Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6P.84/2003
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6P.84/2003 /bmt
6S.226/2003

Urteil vom 24. November 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly,
Gerichtsschreiber Heimgartner.

U.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Denis G. Humbert,
Meisenweg 9, Postfach 150, 8060 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 2. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

6S.226/2003
Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung
(Art. 292 StGB),

6P.84/2003
Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Strafverfahren;
Willkür, rechtliches Gehör),

Nichtigkeitsbeschwerde (6S.226/2003) und Staatsrechtliche Beschwerde
(6P.84/2003) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, 2.
Strafkammer, vom 14. April 2003.

Sachverhalt:

A.
A.a Mit Schreiben vom 26. Oktober 2000 an U.________ verfügte das Bezirksamt
Zurzach unter anderem Folgendes:
"1.Die Kantonspolizei Zurzach/Klingnau leitet gegen U.________ ein
Ermittlungsverfahren wegen Widerhandlung gegen das BG über die
Betäubungsmittel ein.

2. Im Rahmen der Ermittlungshandlungen sind im Hanffeld gemäss Beschrieb des
Probenahme-Protokolls "Hanf-Felder" Blüten oder Blätter ... zu entnehmen und
diese umgehend durch das Institut für Rechtsmedizin in Bern auf den
THC-Gehalt auswerten zu lassen...
3.Die noch nicht geernteten Hanfpflanzen auf der Parzelle ... werden gemäss §
85 StPO vorläufig beschlagnahmt. Die Hanfpflanzen dürfen aber bis zum vom
Beschuldigten zu bestimmenden Erntedatum stehen bleiben. Sofern der Hanf aus
erntetechnischen Gründen geschnitten, eingebracht und getrocknet werden muss,
ist der Standort der Aufbewahrung ohne weitere Aufforderung der
Kantonspolizei zu melden.

4. Dem Beschuldigten ist unter Androhung von Art. 292 StGB untersagt, bis zur
Feststellung des THC-Gehalts die Hanfpflanzen zu verkaufen, zu verschenken
oder auf eine andere Art und Weise an Dritte abzugeben bzw. für den
Eigengebrauch zu verwenden. Im Falle der Nichtbeachtung der Anordnung droht
eine Sanktion nach Art. 292 StGB, welcher im Folgenden dem Beschuldigten mit
Zustellung dieser Verfügung schriftlich eröffnet wird:

'Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter
Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung
nicht Folge leistet, wird mit Haft oder Busse bestraft.'
5.Sobald der THC-Gehalt der Hanfpflanzen vom IRM Bern bestimmt worden ist,
erlässt das Bezirksamt Zurzach die sich allenfalls aufdrängenden weiteren
Anordnungen.
..."
U.________ erhob gegen die Verfügung Beschwerde bei der Beschwerdekammer in
Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau, welche diese mit Entscheid
vom 21. November 2000 abwies, soweit sie darauf eintrat.

A.b Am 17. November 2000 erstellte das Institut für Rechtsmedizin der
Universität Bern den Analysebericht über die vom Hanffeld von U.________
entnommenen Proben. Der THC-Wert der Proben lag bei 2 %. U.________ wurde
dieses Ergebnis am 7. März 2001 eröffnet.

A.c Ende Oktober 2000 erntete U.________ den Hanf. Im Juli 2001 benutzte er
einen Teil der verdorrten Hanfpflanzen für die Gründüngung.

B.
Das Bezirksgericht Zurzach verurteilte U.________ am 25. September 2002 wegen
Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung gemäss Art. 292 StGB zu einer Busse
von Fr. 500.--.

C.
Auf Berufung sprach das Obergericht des Kantons Aargau U.________ am 14.
April 2003 des Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung schuldig und
bestätigte die ausgesprochene Strafe.

U. ________ führt gegen dieses Urteil eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und der Fall zur
Neubeurteilung zurückzuweisen. Er führt überdies auch staatsrechtliche
Beschwerde mit demselben Antrag.

D.
Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft haben auf Gegenbemerkungen zur
Beschwerde verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

I. Nichtigkeitsbeschwerde

1.
Nach Art. 275 Abs. 5 BStP setzt der Kassationshof die Entscheidung über die
Nichtigkeitsbeschwerde in der Regel bis zur Erledigung einer
staatsrechtlichen Beschwerde aus. Ein Abweichen von der Regel ist aus
prozessökonomischen Gründen zulässig, wenn sich durch die vorgängige
Behandlung der Nichtigkeitsbeschwerde das Verfahren vereinfacht oder sich die
Beurteilung der staatsrechtlichen Beschwerde erübrigt. Letzteres trifft im
vorliegenden Fall zu, weshalb die Nichtigkeitsbeschwerde vorab zu beurteilen
ist.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe ihn zu Unrecht des
Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung schuldig gesprochen und damit Art.
292 StGB verletzt.

2.1 Der Beschwerdeführer führt an, das Bezirksamt habe ihm in Ziff. 4 der
Verfügung unter Androhung von Art. 292 StGB untersagt, die Hanfpflanzen bis
zur Feststellung des THC-Gehalts auf die dort genannten Arten zu verwenden.
Das Verbot und die damit verbundene Androhung von Art. 292 StGB seien demnach
eindeutig bis zu diesem Zeitpunkt befristet gewesen. Es gehe im Übrigen aus
der Begründung der Verfügung hervor, dass der Zweck der
Beschlagnahmeverfügung ausschliesslich in der Feststellung des THC-Gehalts
bestanden habe. Mit der Feststellung dieses Wertes sei der Beweis gesichert
gewesen. Danach hätten die Pflanzen nicht mehr dem Ermittlungsverfahren
gedient und seien daher wieder nutzbar gewesen.

2.2 Die Vorinstanz hielt demgegenüber fest, das Verbot habe mindestens bis
zum Erlass einer neuen Anordnung des Bezirksamts gegolten. Zum einen gehe
dies aus Ziff. 5 der Verfügung hervor, wonach das Bezirksamt nach der
Feststellung des THC-Gehalts die sich allfällig aufdrängenden weiteren
Anordnungen treffen würde. Zum anderen ergebe sich aus dem
Beschwerdeentscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts, dass die
Beschlagnahme so lange aufrecht zu erhalten gewesen wäre, als die Pflanzen
dem Strafverfahren hätten dienen können, allenfalls bis zur rechtskräftigen
Erledigung des Strafverfahrens.

3.
3.1 Nach Art. 292 StGB wird wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen mit
Haft oder Busse bestraft, wer der von einer zuständigen Behörde oder einem
zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn
erlassenen Verfügung nicht Folge leistet. Die in der Verfügung umschriebene
Verhaltensweise muss dem Bestimmtheitsgebot genügen (BGE 124 IV 297 E. II/4d;
Christof Riedo, Basler Kommentar II, Basel 2003, Art. 292 N. 49). Dies folgt
aus dem in Art. 1 StGB festgesetzten Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz"
(BGE 127 IV 119 E. 2a) und dem Umstand, dass Art. 292 StGB als Blankettnorm
die pönalisierte Verhaltensweise nicht direkt umschreibt, sondern auf die
Verfügung verweist (Riedo, a.a.O.). Das verlangte Verhalten muss somit
hinreichend klar umschrieben sein (BGE 124 IV 297 E. II/4d; 127 IV 119 E.
2a).

3.2 Für die Auslegung von Verfügungen mit Hinweis auf Art. 292 StGB kommen
grundsätzlich die allgemeinen Auslegungsregeln im Strafrecht zur Anwendung.
Dies ergibt sich wiederum aus der Tatsache, dass Art. 292 StGB das verpönte
Verhalten nicht direkt umschreibt, sondern auf die Verfügung verweist.
Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut der Bestimmung. Nach
Rechtsprechung und herrschender Lehre bedarf der Text - selbst wenn er an
sich klar ist - der weiteren Auslegung, wenn er nicht der wirkliche Sinn der
Bestimmung sein kann (BGE 127 IV 198 E. 3b; 124 IV 274 E. 3b; 95 IV 68 E. 3a,
je mit Hinweisen; Peter Popp, Basler Kommentar I, Basel 2003, Art. 1 N. 29;
Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 2. Aufl., Bern
1996, § 4 N. 30; Stefan Trechsel/Peter Noll, Schweizerisches Strafrecht,
Allg. Teil I, 5. Aufl., Zürich 1998, S. 48). Ein Teil der Lehre erachtet
demgegenüber den möglichen Wortsinn als Grenze der Auslegung (Marcel
Alexander Niggli, Zur Problematik der Auslegung in Zivil- und Strafsachen -
Analogie, Subsumtion, Selbstreferenz und Wortlautgrenze, AJP 1993, S. 166 f.;
Franz Riklin, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 2. Aufl., Zürich
2002, § 3 N. 28; Kurt Seelmann, Strafrecht, Allg. Teil, Basel 1999, S. 126).
Gemäss der Praxis des Kassationshofs lässt Art. 1 StGB jede Auslegung zu, die
dem wahren Sinn des Gesetzes entspricht, wie er sich aus den ihm zu Grunde
liegenden Wertungen und seinem Zweck ergibt (BGE 127 IV 198 E. 3b; 124 IV 274
E. 3b; 121 IV 380 E. 2b/aa; 116 IV 134 E. 1a; 111 IV 119 E. 4c, mit weiteren
Hinweisen). Die Auslegung kann folglich auch zu Lasten des Angeklagten vom
Wortlaut abweichen (BGE 127 IV 198 E. 3b; Stratenwerth, a.a.O.).
3.3
3.3.1Nach Ziff. 4 der fraglichen Verfügung wurde dem Beschwerdeführer
untersagt, bis zur Feststellung des THC-Gehalts die Hanfpflanzen zu
verkaufen, zu verschenken oder auf eine andere Art und Weise an Dritte
abzugeben, beziehungsweise für den Eigengebrauch zu verwenden. Dieses Verbot
ist an sich klar und hinreichend bestimmt. Es stellt sich aber die durch
Auslegung zu klärende Frage, bis zu welchem Zeitpunkt das Verbot gegolten
hat. Dazu sind neben dem Wortlaut der massgeblichen Ziff. 4 auch den sich aus
den übrigen Bestimmungen und der Begründung der Verfügung ergebende Sinn und
Zweck des Verbots in Betracht zu ziehen.

Nach dem Wortlaut von Ziff. 4 der Verfügung war das Verbot auf den Zeitpunkt
der Feststellung des THC-Gehalts beschränkt. Die Begründung der Verfügung
gibt bezüglich der Dauer des Verbots keine Anhaltspunkte. Entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers kann aus ihr auch nicht der Schluss gezogen
werden, die Verfügung habe ausschliesslich der Feststellung des THC-Gehalts
gedient. Hier wird bloss erläutert, dass aufgrund des begründeten Verdachts
einer Widerhandlung gegen das BetmG ein Strafverfahren einzuleiten sei und
dazu die erforderlichen Massnahmen, namentlich die Entnahme einer erneuten
Hanfprobe, anzuordnen seien. Aus Ziff. 3 der Verfügung und der Funktion der
angeordneten vorläufigen Beschlagnahme geht zudem hervor, dass die Verfügung
auch die Sicherung der allenfalls einzuziehenden Hanfpflanzen bezweckte.

3.3.2 Daraus kann nun aber nicht abgeleitet werden, das Verbot habe nach der
Feststellung des THC-Gehalts ohne neue Anordnung weiter gegolten. Nach Ziff.
5 der Verfügung erlässt das Bezirksamt nach der Feststellung des THC-Gehalts
die sich "allenfalls aufdrängenden weiteren Anordnungen". Diese Bestimmung
ist in Verbindung mit Ziff. 4 dahingehend zu verstehen, dass das Bezirksamt
bei Feststellung eines THC-Gehalts über dem Grenzwert die Fortsetzung der
vorläufigen Beschlagnahme beziehungsweise eine tatsächliche Beschlagnahme
anordnen würde. Aus dem Sinn und Zweck des Verbots ergibt sich somit, dass
dieses - dem Wortlaut entsprechend - bis zur Feststellung des THC-Gehalts
befristet war.

Unerheblich ist, dass die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts
des Kantons Aargau in ihrem Entscheid festgehalten hat, die Beschlagnahme sei
solange aufrecht zu halten, als die Pflanzen dem Strafverfahren dienlich sein
könnten. Die Zuständigkeit der Beschwerdeinstanz beschränkte sich auf die
Prüfung der Zulässigkeit und Verhältnismässigkeit der Beschlagnahmeverfügung.
Für den Inhalt des Verbots ist hingegen die Verfügung des Bezirksamts
massgebend.

3.3.3 Der THC-Gehalt wurde dem Polizeikommando Aargau vom Institut für
Rechtsmedizin der Universität Bern am 17. November 2000 mitgeteilt. Am 11.
Dezember 2000 erhielt das Bezirksamt Zurzach davon Kenntnis. Am 7. März 2001
wurde dem Beschwerdeführer der festgestellte THC-Gehalt von 2% eröffnet. Nach
den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz hat er erst im Juli 2001
gegen das in der Verfügung festgesetzte Verbot verstossen. Es kann folglich
offen bleiben, ob die Verfügung bis zur tatsächlichen Feststellung des
THC-Werts durch das Institut für Rechtsmedizin, dessen Kenntnisnahme durch
die Polizei bzw. das Bezirksamt oder etwa bis zur Eröffnung beim
Beschwerdeführer befristet war.
Indem der Beschwerdeführer erst nach der Feststellung des THC-Gehalts über
die Pflanzen verfügte, hat er nicht gegen das ihm mit Strafdrohung auferlegte
Verbot verstossen. Seine Verurteilung wegen Ungehorsams gegen eine amtliche
Verfügung gemäss Art. 292 StGB verletzt somit Bundesrecht.

4.
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens sind keine Kosten zu erheben, und dem Beschwerdeführer ist eine
angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 278 Abs. 2 und 3 BStP).
II. Staatsrechtliche Beschwerde

5.
Mit der Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde wird die staatsrechtliche
Beschwerde gegenstandslos. Für dieses Verfahren werden praxisgemäss weder
Kosten erhoben noch eine Entschädigung zugesprochen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 14. April 2003 aufgehoben und die Sache
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird als gegenstandslos abgeschrieben.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Beschwerdeführer wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine
Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, 2. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 24. November 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: