Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6P.29/2003
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6P.29/2003 kra

Urteil vom 7. August 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiberin Giovannone.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Erich Giesser, Effingerstrasse
16, Postfach 6417, 3001 Bern,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern,
Postfach 7475, 3001 Bern,
Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, Postfach 7475, 3001 Bern.

Art. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK, Art. 14 Abs. 1 und 3
UNO-Pakt II (Strafverfahren; Prinzip der Waffengleichheit),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Bern, 1. Strafkammer, vom 21. November 2002.

Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde am 11. Februar 1999 zu einer Freiheitsstrafe von 38 Monaten
verurteilt, deren Vollzug das Gericht jedoch zugunsten einer stationären
Behandlung für Drogensüchtige aufschob. Am 20. Januar 2000 wurde er bedingt
aus dem Vollzug der stationären Behandlung entlassen. Die Entscheidung über
den Vollzug der aufgeschobenen Strafe schob das Gericht bis zum Ablauf der
Probezeit auf.

Am 18. September 2001 verurteilte die 2. Strafkammer des Obergerichts des
Kantons Bern X.________ zweitinstanzlich erneut wegen - teilweise
qualifizierten - Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz, begangen
in der Zeit von Oktober 1999 bis 9. April 2001, zu 17 Monaten Gefängnis. Am
28. Dezember 2001 schied das Obergericht für die Delikte, die er in der
Probezeit begangen hatte, eine Strafquote von 16 Monaten aus.

B.
Am 5. Februar 2002 ersuchte die Polizei- und Militärdirektion des Kantons
Bern das Gericht, über den nachträglichen Vollzug der Freiheitsstrafe gemäss
Urteil vom 11. Februar 1999 zu entscheiden, und beantragte zu prüfen, ob eine
allfällige Reststrafe zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschoben
werden könne.

Am 22. August 2002 erkannte das Kreisgericht VIII Bern-Laupen gestützt auf
Art. 45 Ziff. 3 StGB, die Reststrafe von 282 Tagen Gefängnis gemäss Urteil
vom 11. Februar 1999 sei zu vollziehen; es schob jedoch den Vollzug zugunsten
der Anordnung einer ambulanten psychotherapeutischen Massnahme auf.

Auf Appellation des Generalprokurators des Kantons Bern erkannte das
Obergericht des Kantons Bern, dass die Reststrafe von 282 Tagen Gefängnis
gemäss Urteil vom 11. Februar 1999 zu vollziehen sei. Den Antrag um Aufschub
des Vollzugs zugunsten einer ambulanten Massnahme wies es ab.

C.
Dieses Urteil ficht X.________ sowohl mit staatsrechtlicher als auch mit
eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde an. Mit staatsrechtlicher Beschwerde
beantragt er die Aufhebung des angefochtenen Urteils. Ausserdem ersucht er um
die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerde richtet sich zunächst dagegen, dass die Staatsanwaltschaft im
obergerichtlichen Verfahren ein Rechtsgutachten eingeholt hat. Ob sie dazu
befugt war, ist keine Frage des Bundesverfassungsrechts und kann nicht im
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde beurteilt werden. Insofern ist auf
die Beschwerde nicht einzutreten (Art. 84 Abs. 1 OG).

2.
Der Beschwerdeführer wendet sich sodann dagegen, dass die 1. Strafkammer des
Obergerichts das von der Staatsanwaltschaft eingereichte Rechtsgutachten mit
Beschluss vom 23. Oktober 2002 zu den Akten erkannt hat (act. 203). Er habe
beantragt, dieser Beschluss sei aufzuheben, das von der Staatsanwaltschaft
eingereichte Rechtsgutachten sei aus den Akten zu weisen, oder es seien ihm
die Mittel zur Verfügung zu stellen, um seinerseits ebenfalls die
Expertenmeinung eines Strafrechtsprofessors einzuholen, und es sei ihm die
Möglichkeit einzuräumen, das Gutachten in das Verfahren einzubringen. Das
Obergericht habe diese Anträge abgewiesen, bzw. es sei darauf nicht
eingetreten. Dadurch habe es das Gebot der Waffengleichheit und den Anspruch
des Beschwerdeführers auf wirksame Verteidigung verletzt.

In der Tat hat der Beschwerdeführer mit der Eingabe vom 31. Oktober 2002 die
genannten Anträge gestellt (act. 221). Mit Beschluss vom 5. November 2002
wies die 1. Strafkammer des Obergerichts die Anträge, der Beschluss vom 23.
Oktober 2002 sei aufzuheben und das Gutachten sei aus den Akten zu weisen,
ab. Auf den Antrag des Beschwerdeführers, es seien ihm die Mittel zur
Verfügung zu stellen, um seinerseits ebenfalls die Expertenmeinung eines
Strafrechtsprofessors einzuholen, und es sei ihm die Möglichkeit einzuräumen,
das Gutachten in das Verfahren einzubringen, trat das Obergericht mit dem
selben Beschluss nicht ein (act. 231 ff.).
Zur obergerichtlichen Verhandlung reichte der Beschwerdeführer seinen
Parteivortrag schriftlich ein (act. 239 ff.). Darin verzichtete er
ausdrücklich darauf, seine oben genannten Anträge erneut zu stellen (act.
241); dies obwohl gemäss der anwendbaren Prozessordnung abgewiesene
Beweisanträge der Parteien an der Hauptverhandlung wiederholt werden können
(Art. 343 i.V.m. Art. 281 Abs. 3 StrV/BE). Der Abweisungs- bzw.
Nichteintretensentscheid bezüglich der Anträge des Beschwerdeführers ist
somit nicht Inhalt des obergerichtlichen Urteils.

Aufgrund der vorliegenden Beschwerde ist allein der obergerichtliche
Endentscheid Gegenstand der Beurteilung. Da sich die in der Beschwerde
erhobenen Rügen in der Sache nicht gegen diesen Entscheid richten, kann
darauf nicht eingetreten werden.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen. Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung ist abzuweisen, da seine Anträge als von Anfang an
aussichtslos zu bezeichnen sind (Art. 152 Abs. 1 und 2 OG). Seinen
finanziellen Verhältnissen ist mit einer reduzierten Gerichtsgebühr Rechnung
zu tragen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Generalprokurator des Kantons
Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 7. August 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: