Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.46/2003
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5C.46/2003 /bnm

Urteil vom 16. April 2003
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Nordmann, Ersatzrichterin
Geigy-Werthemann,
Gerichtsschreiber Schett.

A. ________ (Ehefrau),
Klägerin und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur.
Andrea Stadelmann, Scheffelstrasse 2, 9000 St. Gallen,

gegen

B.________ (Ehemann),
Beklagten und Berufungsbeklagten, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur.
Christoph Anwander, Bahnhof-
strasse 21, Postfach 49, 9101 Herisau.

Ehescheidung (Besuchsrecht),

Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Appenzell A.Rh. 1.
Abteilung vom 22. Oktober 2002.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 24. Oktober 2001 schied das Kantonsgericht von Appenzell
Ausserrhoden die Ehe der jugoslawischen Staatsangehörigen A.________ und
B.________. Das gemeinsame Kind C.________, geboren 18. Mai 1996, stellte es
unter die elterliche Sorge der Mutter. Dem Kind und dem Vater räumte es
während eines halben Jahres ab Rechtskraft des Urteils das Recht ein, jedes
zweite Wochenende einen Tag (Samstag oder Sonntag) miteinander zu verbringen.
Es verpflichtete den Vater, während dieses halben Jahres jeweils vor der
Ausübung des Besuchsrechts seinen Pass beim Polizeiposten X.________ zu
hinterlegen. Nach Ablauf des halben Jahres räumte das Kantonsgericht dem
Vater und dem Kind gegenseitig das Recht ein, zwei Wochenende pro Monat
miteinander zu verbringen. Ab Schuleintritt von C.________ gewährte es beiden
zusätzlich das gegenseitige Recht, jährlich 14 Tage Ferien (während der
Schulferien) miteinander zu verbringen, wobei der Vater der Mutter die
Ausübung des Ferienrechts jeweils drei Monate im Voraus ankündigen sollte.
Das Kantonsgericht setzte ferner den von B.________ für seine Tochter
C.________ zu zahlenden Unterhaltsbeitrag fest und traf weitere Regelungen
hinsichtlich der Nebenfolgen der Scheidung.

B.
Auf Appellation von A.________ legte das Obergericht von Appenzell
Ausserrhoden mit Urteil vom 22. Oktober 2002 das Besuchsrecht während eines
halben Jahres ab Rechtskraft des Urteils auf einen Tag (Samstag oder Sonntag)
jedes zweite Wochenende und hernach auf jedes zweite Wochenende fest. Ferner
räumte es dem Kind C.________ und dem Vater ein Ferienrecht von 14 Tagen im
Jahr ein. Zur Überwachung des Besuchs- und Ferienrechts ordnete das
Obergericht eine Beistandschaft im Sinne von Art. 308 Abs. 2 ZGB an.

C.
Gegen dieses Urteil des Obergerichts hat A.________ am 7. Februar 2003
Berufung an das Bundesgericht eingereicht mit den Anträgen, Ziffer 2 Abs. 1
und 2 des angefochtenen Urteils (betreffend Besuchs- und Ferienrecht) seien
aufzuheben und es sei dem Vater (weiterhin) ein begleitetes Besuchsrecht zu
gewähren, entweder im Rahmen der begleiteten Besuchstage der Pro Juventute in
St. Gallen oder mit Begleitung durch eine geeignete Person. Eventualiter sei
die Streitsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner
beantragt die Klägerin die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für
das bundesgerichtliche Verfahren. Sie hält eine Entführungsgefahr entgegen
der Ansicht der Vorinstanz für erheblich und vertritt die Auffassung, einer
solchen könne nur mit einem begleiteten Besuchsrecht begegnet werden.

D.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen zur Berufung verzichtet. Eine
Berufungsantwort ist nicht eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gegen das kantonal letztinstanzliche Urteil des Obergerichts von
Appenzell Ausserrhoden ist die Berufung an das Bundesgericht zulässig (Art.
44 lit. d OG). Auf die form- und fristgerechte Berufung ist einzutreten.

1.2 Im Scheidungsverfahren gilt für die Kinderzuteilung und die damit
unmittelbar zusammenhängenden Fragen, namentlich auch für die Regelung des
Besuchsrechts, uneingeschränkt die Offizialmaxime. Hieraus ergibt sich jedoch
nicht, dass neue tatsächliche Behauptungen und Beweismittel zulässig wären.
Auch für die Kinderzuteilung und die damit zusammenhängenden Fragen gilt
vielmehr Art. 55 Abs. 1 lit. c OG, wonach im Berufungsverfahren neue
Tatsachen und Beweismittel unzulässig sind (BGE 120 II 229 E. 1c S. 231).

2.
2.1 Gemäss Art. 133 Abs. 1 ZGB in Verbindung mit Art. 273 Abs. 1 ZGB hat der
Elternteil, dem bei der Scheidung die elterliche Sorge nicht zugeteilt wird,
ein Recht auf angemessenen persönlichen Verkehr mit seinen unmündigen
Kindern. Dieses Recht steht den Eltern aufgrund ihrer Persönlichkeit zu. Das
Besuchsrecht ist zu einem eigentlichen Grundrecht des nicht
obhutsberechtigten Elternteils beziehungsweise des Kindes geworden, das nur
im Rahmen der für die Einschränkung von Grundrechten allgemein geltenden
Voraussetzungen beschnitten werden darf (Heinz Hausheer, Die drittüberwachte
Besuchsrechtsausübung [das sog. "begleitete" Besuchsrecht] - Rechtliche
Grundlagen, ZVW 53/1998, S. 19). Das Besuchsrecht dient allerdings in erster
Linie den Interessen des Kindes. Bei der Festsetzung des persönlichen
Kontakts geht es nicht darum, einen gerechten Interessenausgleich zwischen
den Eltern zu finden, sondern den elterlichen Kontakt mit dem Kind in dessen
Interesse zu regeln (BGE 122 III 404 E. 3a S. 406 f. mit Hinweisen). Als
oberste Richtschnur gilt somit immer das Kindeswohl, das anhand der Umstände
des konkreten Einzelfalles zu beurteilen ist; allfällige Interessen der
Eltern haben zurückzustehen (BGE 127 III 295 E. 4a S. 298; 123 III 445 E. 3b
S. 451).

2.2 Wo das Gesetz verlangt, dass das Gericht eine angemessene Lösung treffe,
verweist es auf das richterliche Ermessen (zum Besuchsrecht: BGE 120 II 229
E. 4a S. 235; statt vieler: Theo Mayer-Maly, Basler Kommentar, N. 2 zu Art. 4
ZGB). In diesem Fall hat der Richter seine Entscheidung nach Recht und
Billigkeit zu treffen (Art. 4 ZGB). Dies verlangt, dass alle wesentlichen
Besonderheiten des konkreten Falles berücksichtigt werden. Das Bundesgericht
überprüft die Ausübung des richterlichen Ermessens durch die letzte kantonale
Instanz mit Zurückhaltung; es schreitet nur dann ein, wenn grundlos von den
in Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgegangen wird, wenn
Tatsachen berücksichtigt werden, die keine Rolle hätten spielen dürfen, oder
wenn umgekehrt Umstände ausser Betracht geblieben sind, die zwingend hätten
beachtet werden müssen (BGE 126 III 223 E. 4a S. 227/228; 116 II 145 E. 6a S.
149 mit Hinweisen).

3.
Die Klägerin rügt, das Obergericht habe in Übereinstimmung mit dem
Kantonsgericht die von ihr geltend gemachte Entführungsgefahr als gering
eingeschätzt. Sie bringt dagegen verschiedene Argumente vor.

Ob eine Entführungsgefahr besteht, ist eine auf Beweiswürdigung beruhende
Tatfrage und kann im Rahmen der Berufung nicht kritisiert werden (BGE 127 III
248 E. 2c S. 252). Auf die diesbezüglichen Vorbringen der Klägerin kann
deshalb nicht eingetreten werden. Das Gleiche gilt auch für die konnexen
Einwände mit Bezug auf die medizinische Versorgung in Jugoslawien, denn neue
Tatsachen sind unzulässig (E. 1.2 hiervor). In BGE 122 III 404 E. 4c/bb S.
413 wurde auf die Entführungsgefahr nur insoweit eingegangen, als die Sache
zur Vervollständigung des Sachverhalts nach Art. 64 Abs. 1 OG zurückgewiesen
wurde. Die Klägerin hat wohl eventualiter einen Rückweisungsantrag gestellt,
doch wird dieser in keiner Weise begründet (zu den Begründungsanforderungen:
BGE 119 II 353 E. 5c/aa S. 357).

4.
Zur Überwachung des Besuchs- und Ferienrechts hat das Obergericht gemäss Art.
308 Abs. 2 ZGB eine Beistandschaft angeordnet. Die Vorinstanz wollte damit
den Befürchtungen der Klägerin Rechnung tragen. Diese hält eine
Beistandschaft jedoch für wirkungslos, wenn dem Beklagten das Recht
eingeräumt wird, das Kind über Nacht bei sich zu behalten und Ferien mit ihm
zu verbringen. Nach Ansicht der Klägerin könnte einer Entführungsgefahr nur
mit einem begleiteten Besuchsrecht begegnet werden.

Hat das Bundesgericht nach dem soeben Dargelegten jedoch davon auszugehen,
dass eine ernsthafte Gefahr einer Entführung nicht besteht, entfällt die
Anordnung einer Besuchsbegleitung, zumal die Klägerin andere Gründe für eine
solche vorsorgliche Auflage nicht vorbringt.

5.
Die Klägerin wirft den kantonalen Instanzen ferner vor, den
Untersuchungsgrundsatz verletzt zu haben, indem sie keine zusätzlichen
Abklärungen getroffen hätten, die es erlauben würden, von der begleiteten
Besuchsregelung abzuweichen. Welche Abklärungen hätten vorgenommen werden
sollen, legt die Klägerin jedoch nicht dar und ist auch nicht ersichtlich.

Der Vorwurf kann sich von vornherein nur gegen das Urteil des Obergerichts
richten (Art. 48 Abs. 1 OG), da dieses betreffend die Einholung des von der
Klägerin beantragten kinderpsychologischen Gutachtens nicht auf die
Erwägungen des Kantonsgerichts verweist. Das Obergericht hat diesen Antrag
mit der Begründung abgelehnt, die von der Klägerin hierfür vorgebrachten
Gründe (Aushorchung des Kindes) seien zu vage und zu wenig substantiiert. Die
kinderpsychologische bzw. kinderpsychiatrische Begutachtung ist eine der
Beweismassnahmen, die das Gericht aufgrund des in Art. 145 ZGB verankerten
Untersuchungsgrundsatzes anordnen kann, aber nicht muss. Der Entscheid
darüber liegt in seinem pflichtgemässen Ermessen (Sutter/Freiburghaus,
Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, 1999, N. 18 zu Art. 145 ZGB). Mit dem
Verzicht auf eine Begutachtung hat die Vorinstanz ihr Ermessen nicht
verletzt.

6.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Berufung abzuweisen ist, soweit darauf
einzutreten ist.

Die unterliegende Klägerin wird damit kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG).
Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann nicht entsprochen werden, da
ihre Berufung von vornherein als aussichtslos  erschien (Art. 152 Abs. 1 OG).
Da keine Berufungsantwort eingeholt worden ist, schuldet die Klägerin dem
Beklagten keine Parteientschädigung.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch der Klägerin um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Klägerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Appenzell
A.Rh., 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. April 2003

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: