den Gesetzen erlauben. Dies trifft hier
zweifellos zu. Dass der Beschwerdeführer derart kurze Zeit nach dem ersten
Unfall ein weiteres Mal eine Kollision wegen übersetzter Geschwindigkeit
verursachte, spricht in klarer Weise zu seinen Ungunsten und erweckt
ernsthafte Zweifel an seiner charakterlichen Eignung zum Führen von
Motorfahrzeugen. Das angefochtene Urteil verletzt in diesem Punkt kein
Bundesrecht.

An der Sache vorbei geht zuletzt die Rüge, die Vorinstanz habe die Verletzung
des Beschleunigungsgebots nicht berücksichtigt. Denn die Vorinstanz stellt
eine solche Verletzung gar nicht fest. Dem Umstand, dass die Frist der
ordentlichen Verjährung bereits überschritten ist, trägt sie mit einer
Strafmilderung nach Art. 64 Abs. 5 StGB Rechnung. Auch dies ist nicht zu
beanstanden.

Die Beschwerde erweist sich auch in diesem Punkt als unbegründet.

4.
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 278 Abs. 1 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern
und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 26. August 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: