Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.47/2003
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6A.47/2003 /kra

Urteil vom 24. Oktober 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Kolly,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Borner.

M.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic.iur. Franz Dörig,
Alpenstrasse 1, 6004 Luzern,

gegen

Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen Abteilung IV, Unterstrasse
28, 9001 St. Gallen.

Aberkennung des ausländischen Führerausweises auf unbestimmte Zeit,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen Abteilung IV vom 21. Mai
2003.

Sachverhalt:

A.
Von Anfang Februar bis Mitte April 2002 absolvierte M.________ eine
stationäre Behandlung in der Klinik für psychotherapeutische und
psychosomatische Medizin in Bielefeld. Die Diagnose im Abschlussbericht vom
13. Mai 2002 lautet: Posttraumatische Belastungsstörung mit Angst- und
Panikzuständen, massive Schlafstörungen, Albträume, flash-backs
(Rückblenden), latente Suizidalität, Schmerzstörungen, Kopfschmerzen bei
Lebenskrise nach Autounfall im November 2001 sowie Alkoholmissbrauch. Im
Anschluss an die stationäre Behandlung wurde die Entwicklung der psychischen
Verfassung der Probandin insgesamt als positiv beurteilt.

In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 2002 führte M.________ auf der Autobahn
A3/A3b einen Personenwagen in angetrunkenem Zustand (FiaZ). Die Analyse ergab
eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von mindestens 3,03 und maximal 3,6
Promille.

Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen eröffnete am
17. Juli 2002 ein Administrativmassnahme-Verfahren zwecks Abklärung der
Fahreignung und aberkannte M.________ vorsorglich den ausländischen
Führerausweis.

Am 5. September 2002 unterzog sich M.________ einer verkehrsmedizinischen
Untersuchung im Institut für Rechtsmedizin des Kantonsspitals St. Gallen
(IRM/SG). Das Gutachten vom 8. Oktober 2002 kommt zum Schluss, angesichts
einer noch nicht hinreichenden Stabilisierung der Gesamtproblematik,
bestehend aus psychischer Störung mit hieraus resultierender sekundärer
Alkoholproblematik, könne die Fahreignung von M.________ aus medizinischen
Gründen nicht befürwortet werden.

B.
Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt aberkannte M.________ am 24.
Oktober 2002 den ausländischen Führerausweis "aus vordergründig medizinischen
Gründen" in Anwendung von Art. 14 Abs. 2 lit. b, Art. 16 Abs. 1 SVG und Art.
45 VZV auf unbestimmte Zeit. Die Wiedererteilung wurde vom Nachweis einer
mindestens viermonatigen, strikte durch einen Arzt kontrollierten und
psychotherapeutisch betreuten Alkoholabstinenz abhängig gemacht. Gleichzeitig
wurde empfohlen, auf die Verordnung suchterzeugender zentralwirksamer
Präparate zu verzichten. Zudem wurden für die Wiedererteilung weitere
Abklärungen verkehrsmedizinischer und/oder verkehrspsychologischer Art
vorbehalten.

Einen Rekurs von M.________ gegen diese Verfügung wies die
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am 21. Mai 2003 ab. Die
Bestätigung des Sicherungsentzugs erging gestützt auf Art. 14 Abs. 2 lit. c
SVG (Trunksucht).

C.
M.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr der Führerausweis
gestützt auf Art. 16 Abs. 3 lit. b und Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG für die
Dauer von höchstens sechs Monaten abzuerkennen (Warnungsentzug); eventualiter
sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Verwaltungsrekurskommission beantragt Abweisung der Beschwerde (act. 6).
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) begehrt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
sei teilweise gutzuheissen und die Sache zur Neubeurteilung an das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt zurückzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz prüfte die Aberkennung des ausländischen Führerausweises
einzig unter dem Aspekt der Alkoholabhängigkeit (Art. 14 Abs. 2 lit. c SVG;
angefochtener Entscheid S. 5 f. lit. c und S. 13 lit. g).

In BGE 129 II 82 hat sich das Bundesgericht ausführlich mit der Thematik
befasst, welchen Anforderungen ein verkehrsmedizinisches Gutachten genügen
muss, um gestützt darauf das Vorliegen einer Sucht im Sinne von Art. 14 Abs.
2 lit. c SVG bejahen zu können. Auf diese Erwägungen kann hier verwiesen
werden.

2.
Zusammenfassend schliesst die Vorinstanz von der Trunkenheitsfahrt der
Beschwerdeführerin mit 3,03 Promille auf eine erhebliche
Alkoholverträglichkeit und hält fest, dass gestützt auf das
verkehrsmedizinische Gutachten und die weiteren aus den Akten ersichtlichen
Umstände der rechtsgenügliche Beweis einer Alkoholabhängigkeit und damit der
fehlenden Fahreignung erbracht sei.

Die Beschwerdeführerin rügt, das Gutachten bilde keine rechtsgenügliche
Grundlage für die Anordnung eines Sicherungsentzugs, da ihre persönlichen
Verhältnisse nicht gründlich geprüft worden seien. Zudem habe die Vorinstanz
mehrere Aktenstellen willkürlich interpretiert, den massgebenden Sachverhalt
unvollständig festgestellt und in verschiedener Hinsicht das Ermessen
missbraucht.

In der Folge ist somit zu prüfen, ob die Vorinstanz gestützt auf Art. 14 Abs.
2 lit. c SVG einen Sicherungsentzug bestätigen durfte, ohne Bundesrecht zu
verletzen.

2.1 Die verkehrsmedizinische Untersuchung der Beschwerdeführerin ergab ausser
einer geringen Rötung der Haut mit wenigen, nicht spinnenartigen
Gefässzeichnungen am Dekolleté keine Besonderheiten. Die Blutuntersuchung war
in hämatologischer Hinsicht mit Ausnahme eines leicht unter dem unteren
Grenzwert liegenden Erythrocyten-Werts - was grundsätzlich unspezifisch ist -
ebenso unauffällig wie in chemischer Hinsicht. Das immunologische Screening
einer Urinprobe zeigte bezüglich trizyclischen Antidepressiva,
Benzodiazepinen, Barbituraten und Methaqualon sowie Opiaten, Kokain,
Methadon, LSD, Cannabis und Amphetaminen negative Ergebnisse.

2.2 Die Vorinstanz erwägt, es überrasche nicht, dass der blutentnehmende Arzt
die Beschwerdeführerin bei einer BAK von 3,03 Promille als hochgradig unter
Alkoholeinwirkung stehend einschätzte;  zusammen mit den unauffälligen
Laborwerten und den fehlenden körperlichen Symptomen spreche das zwar gegen
einen Alkoholismus, doch wiesen diese Umstände lediglich darauf hin, dass in
letzter Zeit kein konstant erhöhter Alkoholkonsum erfolgt sei. Hingegen
schlössen sie eine Gewöhnung an den Alkohol nicht aus. Dies schliesse - wie
im Gutachten festgehalten werde - einen phasenweisen Alkoholüberkonsum mit
ein.

Die Formulierung, dass in letzter Zeit kein konstanter, jedoch phasenweiser
Alkoholüberkonsum erfolgt sei, kann nur so verstanden werden, dass dieser
Überkonsum auch nach der Entlassung der Beschwerdeführerin Mitte April 2002
aus der Klinik in Bielefeld andauerte. Eine solche Annahme findet im
Gutachten jedoch keine Stütze. Es wird lediglich gesagt, dass die CDT-Werte
im Normbereich einen episodenhaften Alkoholüberkonsum nicht ausschlössen; die
dort erwähnte Alkoholproblematik betrifft jedoch die Zeitspanne zwischen 1997
bis Ende 2001.

2.3 Angesichts der hohen BAK von 3,03 Promille beim FiaZ im Mai 2002 geht die
Vorinstanz in Übereinstimmung mit dem Gutachten von einer erheblichen
Alkoholverträglichkeit der Beschwerdeführerin aus. Diese Annahme ist
grundsätzlich nicht zu beanstanden. Doch gilt es zu bedenken, dass der
blutentnehmende Arzt die Beschwerdeführerin als hochgradig unter
Alkoholeinwirkung stehend einschätzte. Das spricht jedenfalls gegen eine hohe
Alkoholverträglichkeit der Beschwerdeführerin. Denn es ist gerichtsnotorisch,
dass Fahrzeuglenker mit hoher Alkoholverträglichkeit den Polizeibeamten und
Ärzten selbst bei hoher BAK oft nur leicht unter Alkoholwirkung stehend
erscheinen.

2.4 Die Vorinstanz erachtet die Behauptung der Beschwerdeführerin als nicht
nachvollziehbar, die Berichte der Klinik vom 15. Mai 2002 und der
Psychotherapeutin vom 14. September 2002 gäben eindeutige Hinweise auf eine
günstige Entwicklung sowie Stabilisierung der Lage. Zur Begründung führt die
Vorinstanz an, im Bericht der Klinik werde erwähnt, dass seit 1997 ein
Alkoholproblem bestanden habe und dass die Beschwerdeführerin bis etwa 2002
täglich bis zu einer Flasche Wein oder mehr getrunken habe, was sie auch
gegenüber dem Gutachter bestätigt habe. Der Abstinenzvertrag für den Zeitraum
des Klinikaufenthalts werde nur ansatzweise erwähnt, und auch die Therapeutin
gehe von diesem Vertrag aus, doch vergesse sie beizufügen, dass die
Beschwerdeführerin in der Klinik wenig oder gar keine Möglichkeiten hatte,
Alkohol zu konsumieren. Schliesslich verfestige die Teilnahme der
Beschwerdeführerin an einem ambulanten Alkohol-Entwöhnungskurs die Annahme,
dass sie auch noch im November 2002 ein Alkoholproblem gehabt habe.

Der Gutachter integrierte die erwähnten Berichte in seine Beurteilung. Danach
soll sich die psychische Verfassung der Beschwerdeführerin nach der
stationären Behandlung in der Klinik insgesamt positiv entwickelt haben bzw.
würden aufgrund der Nachbetreuung seit Mai 2002 die psychische und die
Alkoholproblematik positiv beurteilt. Die beiden positiv lautenden Berichte
beziehen sich somit ausdrücklich auf die Zeit seit der Entlassung der
Beschwerdeführerin aus der Klinik. Wenn nun die Vorinstanz unter Hinweis auf
die Alkoholproblematik vor dem Klinikaufenthalt den Berichten nichts
Positives abgewinnen kann, ist diese Argumentation unhaltbar. Daran ändert
auch nichts, dass sich die Beschwerdeführerin im November 2002 zur Teilnahme
an einem ambulanten Alkohol-Entwöhnungskurs angemeldet hat. Nachdem das
Strassenverkehrsamt am 24. Oktober 2002 eine mindestens noch viermonatige
strikte kontrollierte und psychotherapeutisch betreute Alkoholabstinenz
verfügt hatte, darf ihr ein Verhalten, mit welchem sie die verfügte Auflage
befolgte, nicht als Nachweis für eine nach wie vor bestehende
Alkoholproblematik vorgehalten werden.

2.5 Die Vorinstanz hält fest, im Übrigen deuteten auch andere
Verhaltensmuster der Beschwerdeführerin darauf hin, dass sie zu Abhängigkeit
neige. Aus den Akten ergebe sich, dass sie gelegentlich vor dem Schlafengehen
das Schlafmittel Stilnox einnehme. Abhängigkeit könne bei Patienten mit einer
Vorgeschichte von Alkoholabusus, Drogenabhängigkeit oder psychiatrischen
Leiden beobachtet werden, die das Medikament nicht wie vorgeschrieben
einnähmen.

Während des Klinikaufenthalts von Anfang Februar bis Mitte April 2002 hat die
Beschwerdeführerin vom Schlafmittel Stilnox sechs Mal Gebrauch gemacht; der
Gutachter spricht von einer angeblich gelegentlichen Einnahme. Weder im
Gutachten noch im angefochtenen Entscheid findet sich ein Hinweis darauf,
dass die Beschwerdeführerin das fragliche Medikament entgegen ärztlicher
Vorschrift eingenommen haben soll. Da aber die Gefahr der Abhängigkeit nur
bei vorschriftswidriger Einnahme besteht, ist der vorinstanzliche Schluss
unhaltbar, die Einnahme von Stilnox durch die Beschwerdeführerin deute darauf
hin, dass sie zu Abhängigkeit neige. Welche anderen Verhaltensmuster der
Beschwerdeführerin auf deren Neigung zu Abhängigkeit hindeuten sollen,
begründet die Vorinstanz mit keinem Wort.

2.6 Hält man sich die bisher besprochenen Punkte vor Augen, wird deutlich,
dass die Vorinstanz einzig gestützt auf den FiaZ-Vorfall vom 26./27. Mai 2002
und die daraus abgeleitete Alkoholverträglichkeit bei der Beschwerdeführerin
eine Trunksucht im Sinne von Art. 14 Abs. 2 lit. c SVG bejahte. Damit hat die
Vorinstanz Bundesrecht verletzt. Nach einem FiaZ-Vorfall mit hoher BAK soll
die Strassenverkehrsbehörde der betroffenen Person (lediglich) den
Führerausweis vorsorglich entziehen und deren Fahreignung abklären lassen
(BGE 129 II 82 E. 5). Für die Annahme einer Trunksucht genügt dies jedoch
nicht (siehe E. 6).

2.7 Das ASTRA lässt vernehmen, im Hinblick auf eine medizinische Abhängigkeit
führe der Gutachter aus, anscheinend sei die Beschwerdeführerin bisher nicht
in der Lage gewesen, dem Alkohol trotz entsprechender eindeutiger schädlicher
Folgen (körperlicher, psychischer und sozialer Art) dauerhaft zu entsagen.
Damit bediene sich der Gutachter eines Diagnosekriteriums gemäss ICD-10. Aus
dem Gutachten gehe jedoch nicht hervor, worauf sich diese Annahme stütze und
zudem sei es fragwürdig, nur gerade ein Kriterium gemäss ICD-10 aufzuführen,
um die Annahme einer Alkoholabhängigkeit zu untermauern. Überdies werde weder
aus dem Gutachten noch aus dem angefochtenen Entscheid klar, welche negativen
Folgen sich aufgrund übermässigen Alkoholkonsums in körperlicher, psychischer
oder sozialer Hinsicht bei der Beschwerdeführerin eingestellt haben sollen.
Diese Ausführungen treffen zu.

Angesichts der negativen Laborresultate ist auch der Hinweis des ASTRA auf
BGE 129 II 82 E. 6.2.2 zutreffend, wonach der Gutachter sich eingehender mit
der Erforschung des Trinkmusters und den Trinkgewohnheiten sowie der
subjektiven Einstellung der Beschwerdeführerin dazu hätte befassen und die
konkrete Trunkenheitsfahrt einlässlicher hätte aufarbeiten müssen.

3.
Nach dem Gesagten ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen, der
angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens erhebt das Bundesgericht keine Kosten (Art.
156 Abs. 2 OG). Die Beschwerdeführerin ist für das bundesgerichtliche
Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid der
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen vom 21. Mai 2003
aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton St. Gallen wird verpflichtet, die Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und der Verwaltungsrekurskommission
des Kantons St. Gallen Abteilung IV sowie dem Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Strassen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. Oktober 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: