Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.46/2003
Zurück zum Index Kassationshof in Strafsachen 2003
Retour à l'indice Kassationshof in Strafsachen 2003


6A.46/2003 /pai

Urteil vom 27. August 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly,
Gerichtsschreiber Borner.

Z. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecherin Regula Zehnder,
Steinerstrasse 34, Postfach 192, 3000 Bern 16,

gegen

Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern,
Kramgasse 20, 3011 Bern.

Entzug des Führerausweises auf unbestimmte Zeit,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der Rekurskommission des
Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern vom 19. März 2003.

Sachverhalt:

A.
Am 8. Januar 2003 verfügte das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des
Kantons Bern gegenüber Z.________ gestützt auf Art. 14 Abs. 2 lit. d sowie
Art. 16 Abs. 1 SVG einen Sicherungsentzug des Führerausweises (Ziff. 1 der
Verfügung). Ziffer 2 der Verfügung lautet:

"Dauer der Massnahme: unbestimmte Zeit, mindestens aber 18 Monate
(Probezeit), gerechnet ab 16.03.2002 (Abnahme des Führerausweises durch die
Polizei)."

In der Beschwerde an die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen
gegenüber Fahrzeugführern stellte Z.________ folgendes Rechtsbegehren:

"Es sei Ziffer 2 der Verfügung des  Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamtes
vom 8. Januar 2003 aufzuheben und die Dauer des Sicherungsentzuges sei auf
unbestimmte Zeit, mindestens aber auf 12 Monate (Probezeit), gerechnet ab 16.
März 2002 festzulegen."

Mit Entscheid vom 19. März 2003 trat die Rekurskommission auf die Beschwerde
nicht ein.

B.
Z.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache umgehend zur erneuten
Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Sinne einer vorsorglichen
Massnahme sei das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt unverzüglich
anzuweisen, dem Beschwerdeführer den Führerausweis wieder auszuhändigen und
ihn damit zum motorisierten Strassenverkehr wieder zuzulassen.

Die Rekurskommission hat sich ausführlich vernehmen lassen und beantragt die
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde (act. 6).

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz begründet ihren Nichteintretensentscheid damit, der
Beschwerdeführer beantrage in seiner Beschwerde, die Probezeit sei auf
unbestimmte Zeit, mindestens aber auf zwölf Monate festzulegen. Da die
verfügte Bewährungsfrist 18 Monate betrage und somit dem Antrag des
Beschwerdeführers von "mindestens 12 Monaten" entspreche, entfalle ein
schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung der angefochtenen
Verfügung.

1.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, im Rechtsbegehren an die Vorinstanz
habe er verlangt, die Dauer des Sicherungsentzugs - und nicht der Probezeit -
sei auf unbestimmte Zeit, mindestens aber auf zwölf Monate (Probezeit)
festzulegen. Dieses Rechtsbegehren sei in Anlehnung an das Dispositiv der
ursprünglichen Verfügung formuliert worden und ergebe zusammen mit der
damaligen Beschwerdebegründung klar, dass eine Reduktion der Probezeit von 18
auf 12 Monate beantragt worden sei. Die Vorinstanz habe bei ihrem Entscheid
die formelle Vorschrift des Antragserfordernisses ohne schutzwürdige
Interessen mit übertriebener Schärfe gehandhabt, dem Beschwerdeführer den
Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt und damit gegen das Verbot des
überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV) verstossen.

2.
Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann der Beschwerdeführer eine
Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens rügen (Art. 104 lit. a OG). Zum Bundesrecht gehört auch das Verbot
des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV).

2.1 Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der Rechtsverweigerung.
Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften
aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn
die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an
Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und dem Bürger den Rechtsweg
in unzulässiger Weise versperrt. Auch die Verfahrensvorschriften des
Verwaltungsrechts haben der Verwirklichung des materiellen Rechts zu dienen.
Deshalb sind die zur Rechtspflege berufenen Behörden verpflichtet, sich
innerhalb des ihnen vom Gesetz gezogenen Rahmens gegenüber dem Rechtsuchenden
so zu verhalten, dass sein Rechtsschutzinteresse materiell gewahrt werden
kann. Behördliches Verhalten, das einer Partei den Rechtsweg verunmöglicht
oder verkürzt, obschon auch eine andere gesetzeskonforme Möglichkeit
bestanden hätte, ist mit Art. 29 Abs. 1 BV nicht vereinbar (BGE 120 V 413 E.
4 und 5a S. 416 f.).

Ob das Verbot des überspitzten Formalismus verletzt wurde, prüft das
Bundesgericht frei (BGE 127 I 31 E. 2a/bb S. 34 mit Hinweis).

2.2 Rein grammatikalisch ist die vorinstanzliche Deutung des Antrags des
Beschwerdeführers vertretbar. Denn im Einschub "mindestens aber auf 12 Monate
(Probezeit)" ist von mindestens und einer Probezeit von 12 Monaten die Rede.
Diese Formulierung kann so verstanden werden, dass die Probezeit auch länger
als 12 Monate ausfallen dürfe.

Stellt man jedoch den Antrag des Beschwerdeführers in den Gesamtzusammenhang,
ergibt sich folgendes Bild:

Der Führerausweis wird auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn der Führer wegen
Trunksucht oder anderer Suchtkrankheiten, aus charakterlichen oder anderen
Gründen nicht geeignet ist, ein Motorfahrzeug zu führen (Art. 17 Abs. 1bis
Satz 1 SVG). Die Dauer eines solchen Sicherungsentzugs wird somit nicht in
Monaten oder Jahren beziffert. Mit dem Entzug wird - abgesehen beim Entzug
aus medizinischen Gründen - eine Probezeit von mindestens einem Jahr
verbunden (Sätze 2 und 3). Eine Bezifferung in Jahren und Monaten kann sich
folglich nur auf die Probezeit beziehen. Abgesehen von der hier nicht
zutreffenden Ausnahme entspricht die minimale Probezeit von einem Jahr der
minimalen Dauer eines Sicherungsentzugs.

Vor diesem gesetzlichen Hintergrund wird offensichtlich, dass der
Beschwerdeführer mit der Bezifferung von zwölf Monaten die anbegehrte Dauer
der Probezeit meinte (die beiden Begriffe zwölf Monate und Probezeit stehen
denn auch unmittelbar hintereinander) und dass sich das "mindestens" in
Anlehnung an die Formulierung in der ursprünglichen Verfügung auf die
Mindestdauer des Sicherungsentzugs bezog. Im Übrigen argumentierte der
Beschwerdeführer im Verfahren vor der kantonalen Rekurskommission in der
Begründung seines Antrags, dass die Entzugsbehörde bei der Festsetzung der
Probezeit auf 18 Monate gesetzwidrig seinen schlechten automobilistischen
Leumund veranschlagt habe und dass der Gutachter eine einjährige
Bewährungsfrist als ausreichend erachtet habe, woran sich die Entzugsbehörde
hätte halten müssen. Damit brachte der Beschwerdeführer ausreichend zum
Ausdruck, dass er eine Probezeit von 12 Monaten anbegehrte und dass er mit
der verfügten Probezeit von 18 Monaten offensichtlich nicht einverstanden
war.

Nach dem Gesagten stützte sich die Vorinstanz ausschliesslich auf eine
grammatikalisch zwar mögliche Interpretation des Antrags des
Beschwerdeführers. Indem sie dabei aber den sich aus dem Gesamtzusammenhang
und der Sicht des Beschwerdeführers sich ergebenden Sinn des Antrags beiseite
schob, verhinderte sie allenfalls ohne ersichtlichen Grund eine
Verwirklichung des materiellen Rechts. Der angefochtene Entscheid ist somit
wegen Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV aufzuheben und die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie in der Sache entscheide.

3.
Der Beschwerdeführer verlangt im Sinne einer vorsorglichen Massnahme, das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt sei unverzüglich anzuweisen, dem
Beschwerdeführer den Führerausweis wieder auszuhändigen und ihn damit zum
motorisierten Strassenverkehr wieder zuzulassen. Sinngemäss handelt es sich
bei diesem Antrag um ein Gesuch um aufschiebende Wirkung. Mit dem Entscheid
in der Sache ist das Gesuch gegenstandslos.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens entfällt eine Gerichtsgebühr und der
Beschwerdeführer hat für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Entschädigung zugut (Art. 156 und 159 je Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid der
Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern
vom 19. März 2003 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und der Rekurskommission des Kantons
Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern sowie dem Strassenverkehrsamt
des Kantons Bern und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. August 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: