Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6P.65/2003
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6P.65/2003 /pai

Urteil vom 26. August 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen,
Gerichtsschreiber Boog.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Thomas Ulrich,
Neuhofstrasse 25, 6340 Baar,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Marc Bieri,
Töpferstrasse 5, 6004 Luzern,
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Postfach, 6002 Luzern.

Grundsatz "in dubio pro reo", willkürliche Beweiswürdigung (Art. 32 Abs. 1
BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 9 BV),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern, II. Kammer, vom 12. Dezember 2002.

Sachverhalt:

A.
Die 1977 geborene Y.________ fuhr am frühen Morgen des 24. Januar 1997 in
Hochdorf mit ihrem Fahrrad auf einer Nebenstrasse vom Seminar Baldegg in
Richtung Abwasserreinigungsanlage (ARA) und bog nach links in die
vortrittsberechtigte Industriestrasse ein. Dabei kollidierte sie frontal mit
dem vom damals 19-jährigen X.________ gesteuerten Personenwagen, der auf der
Industriestrasse von Hochdorf in Richtung Baldegg unterwegs war. Y.________
wurde gegen die Frontscheibe und Dachkante des Personenwagens geworfen und
anschliessend nach vorn auf die Strasse geschleudert. Sie erlitt schwere
Verletzungen u.a. im Schädelbereich, die eine Schädigung der Gedächtnis- und
Sehfunktionen zur Folge hatten.

B.
Am 28. Oktober 1997 verurteilte das Amtsstatthalteramt Hochdorf X.________
wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu 2 Monaten Gefängnis, bedingt
bei einer Probezeit von 2 Jahren, und zu Fr. 1'000.-- Busse, als Zusatzstrafe
zum Urteil des Polizeirichteramtes des Kantons Zug vom 25. August 1997. Die
Strafuntersuchung gegen Y.________ wegen Nichtgewährens des Vortritts stellte
das Amtsstatthalteramt in Anwendung von Art. 66bis Abs. 1 StGB ein.

Da X.________ die Strafverfügung des Amtsstatthalteramtes nicht annahm,
wurden die Akten dem Amtsgericht Hochdorf zur Beurteilung überwiesen. Dieses
sprach X.________ am 23. April 1998 von der Anklage der fahrlässigen schweren
Körperverletzung frei. Auf Appellation von Y.________ hin bestätigte das
Obergericht des Kantons Luzern am 23. März 1999 den Freispruch.

Das Bundesgericht hiess am 2. Juni 2000 eine von Y.________ geführte
staatsrechtliche Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat, und hob den
angefochtenen Entscheid auf. Die konnexe eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde schrieb es als gegenstandslos ab.

Mit Urteil vom 6. Februar 2001 sprach das Obergericht des Kantons Luzern
X.________ erneut vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung
frei. Y.________ gelangte ein zweites Mal ans Bundesgericht, welches die von
ihr erhobene staatsrechtliche Beschwerde mit Entscheid vom 25. April 2002
wiederum guthiess und das angefochtene Urteil abermals aufhob. Die
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde schrieb es als gegenstandslos ab.
Mit Urteil vom 12. Dezember 2002 erklärte das Obergericht des Kantons Luzern
X.________ nunmehr der fahrlässigen schweren Körperverletzung, begangen durch
Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die Sicht- und Strassenverhältnisse,
schuldig und verurteilte ihn zu einem Monat Gefängnis, mit bedingtem
Strafvollzug bei einer Probezeit von zwei Jahren, und zu einer Busse von Fr.
800.--, als Zusatzstrafe zum Urteil des Polizeirichteramtes des Kantons Zug
vom 25. August 1997.

C.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde, mit der er beantragt, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das
Obergericht zurückzuweisen.

D.
Das Obergericht des Kantons Luzern beantragt in seinen Gegenbemerkungen die
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Vernehmlassungen
wurden nicht eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach den Feststellungen des Obergerichts liegt die Unfallstelle im Bereich
der Einmündung der zum Seminar Baldegg führenden vortrittsbelasteten
Nebenstrasse in die Industriestrasse. Letztere beschreibt an dieser Stelle
eine leichte Linkskurve. Sie ist bei Tageslicht auf eine Distanz von rund 140
Metern überblickbar. Der Unfall ereignete sich Ende Januar um ca. 07.00 Uhr.
Die Strasse war zu jener Zeit feucht und durchgehend künstlich beleuchtet.
Die Sicht war infolge Nebels beeinträchtigt. Die Sichtweite betrug im
Unfallzeitpunkt nach den Aussagen der Zeugen, die einige Zeit vor der Polizei
am Unfallort eintrafen und deren Darstellung das Obergericht nunmehr
grösseres Gewicht beimisst, weniger als 50 Meter. Das Obergericht schliesst
darauf, dass der Beschwerdeführer die die Strasse überquerende Geschädigte
erst sehr spät wahrgenommen hat, was sich auch aus dem Umstand ergebe, dass
sein Fahrzeug erst 13,5 Meter nach der Kollisionsstelle zum Stillstand kam.

In Bezug auf den Zustand der Strasse nimmt das Obergericht zugunsten des
Beschwerdeführers an, die Industriestrasse sei im Unfallzeitpunkt höchstens
teilweise leicht vereist gewesen und habe eine Bremsverzögerung von 6,5 m/s2
zugelassen. Hinsichtlich der vom Beschwerdeführer gefahrenen Geschwindigkeit
geht es aufgrund seiner eigenen Angaben von einer mittleren Geschwindigkeit
von 75 km/h aus.

Das Obergericht gelangt zum Schluss, der Beschwerdeführer habe seine
Geschwindigkeit auf der Industriestrasse weder den Strassen- und
Sichtverhältnissen noch seiner geringen Erfahrung als Neulenker angepasst.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro
reo" und eine willkürliche Beweiswürdigung geltend. Es sei unhaltbar, dass
das Obergericht ihn, nachdem es ihn mit Urteilen vom 23. März 1999 und vom 6.
Februar 2001 zweimal vollumfänglich von Schuld und Strafe freigesprochen
habe, nunmehr gestützt auf dieselben Beweise und ohne neue
Sachverhaltsfeststellungen der fahrlässigen schweren Körperverletzung
schuldig spreche. Im Entscheid vom 6. Februar 2001 sei das Obergericht noch
zum Schluss gelangt, an den Aussagen der durch das Amtsgericht Hochdorf
vorsorglich einvernommenen Zeugen bestünden erhebliche Zweifel. Im
angefochtenen Urteil stütze es sich aber genau auf diese zweifelhaften
Aussagen ab, ohne die Zeugen in der zweitinstanzlichen Verhandlung selbst
anzuhören.

Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet. Dass das
Obergericht im erneuten Rückweisungsverfahren die Aussagen der vom
Amtsgericht Hochdorf vorsorglich befragten Zeugen stärker berücksichtigen
musste, ergibt sich aus den Urteilen des Bundesgerichts vom 2. Juni 2000 und
vom 25. April 2002. In beiden Entscheiden hat das Bundesgericht erkannt, es
sei unhaltbar, dass das Obergericht allein auf den Polizeirapport abgestellt
und die Aussagen der Zeugen, welche Angaben zu den zeitlich wesentlich näher
beim Unfallgeschehen liegenden Sicht- und Strassenverhältnissen machen
konnten, ausser Acht gelassen habe (Urteil des Kassationshofs 6P.227/1999 vom
2. Juni 2000 E. 2b und 6P.10/2002 vom 25. April 2002 E. 2c und d). Es ist
somit nicht willkürlich, wenn das Obergericht in Übereinstimmung mit der
Auffassung des Bundesgerichts diesen Aussagen ein grösseres Gewicht beimisst.
Bei dieser Sachlage durfte es auf eine neuerliche Einvernahme der Zeugen
verzichten. Denn aufgrund der neuen Würdigung der Zeugenaussagen konnte es
zur Überzeugung gelangen, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend
abgeklärt, und eine weitere Befragung werde zur Erhellung des Sachverhalts
nichts Wesentliches mehr beitragen (BGE 124 I 208 E. 4a). Im Übrigen hatte
auch der Beschwerdeführer die erneute Vernehmung der Zeugen durch das
Obergericht als nicht notwendig erachtet und damit auf sein Fragerecht
verzichtet. Er macht denn in diesem Punkt auch zu Recht keine Verletzung
seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend.

2.2 Der Beschwerdeführer rügt im Weiteren die Annahme des Obergerichts als
willkürlich, im Unfallzeitpunkt habe eine Sichtweite von unter 50 Metern
geherrscht. Die Zeugenaussagen seien in diesem Punkt nicht verlässlich. Zudem
spreche auch das Gutachten des Instituts für Unfallrekonstruktionen für das
Vorliegen einer Sichtweite von mehr als 50 Metern.

Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet. Auch in dieser Hinsicht
entspricht das angefochtene Urteil dem Entscheid des Bundesgerichts vom 25.
April 2002. Es ist somit nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht den
Aussagen der Zeugen mehr Gewicht beimisst als dem Rapport der Polizei, die
erst geraume Zeit nach der Kollision am Unfallort eintraf. Was der
Beschwerdeführer gegen die Würdigung der Zeugenaussagen der Automobilisten
vorbringt, geht nicht über eine unzulässige appellatorische Kritik am
angefochtenen Urteil hinaus. Es kann hiefür auf das angefochtene Urteil und
die Erwägungen in den beiden Entscheiden des Bundesgerichts verwiesen werden
(Art. 36a Abs. 3 OG). Nichts anderes ergibt sich aus dem verkehrstechnischen
Gutachten. Dieses äussert sich zur Sichtweite nur insoweit, als es einen
Bericht der Meteorologischen Anstalt, Zürich, über die Sichtverhältnisse am
Unfalltag um 07.15 Uhr für den Raum Hochdorf-Baldegg einholte. Dieser Bericht
bestätigte aber lediglich, dass zur fraglichen Zeit im genannten Raum Nebel
herrschte.

2.3 Was der Beschwerdeführer weiter gegen den Schuldspruch einwendet, geht an
der Sache vorbei. Selbst wenn man annehmen wollte, die Geschädigte habe sein
Vortrittsrecht verletzt, führt dies nicht zu einer Entlastung des
Beschwerdeführers, da das Strafrecht keine Schuldkompensation kennt.

3.
Der Beschwerdeführer rügt schliesslich, dass das Obergericht unterlassen hat,
eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zu prüfen.

Das in den Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 1 BV gewährleistete
Beschleunigungsgebot ist verletzt, wenn die Strafverfolgungsbehörden das
Verfahren nicht mit der gebotenen Beförderung behandeln. Es soll verhindern,
dass ein Angeschuldigter länger als notwendig den Belastungen eines
Strafverfahrens ausgesetzt ist (BGE 124 I 139 E. 2a mit Hinweisen). Die im
Lichte von Art. 6 EMRK noch angemessene Verfahrensdauer bestimmt sich nicht
absolut, sondern ausschliesslich nach den Umständen des Einzelfalles, die in
ihrer Gesamtheit zu würdigen sind. Dabei sind insbesondere die Komplexität
des Falles, das Verhalten des Beschuldigten, die Behandlung des Falles durch
die Behörden und die Bedeutung desselben für den Beschuldigten zu
berücksichtigen (BGE 124 I 139 E. 2c S. 142).

Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet. Zwar trifft zu, dass
sich das Verfahren wegen der zweimaligen Aufhebung des kantonalen Urteils
durch das Bundesgericht insgesamt erheblich in die Länge gezogen hat. Indes
zeigt der Verfahrensgang in den einzelnen Phasen keine Zeitabschnitte, in
denen die Behörden ungebührlich lange untätig gewesen wären. Etwas anderes
wird auch vom Beschwerdeführer nicht vorgetragen. Zwar erachtet das
Bundesgericht in seinem Urteil vom 25. April 2002 zu Recht als Besorgnis
erregend, dass das Obergericht trotz drohender Verjährung für die
Ausfertigung der beiden Urteile zusammengerechnet 18 Monate benötigt hat
(Urteil des Kassationshofs 6P.10/2002 vom 25. April 2002 E. 22e a.E.). Doch
bedeutet dies für sich allein noch keine Verletzung des
Beschleunigungsgebots.

4.
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern
und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 26. August 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: