Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6P.80/2003
Zurück zum Index Kassationshof in Strafsachen 2003
Retour à l'indice Kassationshof in Strafsachen 2003


6P.80/2003 /kra

Urteil vom 1. Oktober 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Monn.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic.iur. Roger Seiler,
Sorenbühlweg 13, 5610 Wohlen AG,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus,
5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Art. 9, 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Strafverfahren; Willkür, Grundsatz
"in dubio pro reo"),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 1. Strafkammer,
vom 27. März 2003.

Sachverhalt:

A.
Am 11. Februar 2001 kam es nach dem Schluss einer "Ballermann-Party" in
Reinach/AG beim Verlassen des Gebäudes zu einem Gerangel zwischen mehreren
Personen. X.________ erhielt von einem ihm Unbekannten einen Schlag gegen den
Kopf, worauf er zu Boden fiel. Er rappelte sich wieder auf und ergriff ein
Messer, das er in der Hosentasche bei sich trug. Mit dem Messer stach er
zweimal auf den Rücken von Y.________ ein. Dieser wurde lebensgefährlich am
Brustfell und an der Lunge verletzt. X.________ versorgte das Messer wieder
und floh vom Tatort.

B.
Das Bezirksgericht Kulm sprach X.________ am 19. März 2002 der versuchten
vorsätzlichen Tötung gemäss Art. 111 in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB
sowie des Raufhandels gemäss Art. 133 Abs. 1 StGB schuldig und bestrafte ihn
mit vier Jahren Zuchthaus, unter Anrechnung von elf Tagen Untersuchungshaft.

X. ________ erhob Berufung und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
Anschlussberufung.

Das Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, hiess die Berufung
X.________s am 27. März 2003 teilweise gut und setzte die Strafe auf 3 ½
Jahre Zuchthaus herab. Im Übrigen wurden die Berufung und die
Anschlussberufung abgewiesen.

C.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde und beantragt, das Urteil des
Obergerichts vom 27. März 2003 sei aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Es seien ihm die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und Rechtsanwalt Roger Seiler als
unentgeltlicher Rechtsvertreter zu bestellen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Obergericht geht davon aus, dass der Beschwerdeführer um die hohe
Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Verwundung wusste, als er dem
Beschwerdegegner mit seinem Messer zwei Stiche in den Rücken versetzte
(angefochtener Entscheid S. 15). Dies ist nach Ansicht des Beschwerdeführers
willkürlich und stehe zum Beweisergebnis in einem klaren Widerspruch (vgl.
Beschwerde S. 4/5).

Davon kann nicht die Rede sein. Der Beschwerdeführer stellt selber fest,
einer der Stiche sei in den Brustraum vorgedrungen (Beschwerde S. 4). Er muss
also mit erheblicher Wucht zugestossen haben, zumal der Beschwerdegegner
nebst einem Pullover noch eine dicke Winterjacke trug (Beschwerde S. 5). Wer
aber mit erheblicher Wucht einem Menschen ein Messer in den Rücken stösst,
weiss, dass dieser an dem Stich sterben kann. Dafür reichen auch "bescheidene
anatomische Kenntnisse" aus (Beschwerde S. 5).

Nach Auffassung des Obergerichts ist es dabei unerheblich, ob der Täter in
den oberen oder unteren Bereich des Oberkörpers sticht (angefochtener
Entscheid S. 15). Diese Feststellung ist nach Auffassung des
Beschwerdeführers offensichtlich unhaltbar (vgl. Beschwerde S. 5/6).

Auch diese Rüge dringt nicht durch. Dem Spurensicherungsbericht der
Kantonspolizei Aargau ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer einen Stich
nur wenig unterhalb der Rückenmitte anbrachte (Photos der Jacke, des
Pullovers und des T-Shirts des Beschwerdegegners; KA act. 253, 255 und 259).
Dass heftige Messerstiche an dieser Stelle zu tödlichen Verletzungen führen
können, ist für jedermann, auch für den Beschwerdeführer, offensichtlich.

2.
Das Obergericht führt aus, aus der Zielstrebigkeit des Angriffs mit dem
Messer auf den Oberkörper des infolge seiner Situation wehrlosen
Beschwerdegegners und dem nüchternen Verhalten des Beschwerdeführers nach der
Tat sei zu schliessen, dass er bewusst und gezielt zugestochen habe
(angefochtener Entscheid S. 16). Der Beschwerdeführer macht geltend, das
Obergericht sei in Willkür verfallen, als es ihm vorwarf, gezielt zugestochen
zu haben (vgl. Beschwerde S. 6/7).
Was er in diesem Zusammenhang vorbringt, ist unbegründet. Da man davon
ausgehen muss, dass sich das Ereignis turbulent abspielte, ist es für die
Frage, ob der Beschwerdeführer gezielt zustach, von vornherein unbeachtlich,
dass die beiden Stiche nicht unmittelbar nebeneinander  liegen. Für sein
Zustechen hatte der Beschwerdeführer entgegen seiner Behauptung ein Motiv;
nach den Feststellungen des Obergerichts stach er zu, als er bemerkte, dass
der Beschwerdegegner und eine weitere Person einen seiner Kollegen angriffen
(angefochtener Entscheid S. 15). Dass es sich bei seinen Stichen um eine
"unbeherrschte Abwehrreaktion in der konkreten Konfliktsituation" handelte,
spricht nicht dagegen, dass er gezielt zustach. Schliesslich geht das
Obergericht tatsächlich nicht davon aus, der Beschwerdeführer habe auf das
Herz des Beschwerdegegners gezielt; dann hätte es ihn nämlich des
direktvorsätzlichen Tötungsversuchs schuldig sprechen müssen; das Gericht hat
demgegenüber zu Gunsten des Beschwerdeführers angenommen, er habe allgemein
auf den Rücken gezielt, und deshalb wurde er nur des eventualvorsätzlichen
Tötungsversuchs schuldig gesprochen (angefochtener Entscheid S. 18).

3.
Es kann offen bleiben, ob alles, was der Beschwerdeführer zur Frage des
Eventualvorsatzes vorbringt (vgl. Beschwerde S. 7 - 11), im vorliegenden
Verfahren überhaupt zulässig ist (vgl. BGE 125 IV 242 S. 252). Es ist
offensichtlich, dass derjenige, der einem anderen gezielt ungefähr in der
Mitte des Rückens mit Wucht zwei Messerstiche zufügt, weiss, dass das Opfer
sterben könnte, und dass er diesen Tod für den Fall, dass er eintritt, auch
in Kauf nimmt. Daran ändert sich nichts mehr, wenn er nachträglich
lebensrettende Sofortmassnahmen trifft oder die Polizei herbeiruft (vgl.
Beschwerde S. 9). Die Frage schliesslich, ob sich der Beschwerdeführer in
einem Ausnahmezustand befand, der ihn die Realität nicht mehr richtig
erkennen liess (vgl. Beschwerde S. 9), betrifft nicht den Eventualvorsatz,
sondern das Verschulden oder allenfalls die rechtliche Subsumtion der Tat.

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die
bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung muss in Anwendung von Art. 152
OG abgewiesen werden, weil die Rechtsbegehren offensichtlich aussichtslos
waren. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers (vgl. act. 9) ist durch
eine herabgesetzte Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 153a Abs. 1 OG).
Dem Beschwerdegegner muss keine Entschädigung zugesprochen werden, weil er
nicht zur Vernehmlassung aufgefordert wurde und deshalb vor Bundesgericht
keine Umtriebe hatte.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
und dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 1. Oktober 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: