Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.6/2003
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6A.6/2003 /kra

Urteil vom 2. Mai 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Ersatzrichterin Romy,
Gerichtsschreiber Monn.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Dr. Walter Heuberger,
Splügenstrasse 12, 8002 Zürich,

gegen

Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Abteilung IV,
Unterstrasse 28, 9001 St. Gallen.

Entzug des Führerausweises für die Dauer von einem Monat,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Abteilung IV, vom 4.
Dezember 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 5. Januar 2001 überschritt X.________ die zulässige Höchstgeschwindigkeit
von 50 km/h innerorts um 18 km/h. Mit Verfügung vom 27. Juni 2002 entzog ihr
das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen den
Führerausweis für die Dauer eines Monats. Mit Entscheid vom 4. Dezember 2002
wies die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen den von
X.________ eingereichten Rekurs mit der Begründung ab, dass gegen sie bereits
am 6. September 1999 eine Verwarnung wegen Nichtbeachtung des Vortritts
ausgesprochen worden sei.

B.
X.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
der Verwaltungsrekurskommission aufzuheben und eine Verwarnung auszusprechen.

Die Verwaltungsrekurskommission verzichtet auf Vernehmlassung, beantragt
jedoch die Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerdeführerin bringt vor, dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung
innerorts um 18 km/h objektiv einen leichten Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2
Satz 2 SVG darstelle, in welchem die Behörde eine Verwarnung aussprechen
soll. Gestützt auf BGE 128 II 86 ff. macht die Beschwerdeführerin geltend,
dass die erneute leichte Verkehrsregelverletzung mehr als ein Jahr nach der
ersten Verwarnung begangen und keine Umstände festgestellt worden seien, die
das Verschulden der Beschwerdeführerin als schwerer erscheinen lassen können.
Deshalb sei nur eine Verwarnung angemessen.

1.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stellt eine Überschreitung
der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 18 km/h objektiv einen
leichten Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG dar, der zu einer
Verwarnung führt (BGE 128 II 86). Die konkreten Umstände (ungünstige
Verkehrsverhältnisse, schlechter automobilistischer Leumund) können es
dennoch rechtfertigen, den Fall als schwerwiegender einzustufen, so dass er
zu einem Führerausweisentzug führt (vgl. BGE 126 II 196 E. 2c; 124 II 475 E.
2a). Die Vorinstanz hat festgestellt, dass über die genaueren Umstände der
Geschwindigkeitsüberschreitung keine Angaben vorhanden sind, die das
Verschulden der Beschwerdeführerin in subjektiver Sicht als besonders leicht
oder als schwerer erscheinen lassen könnten.

1.2 Es stellt sich deshalb nur die Frage, ob der Leumund der
Beschwerdeführerin als Automobilistin mit einer Verwarnung vereinbar ist
(Art. 31 Abs. 2 VZV). Gegen die Beschwerdeführerin wurde am 6. September 1999
eine Verwarnung wegen Nichtbeachtung des Vortritts ausgesprochen. Gemäss BGE
128 II 86 ist dann, wenn ein Führer innerhalb eines Jahres nach einer
Verwarnung eine Verkehrsregelverletzung begeht, eine erneute Verwarnung
grundsätzlich ausgeschlossen, selbst wenn die neue Verkehrsregelverletzung im
Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG objektiv als leicht gewichtet werden
kann; e contrario ergibt sich, dass eine Verwarnung wegen einer erneuten
leichten Verkehrsregelverletzung möglich ist, wenn seit der Verwarnung mehr
als ein Jahr vergangen ist.

Die Beschwerdeführerin beging die erneute Verkehrsregelverletzung 16 Monate,
nachdem sie verwarnt worden war. Die Vorinstanz hat das oben erwähnte Urteil
des Bundesgerichts nicht übersehen. Sie zieht aber in Betracht, dass es im
Ermessen der verfügenden Behörde liege zu entscheiden, ob die erste
Verwarnung ihren Sinn und Zweck erreicht habe oder ob die neue
Verkehrsregelverletzung gerade zeige, dass die Verwarnung nicht gewirkt habe
und nun ein Ausweisentzug angezeigt sei. Es müsse folglich nicht zwingend in
sämtlichen Fällen mit leichtem Verschulden, bei denen seit der letzten
Verwarnung mehr als ein Jahr vergangen sei, erneut bloss eine Verwarnung
ausgesprochen werden. Die Vorinstanz verweist dazu noch auf die Teilrevision
des Strassenverkehrsgesetzes vom 14. Dezember 2001 und dessen neuen Art. 16a
Abs. 2 und 3 SVG, der vorsieht, dass in leichten Fällen auf einen
Führerausweisentzug nur verzichtet werden kann, wenn dem fehlbaren
Fahrzeuglenker in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht entzogen
worden war und keine andere Administrativmassnahme verfügt wurde (AS 2002
2770). Gemäss der Vorinstanz erscheint es deshalb im Hinblick auf die
künftige Gesetzesänderung vertretbar, auch unter geltendem Recht im Regelfall
davon auszugehen, dass eine Verwarnung ihren Zweck nicht erreicht habe, wenn
innerhalb von zwei Jahren eine weitere Verkehrsregelverletzung begangen
werde.

Damit verletzt die Vorinstanz Bundesrecht. In BGE 128 II 86 hat das
Bundesgericht ausdrücklich die längere Frist von zwei Jahren, die in der
Teilrevision des SVG vorgesehen ist, abgelehnt. Es stellte fest, dass unter
dem anwendbaren Recht diese längere Frist nicht gilt, da sie eine
Verschärfung in Bezug auf Wiederholungstäter bedeutet. Für vor dem
Inkrafttreten des neuen Art. 16a SVG begangene Widerhandlungen gegen die
Strassenverkehrsvorschriften gilt deshalb die Regel, dass eine Verwarnung
wegen erneuter leichter Verkehrsregelverletzung möglich ist, wenn seit der
Verwarnung mehr als ein Jahr vergangen ist. In Anwendung dieser
Rechtsprechung kann deshalb ein Führerausweisentzug wegen erneuter leichter
Verkehrsregelverletzung nur in Betracht gezogen werden, wenn besondere
Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, den Fall als schwerwiegender
einzustufen. Die Vorinstanz konnte deshalb nicht ohne weiteres annehmen, die
neue Widerhandlung gegen das SVG zeige, dass die Verwarnung von 1999 ihren
Sinn und Zweck nicht erfüllt habe. Der angefochtene Entscheid weist auf keine
besonderen Umstände hin, die es rechtfertigen, den Fall als schwerwiegender
einzustufen.

Insbesondere ergeben sich aus dem angefochtenen Entscheid keine Hinweise,
dass eine neue Verwarnung mit dem Vorleben der Beschwerdeführerin nicht
vereinbar wäre (Art. 31 Abs. 2 VZV). Die Vorinstanz hat zwar vorgebracht, das
Register beweise nicht, dass die Beschwerdeführerin seit dem Erwerb des
Führerausweises im Jahr 1985 keine Verkehrsregelverletzung begangen habe,
sondern lediglich, dass gegen sie bis fünf Jahre vor der Verwarnung im Jahr
1999 keine Administrativmassnahme verfügt worden sei. Diese Überlegung ist
jedoch offensichtlich verfehlt. Der automobilistische Leumund gilt als
ungetrübt, solange keine Einträge im Register vorhanden oder anderweitige
Verkehrsregelverletzungen bekannt sind.

2.
Nach dem Gesagten wäre ein Führerausweisentzug nur aufgrund von anderen
besonderen Umständen gerechtfertigt. Da die Vorinstanz keine solchen Umstände
festgestellt hat, erweist sich die Beschwerde als begründet. Hebt das
Bundesgericht den angefochtenen Entscheid auf, so entscheidet es in der Sache
selbst oder weist diese zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurück (Art.
114 Abs. 2 OG). Die für den Entscheid wesentlichen Elemente liegen vor. Damit
kann das Bundesgericht selbst den Entscheid treffen, dass gegen die
Beschwerdeführerin eine Verwarnung auszusprechen ist.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben. Der
Beschwerdeführerin ist eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 159 Abs. 2
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid der
Verwaltungsrekurskommission vom 4. Dezember 2002 aufgehoben.

2.
Die Beschwerdeführerin wird in Anwendung von Art. 16 Abs. 2 SVG verwarnt.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Der Kanton St. Gallen hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und der Verwaltungsrekurskommission
des Kantons St. Gallen, Abteilung IV, sowie dem Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Strassen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. Mai 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: