Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6P.41/2003
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6P.41/2003/kra

Urteil vom 2. September 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger,
Ersatzrichterin Brahier Franchetti,
Gerichtsschreiber Kipfer Fasciati.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Gattlen, Rämistrasse 3,
Postfach 74, 8024 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus,
5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Art. 29 BV und Art. 6 EMRK (Strafverfahren; rechtliches Gehör),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 1. Strafkammer,
vom 13. Februar 2003.

Sachverhalt:

A.
Am 20. März 2001 sprach das Bezirksgericht Brugg X.________ der mehrfachen,
teilweise versuchten sexuellen Handlungen mit Kindern (begangen zwischen
Januar 1997 und Mai 1999) schuldig und verurteilte ihn zu einer
Gefängnisstrafe von zehn Monaten. In Anwendung von Art. 43 Ziff. 1 und 2 StGB
ordnete es ausserdem eine ambulante psychotherapeutische Massnahme an und
schob den Vollzug der Strafe zu Gunsten der Massnahme auf. Sowohl die
Staatsanwaltschaft als auch X.________ erhoben Berufung gegen das Urteil.

B.
Ohne weitere Beweisverhandlung hiess das Obergericht des Kantons Aargau mit
Urteil vom 27. Februar 2002 die Berufung der Staatsanwaltschaft gut und
ordnete den Vollzug der Strafe an. Die ambulante Massnahme sei während des
Strafvollzugs durchzuführen. X.________s Berufung wies es ab. Die im
Berufungsverfahren von X.________ gestellten Beweisanträge (Stellen von
Ergänzungsfragen an den einzigen Belastungszeugen) wies es mit dem Entscheid
in der Sache ab.

C.
Auf staatsrechtliche Beschwerde von X.________ hin hob die I.
Öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts das obergerichtliche Urteil
am 6. November 2002 auf.

D.
Ohne neue Beweisverhandlung hiess das Obergericht des Kantons Aargau mit
Urteil vom 13. Februar 2003 die Berufung der Staatsanwaltschaft wiederum gut.
Die Berufung X.________s hiess es teilweise gut und wies sie im Übrigen ab.
Es sprach X.________ der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern
schuldig, verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten und
ordnete eine vollzugsbegleitende ambulante psychotherapeutische Massnahme an.

E.
X.________ erhebt staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde je mit dem Antrag, das obergerichtliche Urteil vom 13.
Februar 2003 sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das
Obergericht zurückzuweisen.

F.
Mit seinen Gegenbemerkungen vom 14. April 2003 beantragt das Obergericht die
Abweisung der Beschwerde.

Die Staatsanwaltschaft erklärte am 14. August 2003 ihren Verzicht auf
Vernehmlassung.

G.
X.________ leistete innert der vom Bundesgericht gesetzten Frist bis zum 28.
April 2003 den Kostenvorschuss nur für eine der beiden Beschwerden. Darauf
aufmerksam gemacht, stellte Rechtsanwalt Gattlen am 25. Juli 2003 ein Gesuch
um Wiederherstellung der Zahlungsfrist für den zweiten Kostenvorschuss,
welches der Präsident des Kassationshofes am 30. Juli 2003 guthiess. Der
zweite Kostenvorschuss wurde am 5. August 2003 geleistet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der bei ihm eingereichten
Beschwerden von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 127 I 92 E. 1; 127
II 198 E. 2 mit Hinweisen).

Das angefochtene Urteil ist kantonal letztinstanzlich ergangen (Art. 86 Abs.
1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch den Schuldspruch und die daran
geknüpften Sanktionen in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt und
damit legitimiert (Art. 88 OG), eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte
(Art. 84 Abs. 1 lit. b OG) geltend zu machen. Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen
Anlass, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe seine grundrechtlichen
Ansprüche auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und ein faires Verfahren
(Art. 6 EMRK) verletzt, weil es ihn zu entscheidwesentlichen Fragen nicht
angehört habe. Das begründete Urteil des Bundesgerichts, mit welchem das
erste obergerichtliche Urteil in seiner Sache aufgehoben worden sei, habe er
am 22. Januar 2003 erhalten. Bereits am 13. Februar 2003 habe das Obergericht
neu entschieden, ohne ihn allerdings zu den Resultaten und Schlussfolgerungen
des bundesgerichtlichen Urteils zu befragen. Zwischen dem ersten
obergerichtlichen Urteil vom 27. Februar 2002 und dem zweiten Urteil vom 13.
Februar 2003 sei fast ein Jahr vergangen. Dem letztinstanzlichen Urteil eines
Sachrichters müsse der Sachverhalt zu Grunde gelegt werden, wie er sich kurz
vor Urteilsfällung darstelle, zumal wenn die persönlichen Verhältnisse eines
Angeklagten in Frage ständen. In seinem Fall wären die aktuellen persönlichen
Verhältnisse von Bedeutung gewesen, weil über den formell zulässigen
bedingten Strafvollzug zu entscheiden gewesen sei. Wenn ihm das Obergericht
keine Gelegenheit gebe, die seit dem ersten Urteil veränderten persönlichen
Verhältnisse geltend zu machen, verletze es seinen Anspruch auf rechtliches
Gehör. Er habe im April oder Mai 2002 freiwillig eine psychotherapeutische
Behandlung aufgenommen. Diesen Umstand könne er mit der ebenfalls anhängig
gemachten Nichtigkeitsbeschwerde mangels Novenrecht nicht vorbringen. Das
Obergericht habe mit seinem Vorgehen deshalb auch das Fairnessgebot verletzt.

2.2 Das Obergericht hält die Beschwerde für unbegründet. Der Beschwerdeführer
habe im Rahmen des Berufungsverfahrens, welches dem ersten Urteil des
Bundesgerichts vorangegangen sei, genügend Gelegenheit gehabt, sich zu den
Voraussetzungen des bedingten Strafvollzugs und des Strafaufschubs zu
äussern. Eine Verhandlung vor Obergericht sei weder vorgeschrieben noch nötig
gewesen. Die Aufhebung eines Urteils durch das Bundesgericht begründe in der
Regel keinen neuen Schriftenwechsel.

2.3
2.3.1Der in Art. 29 Abs. 2 BV bzw. Art. 6 Ziff. 3 EMRK verankerte Anspruch
auf rechtliches Gehör bildet einen wichtigen und deshalb eigens aufgeführten
Teilaspekt des allgemeineren, auf Grund von Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6
Ziff. 1 EMRK geltenden Grundsatzes der Verfahrensfairness (vgl. BGE 129 I 85
E. 4.1, mit Hinweisen).

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Rüge, er wäre vom Obergericht erneut zu
befragen gewesen, beschränkt sich auf den Teilaspekt der Gehörsverweigerung.
Auf die Prüfung einer allfälligen Verletzung des Fairnessgebotes im weiteren
Sinn kann demnach verzichtet werden, zumal eine solche auch nicht
substantiiert ist.

Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV hat unter anderen der Angeklagte in einem
Strafverfahren Anspruch auf rechtliches Gehör. Das rechtliche Gehör dient
einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein
persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar,
welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört
insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine
Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern und an der
Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum
Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu
beeinflussen (BGE 127 I 54 E. 2b; 124 I 241 E. 2, je mit Hinweisen).

2.3.2 Nach Aufhebung des ersten obergerichtlichen Urteils durch das
Bundesgericht hatte das Obergericht in der Sache neu zu entscheiden. Das
Obergericht selbst hält einleitend fest, dass der neue Entscheid den Schuld-
und den Strafpunkt, die Strafzumessung, die Frage der Gewährung des bedingten
Vollzugs und den Strafaufschub zu Gunsten einer ambulanten
psychotherapeutischen Massnahme betreffe. Im Verfahren der staatsrechtlichen
Beschwerde ist vor Bundesgericht allein streitig, ob das Obergericht den
Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Verhältnissen neu hätte befragen bzw.
ihm die Gelegenheit hätte geben müssen, sich dazu zu äussern.

2.3.3 Zunächst ist zu prüfen, ob der Beschwerdeführer nach der Aufhebung des
ersten Obergerichtsurteils nicht selbst hätte aktiv werden und eine erneute
Beweisverhandlung ausdrücklich hätte verlangen müssen.

Gemäss § 222 StPO/AG wird in Fällen wie dem vorliegend zu beurteilenden eine
Beweisverhandlung auf Antrag einer der Parteien oder von Amtes wegen
durchgeführt. Das Obergericht hatte sein erstes Urteil ohne Parteiverhandlung
gefällt. Das rechtliche Gehör wurde dem Beschwerdeführer vorgängig gewährt.
Es scheint überdies aargauischer Obergerichtspraxis zu entsprechen, auch ein
zweites Berufungsurteil ohne Parteiverhandlung zu fällen, wenn das erste,
ebenfalls ohne Parteiverhandlung gefällte Urteil vom Bundesgericht aufgehoben
wird. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer durfte deshalb nicht damit
rechnen, dass das Obergericht ohne entsprechendes Begehren seinerseits und
damit von Amtes wegen eine Beweisverhandlung ansetzen würde.

Die Frage, unter welchen Umständen nach kantonalem Prozessrecht eine
Parteiverhandlung durchgeführt werden muss, ist jedoch nicht von
entscheidender Bedeutung, da der verfassungsrechtliche Anspruch auf
rechtliches Gehör den kantonalen Prozessordnungen vorgeht und das  rechtliche
Gehör überdies auch schriftlich hätte gewährt werden können. Es ist deshalb
zu prüfen, ob sich der Beschwerdeführer hätte vernehmen lassen müssen,
nachdem ihm das begründete Bundesgerichtsurteil zugegangen war, oder ob er
damit rechnen durfte, dass ihn das Obergericht über die Fortsetzung des
Verfahrens informieren würde.

2.3.4 Der Hauptantrag des Beschwerdeführers im Berufungsverfahren ging dahin,
die Sache sei zur weiteren Durchführung der Untersuchung an die
Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Dort sollte er Gelegenheit erhalten, dem
einzigen Belastungszeugen in denjenigen Fällen Ergänzungsfragen zu stellen
bzw. stellen zu lassen, die er, im Unterschied zu anderen Fällen, stets
bestritten hatte. Der Eventualantrag lautete auf Einvernahme des
Belastungszeugen durch das Gericht in geeigneter Form und die anschliessend
der Verteidigung zu gewährende Möglichkeit, weitere Beweisanträge zu stellen.
Subeventuell beantragte er einen Schuldspruch (sinngemäss: für die
unbestrittenen Fälle) und seine Bestrafung mit sechs Monaten Gefängnis
bedingt. Nachdem das Obergericht die Berufung vollumfänglich abgewiesen
hatte, hob das Bundesgericht den Entscheid wegen Verweigerung des
Konfrontationsrechts auf. Damit lag die Verfahrensherrschaft wieder beim
Obergericht; die Fortsetzung des Verfahrens war wieder offen.

Vor diesem Hintergrund musste der Beschwerdeführer nicht davon ausgehen, dass
ihn das Obergericht über den weiteren Verlauf des Verfahrens nicht
informieren würde und er deshalb, wenn er es formell nicht von sich aus
beantragen würde, in der Folge keine Gelegenheit mehr erhielte, sich zur
Fortsetzung des Verfahrens, zur Sache und zu seinen persönlichen
Verhältnissen zu äussern. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil das
Obergericht nur drei Wochen nach Mitteilung des begründeten
Bundesgerichtsurteils und damit sehr kurzfristig neu entschied.

Das Obergericht nahm für sein zweites Urteil einen Hinweis des Bundesgerichts
auf und stellte sich auf den Standpunkt, die nachträgliche Befragung des
kindlichen Zeugen sei nicht mehr sinnvoll, und es sprach den Beschwerdeführer
in den bestrittenen Fällen frei. Mit dem Urteil in der Sache war auch über
das Strafmass und den bedingten Vollzug neu zu entscheiden. Das Obergericht
stellte dabei auf die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers ab, die
in der Hauptsache anlässlich der letzten, bereits zwei Jahre zurückliegenden
Beweisverhandlung vor Bezirksgericht und teilweise im ersten
Berufungsverfahren erhoben worden waren. Ein Urteil auf dieser
Beweisgrundlage wäre jedoch nur zulässig gewesen, wenn der Beschwerdeführer
wenigstens gewusst hätte, dass in der Sache neu entschieden wird. Nur so
hätte er überhaupt die Möglichkeit gehabt, seine veränderten persönlichen
Verhältnissen zur Geltung zu bringen. Dabei hätte sich gezeigt, dass er seit
knapp einem Jahr aus eigenem Antrieb eine Psychotherapie absolviert. Dieser
Umstand und die Würdigung des Verlaufs dieser Therapie ist geeignet, den
Entscheid über den bedingten Strafvollzug zu beeinflussen. Indem das
Obergericht in der Sache neu entschied, ohne den Beschwerdeführer vorgängig
darüber zu informieren, verletzte es dessen Anspruch auf rechtliches Gehör.

2.3.5 Die Frage, unter welchen Umständen bei vorliegender Konstellation das
rechtliche Gehör zu gewähren ist, braucht indessen nicht abschliessend
beantwortet zu werden, da die Beschwerde auch von Bundesrechts wegen
gutzuheissen wäre. Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts sind bei der
Prognosestellung, die für den Entscheid über den bedingten Strafvollzug
entscheidend ist, die persönlichen Verhältnisse bis zum Zeitpunkt des
Entscheides zu berücksichtigen (BGE 128 IV 193 E. 3a; vgl. auch Entscheid
6S.258/1997 vom 15. Dezember 1997; Roland M. Schneider, Basler Kommentar zum
Strafgesetzbuch, N 73 zu Art. 41). Zwischen der letzten Beweiserhebung zu den
persönlichen Verhältnissen im Rahmen einer Parteiverhandlung und dem zweiten
Obergerichtsentscheid sind knapp zwei Jahre vergangen; zwischen dem ersten
und dem zweiten Obergerichtsurteil liegt ein Jahr. Die Entscheidgrundlagen
genügen den vom Bundesgericht aufgestellten Anforderungen bei der Anwendung
von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB somit nicht.

2.3.6 Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen, und das angefochtene Urteil
ist aufzuheben.

3.
Bei diesem Ausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG), und der
Kanton Aargau ist verpflichtet, den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 2. September 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: