Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6P.113/2003
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6P.113/2003 /kra

Urteil vom 22. Oktober 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiber Monn.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Josephsohn,
Lutherstrasse 4, Postfach, 8021 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich,
Kassationsgericht des Kantons Zürich, Postfach 4875, 8022 Zürich.

Art. 9 und 29 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK (Strafverfahren;
Willkür, rechtliches Gehör),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom

19. Juni 2003.

Sachverhalt:

A.
Im Dezember 1998 besuchte X.________ in Zürich eine Prostituierte in ihrem
Zimmer. Sie vereinbarten Geschlechtsverkehr, den er im Voraus bezahlte. Nach
wenigen Minuten beendete die Frau den Verkehr, obwohl X.________ noch nicht
zum Orgasmus gekommen war. Auch war sie nicht bereit, den Verkehr nochmals
aufzunehmen. X.________ geriet in Wut, behändigte ein sich am Tatort
befindendes grosses Küchenmesser und stach der Prostituierten damit drei Mal
in den Rücken und ein Mal in die linke Brust. In der Folge vollzog er an der
zusammengesunken auf dem Boden liegenden Frau, die er zu diesem Zweck wieder
aufs Bett legte, den Geschlechtsverkehr. Dabei wusste er oder nahm er
jedenfalls an, dass sie bereits tot war.

Ebenfalls im Dezember 1998 verletzte X.________ in Zürich einen homosexuellen
Passanten, der ihn zuvor "begrapscht" hatte, mit der Faust und mit einem
Messer, um ihn zu berauben. Die Tat misslang nur deshalb, weil der Passant
kein Geld bei sich hatte.

B.
Das Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, sprach X.________ am 19.
November 2001 des Mordes im Sinne von Art. 112 StGB, des versuchten Raubes im
Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 StGB
sowie der Störung des Totenfriedens im Sinne von Art. 262 Ziff. 1 Abs. 3 und
4 StGB schuldig und bestrafte ihn mit 13 Jahren Zuchthaus, abzüglich 1072
Tage erstandener Haft, sowie mit einer unbedingten Landesverweisung von 12
Jahren.

C.
Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies am 28. November 2002 eine von
X.________ gegen den obergerichtlichen Entscheid gerichtete kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit auf sie eingetreten werden konnte.

Dagegen führte X.________ beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde.
Das Bundesgericht hiess diese Beschwerde am 20. März 2003 teilweise gut und
hob den Beschluss des Kassationsgerichts insoweit auf (Urteil 6P.6/2003).

D.
Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde am 19. Juni 2003
erneut ab, soweit auf sie eingetreten werden konnte.

X. ________ führt staatsrechtliche Beschwerde und beantragt, der Beschluss
des Kassationsgerichts vom 19. Juni 2003 sei aufzuheben und die Sache an das
Kassationsgericht zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Es sei ihm die
unentgeltliche Prozessführung zu gewähren und in der Person von Rechtsanwalt
Andreas Josephsohn ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bestellen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 20. März 2003 hob das Bundesgericht den früheren Entscheid des
Kassationsgerichts vom 28. November 2002 nur in einem Punkt auf. Das
Kassationsgericht hatte bei der Frage, ob das Anklageprinzip verletzt worden
sei, festgestellt, das Obergericht sei nicht von einer sexuell motivierten
Tötung ausgegangen, sondern habe angenommen, der Beschwerdeführer habe aus
Wut über die vom Opfer angeblich nicht eingehaltene Vereinbarung gehandelt.
Dabei führte das Kassationsgericht an anderer Stelle selber ausdrücklich aus,
dass das Obergericht erwogen habe, "der Beschwerdeführer sei zum Schluss
gekommen, sein Recht auf den noch nicht erlebten, ihm eigentlich zustehenden
Orgasmus unter allen Umständen durchzusetzen, notfalls auch mit einer toten
Frau". Mit dieser Formulierung ging das Obergericht nach Auffassung des
Bundesgerichts klar und eindeutig davon aus, dass der Beschwerdeführer die
Frau aus sexuellen Motiven niedergestochen habe. Folglich war die
Feststellung des Kassationsgerichts, das Obergericht sei davon ausgegangen,
der Beschwerdeführer habe nicht aus sexuellen Motiven, sondern aus Wut über
die nicht eingehaltene Vereinbarung gehandelt, offensichtlich unhaltbar
(Urteil 6P.6/2003 vom 20. März 2003, E. 3).

Das Kassationsgericht führt im neuen Entscheid vom 19. Juni 2003 aus, aus den
verbindlichen Erwägungen des Bundesgerichts vom 20. März 2003 ergebe sich
nicht, dass die Annahme des Obergerichts, der Beschwerdeführer habe auf das
Opfer eingestochen und es getötet, um zu einem Orgasmus zu gelangen,
willkürlich wäre. Der Beschwerdeführer habe selber zugestanden, dass er nach
der Tötungshandlung mit dem Opfer den Geschlechtsakt vollzogen habe und dabei
zu einem Orgasmus gelangt sei. Er sei wütend geworden, weil er seiner
Auffassung nach noch nicht in den Genuss der Gegenleistung für sein Geld -
nämlich einen Orgasmus - gekommen sei. Um seinen vermeintlichen Anspruch auf
einen Orgasmus durchzusetzen - worin das Bundesgericht ein sexuelles Motiv
erblicke - sei dem Beschwerdeführer offenbar jedes Mittel recht gewesen. Dass
ihm die Tötungshandlung als solche sexuelle Befriedigung verschafft hätte -
was eine abartige Veranlagung darstellen würde - , sei dem Beschwerdeführer
im Einklang mit dem psychiatrischen Gutachten allerdings nicht vorgeworfen
worden. Wenn dem Beschwerdeführer aber nicht vorgeworfen worden sei, die
Tötungshandlung als solche habe ihm sexuelle Befriedigung verschafft - was
den Vorwurf der Abartigkeit einschliessen würde -, erweise sich die Annahme
des Obergerichts, der Beschwerdeführer habe unter anderem aus sexuellen
Motiven gehandelt, als vertretbar (angefochtener Entscheid S. 5/6).

Der Beschwerdeführer bestreitet in seiner neuen staatsrechtlichen Beschwerde,
schon im Zeitpunkt der Tötungshandlung die Absicht gehabt zu haben, nachher
mit dem Opfer den Geschlechtsverkehr zu vollziehen (vgl. Beschwerde S. 5 -
9).

Die Beschwerde wäre in diesem Punkt nur gutzuheissen, wenn dem
Kassationsgericht Willkür vorgeworfen werden könnte. Willkür liegt vor, wenn
der angefochtene Entscheid in dem vom Beschwerdeführer bemängelten Punkt
offensichtlich unhaltbar ist oder zur tatsächlichen Situation in einem klaren
Widerspruch steht (BGE 127 I 54 E. 2b). Diese Voraussetzung ist nicht
erfüllt. Der Beschwerdeführer hat ausgesagt, dass er das Messer behändigte
und damit auf das Opfer einstach, weil er entrüstet war, dass das Opfer den
Geschlechtsverkehr mit ihm nicht noch einmal aufnehmen wollte (Urteil
Obergericht vom 19. November 2001, S. 8), obwohl er seinen eigenen Aussagen
zufolge nach dem ersten missglückten Geschlechtsverkehr sexuell immer noch
erregt war (KA ND act. 1/10/9 S. 10). Es ist folglich nicht unwahrscheinlich,
dass der sexuell immer noch erregte - und überdies stark alkoholisierte -
Beschwerdeführer auch deshalb auf die Frau einstach, um anschliessend an der
Wehrlosen den ihm vorenthaltenen Geschlechtsverkehr vollziehen zu können.
Dieser Schlussfolgerung stehen die Ausführungen des psychiatrischen
Gutachters, auf die sich der Beschwerdeführer zur Hauptsache bezieht, nicht
entgegen. Gemäss dem Gutachter wurde dem Beschwerdeführer "im Anschluss an
die Tat und nach Abfuhr von Erregtheit und Aggressivität" voll bewusst, was
er aus einem nichtigen Anlass heraus angerichtet hatte, und aus Wut über die
Frau, die ihn zu einer Handlung veranlasst hatte, die nun seine Lebenszukunft
zerstören würde, beging er die sexuelle Handlung an der Toten (vgl.
Gutachten, KA HD act. 1/9, S. 31/32). Diese Ausführungen des Gutachters
beziehen sich auf die Zeit, nachdem der Beschwerdeführer zugestochen hatte
und Erregtheit und Aggressivität zunächst plötzlich abgeklungen waren. Zur
Frage, aus welchem Grund der Beschwerdeführer ursprünglich zugestochen hatte,
als er noch erregt und aggressiv war, sagen die Ausführungen nichts aus.
Folglich vermögen sie die Schlussfolgerung der kantonalen Richter, der
Beschwerdeführer habe zugestochen, um den Geschlechtsverkehr vollziehen zu
können, nicht zu widerlegen. Die Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, das Anklageprinzip sei verletzt worden,
da eine Absicht, nach der Tat zu einem Orgasmus zu kommen, in der
Anklageschrift nicht "aufscheine" (vgl. Beschwerde S. 9/10).

Der Anklagegrundsatz dient dem Schutz der Verteidigungsrechte des Angeklagten
und konkretisiert insofern das Prinzip der Gehörsgewährung (Art. 29 Abs. 2 BV
und Art. 6 EMRK; BGE 120 IV 348 E. 2b). Nach diesem Grundsatz bestimmt die
Anklage das Prozessthema. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens können
mithin nur Sachverhalte sein, die dem Angeklagten in der Anklageschrift
vorgeworfen werden. Diese muss nebst der Person des Angeklagten die ihm zur
Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise umschreiben, dass die
Vorwürfe im objektiven und subjektiven Bereich genügend konkretisiert sind
(vgl. BGE 126 I 19 E. 2a; 120 IV 348 E. 2b und c).

Die Anklage gegen den Beschwerdeführer hält fest, dieser habe auf die
Prostituierte eingestochen, weil sie den vereinbarten, durch ihn bereits im
voraus bezahlten Geschlechtsverkehr schon nach wenigen Minuten und aus seiner
Sicht vorzeitig beendet hatte, obwohl er noch nicht zum Orgasmus gekommen
war, und weil er sich darüber entrüstete, dass sie den Geschlechtsverkehr mit
ihm nicht noch einmal aufnehmen wollte. In der Folge habe er den
Geschlechtsverkehr an der zusammengesunkenen Frau vollzogen, um doch noch zu
dem Orgasmus zu kommen, auf den er Anspruch zu haben glaubte (vgl. Urteil
Obergericht vom 19. November 2001, S. 3).

Aus diesen Ausführungen ist klar ersichtlich, dass die Anklage davon ausging,
der Beschwerdeführer habe aus sexuellen Motiven zugestochen. Von einer
Verletzung des Anklagegrundsatzes kann nicht die Rede sein.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der
Beschwerdeführer die bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1
OG).

Er stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Dieses ist gutzuheissen, weil die Vorbringen des Beschwerdeführers nicht von
vornherein aussichtslos waren.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Der Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Andreas Josephsohn, wird
für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr.
2'000.-- entschädigt.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich und dem Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Oktober 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: