Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6P.92/2003
Zurück zum Index Kassationshof in Strafsachen 2003
Retour à l'indice Kassationshof in Strafsachen 2003


6P.92/2003 /kra

Urteil vom 21. November 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Karlen,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Boog.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprech Viktor Müller,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Bielstrasse 9, 4509 Solothurn,
Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, Amthaus 1, 4502 Solothurn.

Art. 9 BV (Strafverfahren; willkürliche Beweiswürdigung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Solothurn, Strafkammer, vom 4. April 2003.

Sachverhalt:

A.
Das Obergericht des Kantons Solothurn erklärte X.________ mit Urteil vom 4.
April 2003 des mehrfachen qualifizierten Raubes, des einfachen Raubes, des
Diebstahls, der Freiheitsberaubung und der Drohung schuldig und verurteilte
ihn zu 6 ½ Jahren Zuchthaus, unter Anrechnung der ausgestandenen
Untersuchungshaft. Von der Anklage der mehrfachen Drohung und der Nötigung
sprach es ihn frei. Ferner verwies das Obergericht X.________ für die Dauer
von 7 Jahren des Landes, erklärte ihn in einem Punkt dem Opfer gegenüber als
vollumfänglich schadenersatzpflichtig und verpflichtete ihn grundsätzlich zur
Leistung einer Genugtuung. Für die Bestimmung der Höhe des Schadenersatzes
und der Genugtuung verwies es das Opfer auf den Zivilweg. Im Weiteren
entschied das Obergericht über die Einziehung der beschlagnahmten
Gegenstände.

B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde, mit der er beantragt, das
angefochtene Urteil sei in Bezug auf den Schuldspruch wegen qualifizierten
Raubes im Sinne von Art. 140 Ziff. 4 StGB und in Bezug auf den Strafpunkt
aufzuheben und an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Ferner
ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

C.
Das Obergericht des Kantons Solothurn beantragt Abweisung der
staatsrechtlichen Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Vernehmlassungen
wurden nicht eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung beim
Schuldspruch des qualifizierten Raubes im Sinne von Art. 140 Ziff. 4 StGB.

1.1 Das Obergericht geht nach Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers
und der Geschädigten von folgendem Sachverhalt aus:

Der Beschwerdeführer habe die als Prostituierte arbeitende Geschädigte am 5.
Dezember 1999, gegen 01.00 Uhr, auf dem Weg zu ihrem Standplatz in sein Auto
einsteigen lassen. In der Folge habe er sie gegen ihren Willen zunächst statt
zur Industriestrasse in Olten nach Trimbach in die alte Hauensteinstrasse und
von dort aus weiter in Richtung Hauenstein in die Strasse zum Militärgelände
beim Rankbrünneli gefahren. Dort sei er aus dem Auto gestiegen, um seine
Notdurft zu verrichten. Die Geschädigte sei ebenfalls ausgestiegen und habe
sich in Richtung der Strasse entfernt. Der Beschwerdeführer sei ihr gefolgt
und habe sie plötzlich von hinten gepackt. Dabei habe er sie mit seinem Arm
in den Würgegriff genommen und von ihr den bereits bezahlten Dirnenlohn
zurückverlangt. Als die Geschädigte geschrien habe, habe er ihr mit der
anderen Hand schlagartig den Mund zugehalten. Da sie sich weiter gewehrt und
mit ihrem Schirm auf ihn eingeschlagen habe, habe er sie immer noch im
Würgegriff zurück zum Auto gezerrt, habe dort die Fahrertüre geöffnet und aus
einem Fach unter dem Steuerrad ein Messer hervorgeholt. Als die Geschädigte
erneut losgeschrien habe, habe der Beschwerdeführer ihr mit der Hand den Mund
zugehalten und sie mit der anderen mit dem Messer bedroht, das anfänglich in
einer Plastikhülle gesteckt habe. Er habe von ihr verlangt, ihren rechten
Schuh auszuziehen, weil er geglaubt habe, die Geschädigte habe das Geld in
ihre Schuhe gesteckt. Als er das Geld nicht habe finden können, habe er es
von der Geschädigten erneut gefordert. Dabei habe er die Hand vor ihrem Mund
losgelassen und sie wieder in den Würgegriff genommen. Gleichzeitig habe er
mit der anderen Hand das Messer seitlich an ihren Hals gehalten. Daraufhin
habe die Geschädigte ihm das in ihren Socken versteckte Geld herausgegeben.

1.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe das Messer nie aus der
Plastikhülle genommen. Er hätte dies auch gar nicht tun können, da er das
Opfer immer mit einer Hand festgehalten habe. Dass die Geschädigte eine
geschliffene Klinge gesehen habe, sei kein Beweis dafür, dass das Messer
nicht mehr in der Hülle gesteckt sei, weil die Schutzhüllen teilweise
transparent gewesen seien. Ausserdem nähmen Plastikhüllen bei kalter
Witterung die Temperatur der Umgebung an. Dass die Geschädigte etwas Kaltes
am Hals verspürt habe, lasse daher nicht den Schluss zu, er habe das Messer
aus der Schutzhülle herausgenommen. Indem das Obergericht sich
ausschliesslich auf die widersprüchlichen Aussagen der Geschädigten abstütze,
stelle es den Sachverhalt willkürlich fest und verletze den Grundsatz "in
dubio pro reo".

1.3 Der in den Art. 32 Abs. 1 BV und 6 Ziff. 2 EMRK verankerte Grundsatz "in
dubio pro reo" besagt als Beweiswürdigungsregel, dass sich der Strafrichter
nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts
überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht
zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht
hat. Ob der Grundsatz als Beweiswürdigungsregel verletzt ist, prüft das
Bundesgericht unter dem Gesichtspunkt der Willkür (BGE 127 I 39 E. 2a und c;
120 Ia 31 E. 2 mit Hinweisen).

Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn
der angefochtene Entscheid auf einer schlechterdings unhaltbaren oder
widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht bzw. im Ergebnis offensichtlich
unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht,
eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in
stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 129 I 173 E.
3.1; mit Hinweisen).

1.4 Die Geschädigte sagte in der polizeilichen Einvernahme vom 6. Dezember
1999 aus, der Beschwerdeführer habe sie im Würgegriff zum Auto gezerrt, aus
einem Fach unter dem Steuerrad ein Messer hervor geholt und ihr dieses an den
Hals gehalten (Untersuchungsakten S. 24 f.). Das Messer habe eine einseitig
geschliffene Klinge gehabt und sei anfänglich mit einer Hülle geschützt
gewesen (Untersuchungsakten S. 25). In der Einvernahme vom 1. März 2000
präzisierte die Geschädigte, das Messer habe in einer Art Hülle gesteckt. Der
Beschwerdeführer habe das Messer aus der Hülle genommen. Wie das Messer im
Detail ausgesehen habe und aus welchem Material die Hülle gewesen sei, wusste
die Geschädigte nicht mehr (Untersuchungsakten S. 63). In der
Hauptverhandlung vor Obergericht gab die Geschädigte als Auskunftsperson an,
die bei der polizeilichen Befragung gemachten Aussagen entsprächen der
Wahrheit. Der Beschwerdeführer habe ihr das Messer an die Kehle gehalten. Sie
habe das Metall an der Kehle gespürt und habe die Klinge ohne Hülle gesehen
(Akten des Obergerichts, Auszug aus den Minuten des Gerichtsschreibers S. 9
f.). Auf Nachfragen wiederholte sie zunächst, sie habe gesehen, dass jener
das Messer aus der Hülle genommen habe. Sie sei der Meinung, dass sie die
Klinge gesehen habe, wolle aber darauf nicht beharren. Später gab sie an, sie
wisse nicht, ob der Beschwerdeführer das Messer aus der Hülle genommen habe.
Die Hülle könne auch kalt sein, sie glaube aber nicht so kalt wie Eisen. Der
Beschwerdeführer habe das Messer so eingesetzt, wie sie es geschildert habe.
Als er sie losgelassen habe, habe er das Messer wieder in die Hülle gesteckt
und ins Auto zurückgelegt. Sie könne sich aber nicht auf Details festlegen
(Akten des Obergerichts, Auszug aus den Minuten des Gerichtsschreibers S.
11).

Der Beschwerdeführer stellte sich demgegenüber stets auf den Standpunkt, er
habe die Geschädigte mit dem Messer zwar bedroht, es ihr aber nicht an den
Hals gehalten. Ausserdem habe er es nie aus dem Etui genommen
(Untersuchungsakten S. 8, 47 f., 51 f.; Akten des Obergerichts, Auszug aus
den Minuten des Gerichtsschreibers S. 9 und 11).

1.5 Die Aussagen der Geschädigten sind, wie der Beschwerdeführer zu Recht
vorbringt, nicht frei von jeglichen Widersprüchen. Dennoch wertet sie das
Obergericht als glaubhaft. Dies ist nicht zu beanstanden. Dass die
Geschädigte bei den späteren Befragungen vor Obergericht Erinnerungslücken
eingeräumt hat und in einzelnen Details nicht mehr ganz sicher war, spricht
jedenfalls nicht gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen, zumal sie in der
obergerichtlichen Hauptverhandlung bestätigte, in der polizeilichen Befragung
zwei Tage nach dem Vorfall die Wahrheit gesagt zu haben. Das Obergericht
stützt sich daher zu Recht auf die erste Aussage der Geschädigten, in der sie
die geschliffene Klinge des Messers beschrieben und geschildert hatte, dass
sie die Kälte des Messers am Hals gespürt habe. Gestützt darauf erscheint der
Schluss, der Beschwerdeführer habe das Messer mit blanker Klinge an den Hals
der Geschädigten gehalten, jedenfalls nicht schlechterdings unhaltbar. Was
der Beschwerdeführer hiegegen einwendet, beschränkt sich auf die Darlegung
der eigenen Sichtweise des Geschehens. Dass das angefochtene Urteil mit der
Darstellung des Beschwerdeführers nicht übereinstimmt oder eine andere Lösung
oder Würdigung vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, genügt aber
praxisgemäss nicht für die Begründung von Willkür (BGE 127 I 54 E. 2b mit
Hinweisen).
Die Beschwerde ist in diesem Punkt unbegründet.

2.
Der Beschwerdeführer rügt ferner, das Obergericht habe den Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt, indem es seinen Antrag, Herrn Dr.med. Peter
Andres als Zeugen oder Sachverständigen zu befragen, abgewiesen habe. Dessen
Auskünfte hätten Aufschlüsse hinsichtlich seiner Zurechnungsfähigkeit im
Zeitpunkt der Tatbegehungen erlaubt, welche sich mit Sicherheit auf die
Strafzumessung und die Landesverweisung ausgewirkt hätten.

2.1 Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV umfasst u.a.
das Recht des Betroffenen, vor Erlass eines in seine Rechtsstellung
eingreifenden Entscheids mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und
an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest
zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu
beeinflussen (BGE 126 I 15 E. 2a/aa; 124 I 49 E. 3a und 241 E. 2 je mit
Hinweisen). Der Richter kann aber einen Beweisantrag ablehnen, wenn er in
willkürfreier Würdigung der bereits abgenommenen Beweise zur Überzeugung
gelangt, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und er
überdies in willkürfreier antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten
Beweise zur Auffassung gelangen durfte, weitere Beweisvorkehren würden an der
Würdigung der bereits abgenommenen Beweise voraussichtlich nichts mehr ändern
(BGE 124 I 208 E. 4a; 122 II 464 E. 4a; 122 III 219 E. 3c; 122 V 157 E. 1d je
mit Hinweisen).

2.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Zurechnungsfähigkeit, im
Speziellen die Fähigkeit, einsichtsgemäss zu handeln, sei als Folge eines
Unfalls im Jahre 1991, bei welchem er mit einer Eisenstange einen Schlag auf
den Kopf erlitten habe, dauerhaft beeinträchtigt gewesen. Diese Frage sei im
Rahmen der psychiatrischen Begutachtung nie thematisiert worden.

Das Obergericht nimmt an, sowohl das im vorliegenden Verfahren eingeholte
Gutachten des Integrierten forensisch-psychiatrischen Dienstes der
Universität Bern (IFPD) vom 31. März 2000 (Untersuchungsakten S. 509 ff., 520
f./522) als auch das in einem früheren jugendstrafrechtlichen Verfahren in
Auftrag gegebene Gutachten der Psychiatrischen Klinik Königsfelden vom 29.
Dezember 1992 (Untersuchungsakten S. 561 ff., 594 f./596) hätten eine
Verminderung der Schuldfähigkeit ausgeschlossen. Der vom Beschwerdeführer im
Vorfeld der Hauptverhandlung geltend gemachte Schlag auf den Kopf sei bei
beiden Begutachtungen kein Thema gewesen. Die neurologischen Abklärungen des
IFPD hätten ebenso wenig Erkenntnisse gebracht, die auf eine vom genannten
Unfall herrührende Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit hindeuteten, wie
die Untersuchungen der Neurologischen Klinik des Kantonsspitals Aarau.
Namentlich hätten sich keine Anhaltspunkte für eine frühkindliche
Hirnschädigung als Ursache der festgestellten Verminderung der
Impulskontrolle ergeben.

Unter diesen Umständen durfte das Obergericht mit sachlichen Gründen
annehmen, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt und
eine Befragung des angerufenen Arztes vermittle keine weiteren erheblichen
Aufschlüsse. Jedenfalls erscheint dieser Schluss nicht als willkürlich. Der
Verzicht auf die Einvernahme des behandelnden Arztes Dr. med. Peter Andres
verletzt daher das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers nicht.

Die Beschwerde erweist sich auch in diesem Punkt als unbegründet.

3. Aus diesen Gründen ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG). Da die
Beschwerde von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte (Art. 152 Abs. 1
OG, vgl. BGE 124 I 304 E. 2 mit Hinweisen), ist das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege abzuweisen. Den schlechten finanziellen Verhältnissen des
Beschwerdeführers kann bei der Festsetzung der Gerichtsgebühr Rechnung
getragen werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Solothurn und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 21. November 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: