Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.138/2003
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6S.138/2003 /kra

Urteil vom 26. September 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiberin Giovannone.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rudolf Streuli,
Mühlebachstrasse 5, 8810 Horgen,

gegen

A.________,
Beschwerdegegner,
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich.

Einfache Körperverletzung etc. (Notwehr),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich,
II. Strafkammer,
vom 14. Februar 2003.

Sachverhalt:

A.
Am 30. Mai 2002 erkannte das Bezirksgericht Zürich, X.________ habe mehrfach
ohne Berechtigung eine Waffe getragen und A.________ vorsätzlich an Körper
und Gesundheit geschädigt, wobei er von einer Waffe Gebrauch gemacht habe. Es
bestrafte ihn dafür mit drei Monaten Gefängnis, bedingt, und setzte ihm eine
Probezeit von zwei Jahren an. Ferner stellte das Bezirksgericht fest, dass er
dem Geschädigten grundsätzlich zu Schadenersatz verpflichtet sei, und verwies
dessen Begehren im Quantitativ auf den Zivilweg. Das Begehren des
Geschädigten um Genugtuung wies es ab. Ausserdem zog das Bezirksgericht die
beschlagnahmten Waffen ein.

B.
Sowohl X.________ als auch die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und der
Geschädigte fochten dieses Urteil an. X.________ verlangte, er sei vom
Vorwurf der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung freizusprechen. Die
Staatsanwaltschaft beantragte, der Schuldspruch sei zu bestätigen und
X.________ sei mit zwölf Monaten Gefängnis zu bestrafen. Der Geschädigte
beantragte, es sei festzustellen, dass X.________ im Grundsatz zur Zahlung
nicht nur von Schadenersatz, sondern auch einer Genugtuung verpflichtet sei.
Das Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, bestätigte darauf den
Schuldspruch, verurteilte X.________ zu einer Gefängnisstrafe von sechs
Monaten, bedingt, und stellte fest, dass er im Grundsatz zur Zahlung sowohl
von Schadenersatz als auch einer Genugtuung verpflichtet sei.

C.
Gegen dieses Urteil erhebt X.________ die eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, die Verurteilung wegen einfacher
Körperverletzung aufzuheben und ihn von diesem Vorwurf freizusprechen. Mit
Eingabe vom 9. Mai 2003 ersucht er überdies um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde im Strafpunkt ist kassatorischer
Natur (Art. 277ter Abs. 1 BStP). Auf die Rechtsbegehren kann deshalb
eingetreten werden, soweit der Beschwerdeführer beantragt, die Verurteilung
wegen einfacher vorsätzlicher Körperverletzung aufzuheben, nicht aber
insoweit, als er einen Freispruch verlangt (BGE 118 IV 277 E. 1).

2.
2.1 Die obergerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers ist aufgrund der
folgenden Sachverhaltsfeststellungen ergangen:

Der Beschwerdeführer war zur Zeit der Straftat als Hauswart für die Turnhalle
des Schulhauses M.________ in Zürich zuständig, in deren Umgebung es damals
einen regen Drogenhandel gab. Die Abwarte mussten ihr Augenmerk darauf
richten, dass keine Auswüchse auf das Schulareal stattfanden. Sie hatten die
Weisung, nicht Zutrittsberechtigte nett, aber bestimmt wegzuweisen und bei
Auswüchsen nicht selber tätig zu werden, sondern mittels der ihnen zur
Verfügung stehenden Direktwahl die Stadtpolizei anzurufen (Urteil S. 18).

Am 1. Oktober 2000 wollte sich der nachmalige Geschädigte gegen den Willen
des Beschwerdeführers Zutritt zur Turnhalle verschaffen, um die Toilette
aufzusuchen. Es kam im Eingangsbereich der Turnhalle zu einer verbalen
Auseinandersetzung, aus der sich zwischen den beiden Männern eine Schlägerei
entwickelte. Dabei ging der Geschädigte, der vorgängig Alkohol konsumiert
hatte und den Drang zu urinieren verspürte, ziemlich aggressiv vor und griff
den Beschwerdeführer recht massiv tätlich an. Durch Schläge in die Augen,
einen Schlag auf den Solarplexus und Stösse in die Hodengegend wurde der
Beschwerdeführer in seinen Reaktionsmöglichkeiten eingeschränkt, und es
wurden ihm massive Schmerzen zugefügt (Urteil S. 18 f.). Der Beschwerdeführer
war dem - zwar etwas kleineren, aber erheblich jüngeren - Geschädigten
unterlegen, zumal er im Laufe der Auseinandersetzung in die Knie geknickt
war.

In dieser Situation zog der Beschwerdeführer, der im Übrigen vorher ebenfalls
Alkohol konsumiert hatte (Blutalkoholgehalt von mindestens 1,41
Gewichtspromille, Urteil S. 13), einen seiner beiden Revolver aus dem
Gürtelholster und gab als geübter Schütze aus einer Distanz von ungefähr 1.5
Meter zwei Schüsse auf das Bein des Geschädigten ab. Dabei nahm er in Kauf,
dem Geschädigten gewisse Verletzungen zuzufügen (Urteil S. 8).

Das Verhalten des Geschädigten lag nicht ausserhalb der schwierigen
Verhältnisse, auf welche sich der Beschwerdeführer bei seiner Tätigkeit als
Hilfsabwart im betreffenden Schulhaus eingestellt hatte (Urteil S. 20).
Dennoch hat er unmittelbar hintereinander zwei Schüsse abgefeuert, ohne
seinen Widersacher durch einen Zuruf oder einen Schuss in die Luft zu warnen,
wie dies nach den Ausführungen des Obergerichts ohne weiteres möglich und
auch geboten gewesen wäre. Anhaltspunkte, dass eine solche Warnung nicht
wirksam gewesen wäre, gibt es nicht (Urteil S. 19).

Durch die Schrotpatronen, mit welchen der Revolver geladen war, erlitt der
Geschädigte eine Verletzung, die einen operativen Eingriff und eine
langandauernde Einschränkung seiner Arbeitsfähigkeit nach sich zog. Als
Dauerschaden verbleiben ihm Belastungsschmerzen im linken Vorderfuss. Die
Frage einer allfälligen Teilinvalidität ist noch nicht abschliessend geklärt
(Urteil S. 25 f.).
2.2 An diesen vom Obergericht festgestellten Sachverhalt ist das
Bundesgericht im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
gebunden (Art. 273 Abs. 1 lit. b, Art. 277bis Abs. 1 BStP). Ausführungen, die
sich gegen die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz richten, oder das
Vorbringen neuer Tatsachen sind unzulässig; darauf kann nicht eingetreten
werden.

2.3 In rechtlicher Hinsicht geht das Obergericht davon aus, dass der
Tatbestand der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung erfüllt ist. Des
weiteren billigt es dem Beschwerdeführer zu, dass er sich in einer
Notwehrsituation befunden habe (Urteil S. 18). Indem er die Waffe aus dem
Gürtelholster genommen und sofort ohne Warnruf und ohne Warnschuss zwei
Patronen unmittelbar nacheinander auf das Bein des Geschädigten abgefeuert
habe, habe er jedoch die Grenzen der erlaubten Notwehr überschritten (Urteil
S. 19 f.). Da die Verhaltensweise des Geschädigten im Rahmen der schwierigen
Verhältnisse im betreffenden Stadtkreis zu erwarten gewesen seien, könne ihm
nicht zugebilligt werden, dass er die Tat in entschuldbarer Aufregung über
den Angriff begangen habe, weshalb auch nicht von einer Bestrafung abgesehen
werden könne (Urteil S. 20 f.).

3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, das Obergericht habe Art. 33 Abs. 1 StGB
nicht richtig angewendet. Ein Notwehrexzess liege nicht vor. Seine Abwehr
habe in angemessenem Verhältnis zum Angriff des Geschädigten auf seine
körperliche Unversehrtheit gestanden. Angesichts seiner besonderen Fähigkeit,
die Waffe verhältnismässig einzusetzen, habe er sich dieses Werkzeugs
bedienen dürfen. Zu berücksichtigen sei auch, dass er nur mit Schrot und
nicht mit schärferer Munition geschossen habe. Der Angriff sei keine
Bagatelle, sondern angesichts seiner Brutalität ernst zu nehmen gewesen.
Andere Mittel zur Abwehr hätten ihm nicht zur Verfügung gestanden. Der
Angriff auf ihn sei derart heftig und ohne Unterbruch erfolgt, dass er nicht
noch habe überlegen können, ob ein Warnruf oder ein Warnschuss angebracht
gewesen wäre (Beschwerde S. 3 f.).
3.1 Art. 33 Abs. 1 StGB gibt dem Angegriffenen das Recht, den
widerrechtlichen Angriff abzuwehren, soweit die Abwehr verhältnismässig ist.
Die gezwungenermassen ungewöhnlichen und oft extremen Sachlagen der Notwehr
verbieten ein schematisches Vorgehen. Jede Situation muss für sich selber und
in ihrer Gesamtheit gewürdigt werden. Ob die Reaktion des Angegriffenen als
verhältnismässig erscheint, ist vorwiegend eine Frage des Ermessens. Zu ihrer
Beantwortung hat der Richter insbesondere der Schwere des tatsächlichen oder
drohenden Angriffs sowie der Wichtigkeit des gefährdeten Rechtsgutes
einerseits und der Bedeutung des Gutes, das durch die Abwehr verletzt wurde,
anderseits Rechnung zu tragen (Urteil 6P.66/2000 vom 22. November 2000 E. 2d;
BGE 102 IV 65 E. 2a).

Auch die Art des Abwehrmittels und diejenige seiner tatsächlichen Verwendung
sind von Belang. Beim Einsatz von Schusswaffen ist besondere Vorsicht
geboten. Wer Schusswaffen mit sich führt, unterliegt einer speziellen
Verantwortung; die vom Beschwerdeführer missachtete Bewilligungspflicht ist
Ausdruck davon. Er muss sich im Klaren darüber sein, welche Gefahr von der
Waffe ausgeht und wie diese im Ernstfall einzusetzen ist. Auch im Falle einer
drohenden Körperverletzung rechtfertigt nicht jede Bagatelle den Einsatz
einer Feuerwaffe, doch ist der Angegriffene nicht verpflichtet, eine ernst zu
nehmende Attacke einfach zu dulden. Wesentlich ist, ob dem Angegriffenen noch
andere Mittel oder ein weniger gefährlicher Einsatz der Schusswaffe möglich
waren (Urteil 6S.734/1999 vom 10. April 2001 E. 4b; Urteil 6P.66/2000 vom 22.
November 2000 E. 2c).
Die Angemessenheit der Abwehr ist dabei auf Grund jener Situation zu
beurteilen, in welcher sich der rechtswidrig Angegriffene im Zeitpunkt seiner
Tat befand. Es dürfen nicht nachträglich von den Behörden allzu subtile
Überlegungen darüber angestellt werden, ob der Angegriffene sich nicht
allenfalls auch mit anderen, weniger einschneidenden Massnahmen hätte
begnügen können und sollen (Urteil 6P.66/2000 vom 22. November 2000 E. 2c;
BGE 107 IV 12 E. 3a; 102 IV 65 E. 2a).

3.2 Vorliegend griff der Geschädigte den Beschwerdeführer recht massiv
tätlich an und fügte ihm durch Schläge in die Augen, die Brust und die
Hodengegend massive Schmerzen zu. Ein solcher Angriff stellt keine Bagatelle
dar. Die Abwehr durch die zwei Schrotpatronen, welche der Beschwerdeführer
als geübter Schütze auf das Bein des Geschädigten abfeuerte, gefährdete weder
dessen Leben noch lebenswichtige Organe. Dies wird dem Beschwerdeführer von
der Vorinstanz denn auch nicht vorgeworfen. Die Abwehr führte jedoch zu einer
Körperverletzung mit langwierigen Folgen. Nach den verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz wäre es dem Beschwerdeführer ohne weiteres
möglich gewesen, den Angreifer durch Zuruf oder einen Schuss in die Luft zu
warnen. Anhaltspunkte, dass eine solche Warnung nicht wirksam gewesen wäre,
gibt es nicht. Mit dem Vorbringen, der Angriff sei derart heftig und ohne
Unterbruch erfolgt, dass ihm keine andere Möglichkeit mehr geblieben sei, als
sofort zu schiessen, weicht der Beschwerdeführer in unzulässiger Weise vom
verbindlich festgestellten Sachverhalt ab. Damit ist er nicht zu hören. Wenn
der Beschwerdeführer eine Waffe bei sich trug, musste er im Übrigen wissen,
dass er davon nicht unvermittelt und ohne Vorwarnung Gebrauch machen durfte.
Das Obergericht geht demnach zu Recht davon aus, dass er die Grenzen der
erlaubten Notwehr überschritten hat.

4.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe in entschuldbarer Aufregung über
den Angriff des Geschädigten gehandelt. Es habe sich alles in sehr kurzer
Zeit abgespielt. Er sei durch die brutale Attacke des Geschädigten, der
völlig ausgerastet sei und sich wie ein Berserker aufgeführt habe, völlig
überrascht und überrumpelt gewesen und habe ernsthaft um seine körperliche
Integrität fürchten müssen (Beschwerde S. 4 f.).
4.1 Nach Art. 33 Abs. 2 Satz 2 StGB bleibt der Abwehrende straflos, wenn er
die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den
Angriff überschreitet. Die Straflosigkeit setzt voraus, dass der Abwehrende
in Aufregung oder Bestürzung handelt, und sein Zustand als durch die Art und
Umstände des Angriffs entschuldbar erscheint. Dabei müssen Art und Ausmass
der unangemessenen Abwehr sowie die gesamten Umstände des Einzelfalles
berücksichtigt werden. Wer den Angriff durch deliktisches Verhalten selber
schuldhaft verursacht, kann sich für seine unangemessene Abwehr nicht auf
entschuldbare Aufregung berufen (BGE 115 IV 167 E. 4c; 109 IV 5 E. 3; 102 IV
1 E. 3b).

4.2 Der Angriff des Geschädigten war nach den Feststellungen des Obergerichts
recht massiv. Der Beschwerdeführer hat ihn nicht provoziert, doch war er an
der tätlichen Auseinandersetzung beteiligt und hatte auch zurückgeschlagen
(Urteil S. 12). Aufgrund der damaligen Zustände im betreffenden Quartier war
mit Auswüchsen auch auf dem Schulareal zu rechnen. Die Abwarte hatten
Weisungen, wie sie in solchen Fällen vorzugehen hatten. Weil er sich durch
die allgemeine Situation verunsichert fühlte, führte der Beschwerdeführer
eine Waffe mit sich. Das Obergericht schliesst daraus, dass dem
Beschwerdeführer die schwierigen Rahmenbedingungen bewusst waren. Der
Beschwerdeführer kann sich nicht auf eine entschuldbare Aufregung für den
Fall berufen, auf den er sich vorbereitet hatte, auch wenn ihn der Angriff
überrascht und erschreckt hat. Es war im Gegenteil seine Pflicht, auch in
diesem Fall besonnen und verantwortlich zu handeln. Die Vorinstanz konnte
somit eine entschuldbare Gemütsbewegung ohne Verletzung von Bundesrecht
verneinen.

5.
Nach dem Gesagten ist die Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen, soweit darauf
einzutreten ist.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art.
278 Abs. 1 BStP). Die unentgeltliche Rechtspflege gemäss Art. 152 OG kann
bewilligt werden, da von der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers auszugehen
ist. Überdies hat er den angefochtenen Entscheid mit vertretbaren Argumenten
in Frage gestellt (vgl. BGE 124 I 304 E. 2c). Dem Beschwerdeführer werden
deshalb keine Kosten auferlegt. Seinem Vertreter wird aus der
Bundesgerichtskasse eine angemessene Entschädigung ausgerichtet.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Rudolf Streuli, wird für
das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- aus der
Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 26. September 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: