Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.66/2003
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6A.66/2003 /kra

Urteil vom 9. Dezember 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen,
Gerichtsschreiber Briw.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Marc Leuppi,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, Obere Vorstadt 40, 5001
Aarau.

Entzug des Führerausweises,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Aargau, 1. Kammer, vom 2. Juli 2003.

Sachverhalt:

A.
X. ________ fuhr am 6. September 2001, um 08.45 Uhr, als Lenker eines
Personenwagens auf der Autobahn Richtung Basel. Als er vom mittleren auf den
äusseren dritten Fahrstreifen wechselte, kam es zu einer seitlichen
Streifkollision mit einem auf diesem dritten Fahrstreifen von hinten
herannahenden Personenwagen.

B.
Das Bezirksstatthalteramt Arlesheim verurteilte X.________ mit Strafbefehl
vom 22. Januar 2002 wegen einfacher Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 90
Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 31 Ziff. 1 und Art. 44 Ziff. 1 SVG) zu einer Busse
von Fr. 300.--. Der Strafbefehl wurde rechtskräftig.

Das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau entzog X.________ am 22. August
2002 gestützt auf Art. 16 Abs. 2 und Art. 17 SVG den Führerausweis für die
Dauer von einem Monat wegen mangelnder Aufmerksamkeit, unvorsichtigen
Spurwechsels und Verursachens einer Streifkollision auf der Autobahn. Im
Beschwerdeverfahren wiesen das Departement des Innern am 4. Februar 2003 und
das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau am 2. Juli 2003 die jeweiligen
Beschwerden von X.________ ab.

C.
X.________ erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht mit dem
Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben, höchstens eine
Verwarnung auszusprechen, eventuell die Sache zur Neubeurteilung an das
Verwaltungsgericht zurückzuweisen, die Verfahrenskosten auf die Staatskasse
zu nehmen und den Kanton Aargau zu verpflichten, die bundesgerichtlichen
Parteikosten sowie die kantonalen Partei- und Verfahrenskosten vollumfänglich
zu ersetzen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Das Verwaltungsgericht verwies in der Vernehmlassung auf seinen Entscheid und
erhob keine Einwendungen gegen die Erteilung der aufschiebenden Wirkung.

Der Präsident des Kassationshofes erkannte der Beschwerde am 26. September
2003 die aufschiebende Wirkung zu.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach Art. 24 Abs. 2 SVG können letztinstanzliche kantonale Entscheide über
Führerausweisentzüge mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht
angefochten werden. Die Voraussetzungen für die Ergreifung dieses
Rechtsmittels sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer wendet sich in erster Linie gegen die
Sachverhaltsfeststellung im angefochtenen Entscheid. Er wirft der Vorinstanz
vor, zu Unrecht von der bindenden Wirkung des Strafurteils ausgegangen zu
sein und die von ihm im Administrativverfahren neu angeführten Tatsachen,
insbesondere eine Geschwindigkeitsüberschreitung der Unfallgegnerin, nicht
berücksichtigt zu haben. Der Vorwurf der Vorinstanz, er hätte den Strafbefehl
anfechten müssen, sei nicht zu hören (Beschwerde S. 4 f.).
2.2 Die Vorinstanz führt in diesem Zusammenhang aus, der Strafbefehl sei
gestützt auf den Polizeirapport ergangen, dem eine Sachverhaltsanerkennung
des Beschwerdeführers beigelegen habe. Der Beschwerdeführer sei vor Erlass
durch das Strassenverkehrsamt darüber orientiert worden, dass ein Entzug des
Führerausweises wegen mangelnder Aufmerksamkeit, unvorsichtigen Spurwechsels
und Verursachens einer Streifkollision in Betracht gezogen werde (vgl. Brief
des Strassenverkehrsamts des Kantons Aargau an den Beschwerdeführer vom 16.
Nov. 2001 sowie Antrag des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers auf
Sistierung des Administrativverfahrens vom 6. Dez. 2001). Der rechtskundig
vertretene Beschwerdeführer habe gegen den Strafbefehl keine Einsprache
erhoben. Der Strafbefehl sei damit in Rechtskraft erwachsen. Zweifel an der
Richtigkeit der im Strafverfahren getroffenen Feststellungen hätten zu diesem
Zeitpunkt nicht bestanden. Die Verwaltungsbehörden seien deshalb an die
Sachverhaltsfeststellungen des Strafbefehlsrichters gebunden (angefochtenes
Urteil S. 6).

2.3 Somit war der Beschwerdeführer orientiert, dass ein Entzug des
Führerausweises in Betracht gezogen wurde. Er musste (entgegen seiner
Beschwerde S. 6) mit einem Führerausweisentzug rechnen. Nach der
Rechtsprechung muss derjenige, der weiss oder annehmen muss, dass gegen ihn
ein Führerausweisentzugsverfahren durchgeführt wird, seine
Verteidigungsrechte schon im (summarischen) Strafverfahren geltend machen,
und die für den Führerausweisentzug zuständige Behörde darf in der Regel
nicht von den Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Strafentscheids
abweichen. Dies gilt auch bei Entscheiden, die im Strafbefehlsverfahren
gefällt wurden, selbst wenn sie auf einem Polizeirapport beruhen (BGE 121 II
214 E. 3a; 123 II 97 E. 3c/aa). Der Beschwerdeführer wäre somit nach Treu und
Glauben verpflichtet gewesen, im Strafverfahren entsprechende Beweisanträge
zu stellen. Wenn er mit den Feststellungen des Strafrichters nicht
einverstanden war, hätte er den Strafbefehl anfechten müssen, wie die
Vorinstanz gestützt auf BGE 123 II 97 E. 3c/aa ausführt. Der Einwand des
Beschwerdeführers, es habe kein Rechtsschutzinteresse an der Anfechtung
bestanden (Beschwerde S. 5 f., Ziff. 2.2), ist angesichts seiner Verurteilung
durch den Strafbefehlsrichter nicht nachvollziehbar.

Bezüglich des neuen Vorbringens kommt die Vorinstanz zum Ergebnis, für die
Behauptung des Beschwerdeführers, die Kollisionsgegnerin sei mit übersetzter
Geschwindigkeit auf der Überholspur gefahren, fänden sich im Strafbefehl und
in den Strafakten keine Anhaltspunkte. Ebenso wenig sei vor Erlass des
Strafbefehls von einer befürchteten Auffahrkollision die Rede gewesen
(angefochtenes Urteil S. 6 f.). Dies bestreitet der Beschwerdeführer nicht.
Er macht geltend, eine Geschwindigkeitsüberschreitung der Kollisionsgegnerin
ergebe sich schon alleine aus der logischen Überlegung, weil sie mit der
erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h niemals zu ihm hätte
aufschliessen können (Beschwerde S. 4 f.). Im Polizeirapport (S. 13) wird
ihre Geschwindigkeit indessen mit "maximal 100 km/h" angegeben. Es herrschte
dichter Verkehr, und es wurde mit erlaubten 100 km/h gefahren (angefochtenes
Urteil S. 11). Es finden sich mithin keine Anhaltspunkte für eine
Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Vorinstanz ist eine richterliche Behörde.
Ihre Feststellung des Sachverhalts bindet das Bundesgericht, soweit sie den
Sachverhalt nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter
Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat (Art. 105
Abs. 2 OG). Dass dies der Fall wäre, wird vom Beschwerdeführer nicht
dargelegt und ist im Lichte des oben Ausgeführten auch nicht ersichtlich.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe Bundesrecht
verletzt, indem sie statt eines leichten einen mittelschweren Fall einer
Verkehrsregelverletzung angenommen und einen einmonatigen Führerausweisentzug
angeordnet habe. Es könne ihm nur vorgeworfen werden, die Distanz (und
Geschwindigkeit) der Kollisionsgegnerin nicht richtig eingeschätzt zu haben.
Nur dieser geringfügige und angesichts der Entscheidsituation geradezu
verzeihliche Irrtum sei für das relevante Verschulden von Bedeutung, das
deshalb als leicht zu bezeichnen sei. Die Vorinstanz habe BGE 125 II 561
verkannt und auf eine Verkehrsgefährdung abgestellt (Beschwerde S. 2, 6 ff.).
3.2 Nach Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führerausweis entzogen werden, wenn der
Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere
belästigt hat (Satz 1); in leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen
werden (Satz 2). Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG regelt den mittelschweren Fall.
Auf einen Führerausweisentzug kann grundsätzlich nur verzichtet werden, wenn
der Fall leicht im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG ist. Bei einem
mittelschweren Fall kommt ein Verzicht nur bei besonderen Umständen in
Betracht. Der leichte Fall beurteilt sich seit der Änderung der
Rechtsprechung in BGE 125 II 561 gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG i.V.m. Art. 31 VZV
(SR 741.51) nach dem Verschulden des Fahrzeuglenkers und seinem
automobilistischen Leumund. Die Schwere der Verkehrsgefährdung ist nur
insoweit von Bedeutung, als sie auch verschuldensmässig relevant ist (vgl.
BGE 126 II 202 E. 1a, 192 E. 2b).

Die Vorinstanz stellt diese Rechtsprechung grundsätzlich richtig dar
(angefochtenes Urteil S. 8 ff.). Nach dem massgeblichen Sachverhalt schätzte
der Beschwerdeführer bei einem Fahrstreifenwechsel auf der Autobahn die
Distanz zwischen seinem und dem auf der äussersten linken Spur herannahenden
Fahrzeug falsch ein, weshalb es zu einer Streifkollision kam. Die Vorinstanz
nimmt zu Recht an, bei den von den beteiligten Fahrzeugen gefahrenen
Geschwindigkeiten von 100 km/h habe der Beschwerdeführer eine erhebliche
Gefährdung bewirkt (angefochtenes Urteil S. 10 f.). Zum Verschulden führt sie
aus, der Beschwerdeführer habe den Fahrstreifen gewechselt, obwohl er das von
hinten herannahende Fahrzeug der Kollisionsgegnerin gesehen habe. Dabei habe
er die Distanz falsch eingeschätzt. Es gehöre zu den elementaren
Vorsichtsregeln, dass ein Spurwechsel nur ausgeführt werde, wenn der dafür
benötigte Platz vorhanden sei (angefochtenes Urteil S. 11 f.). Die Vorinstanz
nimmt angesichts der Gefährlichkeit eines solchen Spurwechsels im dichten
Verkehr bei 100 km/h auf der Autobahn an, das Verschulden des
Beschwerdeführers wiege zumindest mittelschwer. Sie verletzt damit kein
Bundesrecht. Wie sie weiter ausführt, liegen keine besonderen Umstände vor,
die ausnahmsweise auch bei einem mittelschweren Fall zum Verzicht auf den
Ausweisentzug führen könnten. Die Mindestentzugsdauer von einem Monat gemäss
Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG kann sodann auch bei einem ungetrübten
automobilistischen Leumund nicht unterschritten werden (vgl. BGE 126 II 192
E. 2c). Das angefochtene Urteil verletzt kein Bundesrecht.

4.
Nach dem Gesagten ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen. Damit hat
es auch mit der Festsetzung der kantonalen Verfahrenskosten sein Bewenden,
und der Beschwerdeführer hat die bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art.
156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Verwaltungsgericht des
Kantons Aargau, 1. Kammer, sowie dem Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau,
dem Bundesamt für Strassen und dem Departement des Innern des Kantons Aargau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 9. Dezember 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: