Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.133/2003
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5C.133/2003 /bnm

Urteil vom 10. Juli 2003
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident, Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
Gerichtsschreiberin Krauskopf.

A. ________,
Berufungskläger, vertreten durch Rechtsanwältin Antigone Schobinger,
Gartenhofstrasse 15, Post-
fach 9819, 8036 Zürich,

gegen

B.________,
Berufungsbeklagte, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Felix Rom, Bleicherweg
27, 8002 Zürich.

Regelung des persönlichen Verkehrs,

Berufung gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Zivilkammer, vom 11. April 2003.

Sachverhalt:

A.
A. ________ ist der Vater von C.________ (geb. 22. November 1998), den er am
29. Oktober 2001 anerkannt hat. Am 27. März 2002 verweigerte die
Vormundschaftsbehörde der Stadt X.________  A.________ vorläufig jedes
Besuchsrecht, da C.________ seit ungefähr drei Jahren keinen Kontakt zu
seinem Vater habe. Dieser müsse jederzeit damit rechnen, das Land verlassen
zu müssen, weshalb eine Beziehung zum Vater zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit
dem Kindeswohl zu vereinbaren sei. Die Vormundschaftsbehörde wies A.________
an, sich an die Weisung der Bezirksanwaltschaft vom 10. August 2000 zu
halten, wonach ihm jeder Kontakt mit C.________ und dessen Mutter untersagt
sei sowie, sich deren Aufenthaltsort nicht weniger als auf 100 m zu nähern.
Die Mutter von C.________, B.________, wurde aufgefordert, A.________ über
besondere Ereignisse im Leben von C.________ zu informieren und vor wichtigen
Entscheiden anzuhören.

B.
Auf Beschwerde von A.________ hin räumte ihm der Bezirksrat Horgen mit
Beschluss vom 5. September 2002 ein vierteljährlich auszuübendes, begleitetes
Besuchsrecht von vier Stunden für die Dauer eines Jahres ein. Er wies die
Vormundschaftsbehörde an, eine Beistandschaft zu errichten, die Modalitäten
des Besuchsrechts festzusetzen und vor Ablauf eines Jahres Bericht und Antrag
zur Ausgestaltung des Besuchsrechts zu stellen.

C.
Am 11. April 2003 hiess das Obergericht des Kantons Zürich den Rekurs von
B.________ gut, hob den Entscheid des Bezirksrats auf und bestätigte jenen
der Vormundschaftsbehörde vom 27. März 2002.

D.
Mit Berufung an das Bundesgericht beantragt A.________, der Beschluss des
Obergerichts sei aufzuheben. Ihm sei das Recht einzuräumen, seinen Sohn
C.________ monatlich für jeweils vier Stunden im Besuchstreff in Z.________
zu besuchen; eine Beistandschaft im Sinne von Art. 308 Abs. 2 ZGB sei
anzuordnen. Gleichzeitig ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.
Die Vorinstanz hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Die Berufungsbeklagte ist
nicht zur Berufungsantwort eingeladen worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit dem angefochtenen letztinstanzlichen kantonalen Urteil ist das
Besuchsrecht des Klägers gegenüber seinem Sohn verweigert worden. Gegen diese
Anordnung ist die Berufung an das Bundesgericht zulässig (Art. 44 lit. d und
Art. 48 Abs. 1 OG).

Im Berufungsverfahren ist das Bundesgericht an die tatsächlichen
Feststellungen der letzten kantonalen Instanz gebunden, wenn sie nicht
offensichtlich auf Versehen beruhen, unter Verletzung bundesrechtlicher
Beweisvorschriften zustande gekommen (Art. 63 Abs. 2 OG) oder zu ergänzen
sind (Art. 64 OG). Ausgeschlossen ist insbesondere eine Überprüfung der
vorinstanzlichen Beweiswürdigung (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG; BGE 127 III 248
E. 2c S. 252; 126 III 59 E. 2a S. 65).

2.
Die Vorinstanz hat mehrere wichtige Gründe angeführt, aufgrund welcher gemäss
Art. 274 Abs. 2 ZGB das Besuchsrecht zu verweigern sei. Es habe eine akute
und erhebliche Entführungsgefahr bestanden, die selbst ein begleitetes
Besuchsrecht nicht beheben könne. Der Berufungskläger habe ferner der
Berufungsbeklagten aufs Übelste nachgestellt und ihr, zum Teil vor dem Kind,
mit dem Tode gedroht. Er habe sein Treiben fortgesetzt auch nach für diese
Taten ausgestandener Untersuchungshaft und trotz der Weisung des
Bezirksanwalts, jede Form von Kontakt mit der Berufungsbeklagten und dem Kind
zu unterlassen. Auch dieser Umstand habe die vorläufige Unterbindung jeden
Besuchsrechts gerechtfertigt. Schliesslich sei es sehr wahrscheinlich, dass
der Berufungskläger wegen seiner zahlreichen und wiederholten Straftaten des
Landes verwiesen werde. Es habe daher nicht im Interesse des Kindeswohls
gelegen, dass C.________ im jetzigen Zeitpunkt eine Beziehung zu seinem Vater
aufnehme, die in Bälde wieder abgebrochen werden würde.

2.1 Dem hält der Berufungskläger entgegen, die Vorinstanz gehe zu Unrecht von
einer Gefährdung des Kindeswohls aus. Er habe sich anlässlich der Ausübung
des persönlichen Verkehrs nie pflichtwidrig verhalten. Seine Identität sei
keineswegs ungeklärt. Die Anerkennung als Kindsvater sei auf Grund der
entsprechenden Urkunden erfolgt, deren Unechtheit die Vorinstanz weder
darlege noch vorbringe. Einer allfälligen Entführungsgefahr könne mit dem
begleiteten Besuchsrecht begegnet werden. Seit Dezember 2000 habe er sich
gegenüber der Berufungsbeklagten wohl verhalten. Die übrigen Delikte, derer
er sich schuldig gemacht habe, würden den Schluss einer Gefährdung im Sinne
von Art. 274 Abs. 2 ZGB nicht zulassen. Das Risiko eines neuen Bruchs der
Beziehung zwischen Vater und Kind wegen der drohenden Landesverweisung
rechtfertige die Unterbindung jeden Kontakts zwischen ihnen nicht. Bei derart
strittigen Verhältnissen hätte im Übrigen die Vorinstanz durch einen
Sachverständigenbericht abklären lassen müssen, ob das Kindeswohl bei
Gewährung eines Besuchsrecht gefährdet gewesen wäre.

2.2 Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und das
unmündige Kind haben gegenseitig Anspruch auf angemessenen persönlichen
Verkehr (Art. 273 Abs. 1 ZGB). Der persönliche Verkehr dient in erster Linie
dem Interesse des Kindes. Oberste Richtschnur für die Ausgestaltung des
persönlichen Verkehrs ist immer das Kindeswohl, das anhand der Umstände des
konkreten Einzelfalls zu beurteilen ist. In diesem Sinn hat auch der
persönliche Verkehr den Zweck, die positive Entwicklung des Kindes zu
gewährleisten und zu fördern. In der Entwicklung des Kindes sind seine
Beziehungen zu beiden Elternteilen wichtig, da sie bei seiner
Identitätsfindung eine entscheidende Rolle spielen können (BGE 122 III 404 E.
3a S. 407; BGE 123 III 445 E. 3b S. 451).
Wird das Wohl des Kindes durch den persönlichen Verkehr gefährdet, kann den
Eltern das Recht darauf verweigert oder entzogen werden (Art. 274 Abs. 2
ZGB). Gefährdet ist das Kindeswohl, wenn seine ungestörte körperliche,
seelische oder sittliche Entfaltung durch ein auch nur begrenztes
Zusammensein mit dem nicht obhutsberechtigten Elternteil bedroht ist. Das
Besuchsrecht steht diesem wie dem Kind um seiner Persönlichkeit willen zu und
darf ihm daher nicht ohne wichtige Gründe ganz abgesprochen werden. Ein
Missbrauch des Besuchsrechts und mithin eine Gefährdung des Kindeswohls liegt
z.B. vor, wenn der besuchsberechtigte Elternteil die Anwesenheit des Kindes
dazu benutzt, es zu entführen. Eine bloss abstrakte Entführungsgefahr genügt
indessen nicht. Können die negativen Auswirkungen durch eine besondere
Ausgestaltung des Besuchsrechts begrenzt werden, so verbieten das
Persönlichkeitsrecht des nicht obhutsberechtigten Elternteils, der Grundsatz
der Verhältnismässigkeit, aber auch der Sinn und Zweck des persönlichen
Verkehrs dessen gänzliche Unterbindung. Zur Aufhebung des persönlichen
Verkehrs, die nur als ultima ratio angeordnet werden kann, genügt es deshalb
nicht, dass dieser das Kindeswohl gefährdet. Zusätzlich ist erforderlich,
dass der Gefährdung nicht durch eine besondere Ausgestaltung des persönlichen
Verkehrs begegnet werden kann (BGE 122 III 404 E. 3 und 4, S. 407 ff.; 120 II
229 E. 3b/aa S. 233; 111 II 405 E. 3 S. 407).

2.3 Die Vorinstanz hat verbindlich festgehalten (vgl. Art. 63 Abs. 2 OG; E.
1), dass der Berufungskläger wiederholt gedroht hat, das Kind zu entführen.
Er habe der Berufungsbeklagten mitgeteilt, sie möge ihr Kind noch geniessen,
solange dies möglich sei. Im Strafverfahren habe er geltend gemacht, er könne
sein Kind nicht in der Schweiz lassen. Er habe der Berufungsbeklagten mit dem
Tod gedroht, um sie dazu zu bringen, den Besuch des Kindes zu gestatten. Er
habe ihr beharrlich nachspioniert, um ihren Aufenthaltsort zu kennen, und
habe ihr aufgelauert. Seit Dezember 2000 habe er sie zwar nicht mehr
belästigt. Dies sei jedoch darauf zurückzuführen, dass er zum Teil in
Untersuchungshaft oder im Strafvollzug (51 Tage im Jahre 2001 und vom 8. Juli
2002 bis zum 30. April 2003) gewesen und die Berufungsbeklagte umgezogen sei
und ihre Adresse habe sperren lassen. Die Vorinstanz hat weiter festgehalten,
der Berufungskläger habe sich in der Vergangenheit als D._______ aus Tunesien
oder als E.________ aus Libyien ausgegeben. Im hängigen Strafprozess sei er
unter dem Namen F.________ aus Marokko und im Zivilverfahren als A.________
aus Algerien aufgetreten. Seine Identität sei immer noch ungeklärt. Er sei
untergetaucht, als er am 29. Mai 2002 polizeilich vorgeladen worden sei. Der
Berufungskläger sei gross und kräftig und neige zur Gewalt. Er sei sowohl der
Berufungsbeklagten als auch den Behörden gegenüber tätlich geworden. Er habe
angedeutet, über die Hilfe von Freunden zu verfügen, um seine Drohungen in
die Tat umzusetzen. In Anbetracht dieser Umstände hat die Vorinstanz
geschlossen, es bestehe eine akute und erhebliche Entführungsgefahr. Dieser
Schluss ist als Tatfrage für das Bundesgericht verbindlich (vgl. Urteil
5C.55/2002 vom 27. Mai 2002, E. 2.1 f.).

Als Rechtsfrage kann hingegen im Rahmen der Berufung frei überprüft werden,
ob die Vorinstanz das Kindeswohl auf Grund der Entführungsgefahr als
gefährdet erachten durfte. Dies hat sie vorliegend zu Recht angenommen. Das
Risiko einer Entführung liegt nach den verbindlichen Feststellungen des
Obergerichts derart nahe, dass die Folgen einer etwaigen Entführung bei der
Beurteilung des Kindeswohls einzubeziehen sind. Entgegen der Auffassung des
Berufungsklägers durfte die Vorinstanz zur Klärung der Frage, ob das
Kindeswohl in casu bei einer Entführung gefährdet wäre, auf den Beizug eines
Sachverständigen verzichten. Es ist offensichtlich, dass die seelische
Gesundheit des kleinen C.________ stark gefährdet würde, wenn er von seinem
Vater, den er wegen der spärlichen Kontakte kaum kennt, entführt würde. Das
Kind würde dadurch seiner Mutter entrissen, bei der es stets gelebt hat. Dass
eine Entführung seinem Wohl abträglich wäre, liegt auf der Hand. Es bedarf
insoweit nicht der Anhörung eines Sachverständigen. Die besonderen Umstände,
die in BGE 122 III 404 gegeben waren und die im Hinblick auf die Beurteilung
des Kindeswohls die Einholung eines Gutachtens erforderten, liegen in casu
nicht vor.

Die Vorinstanz ist weiter zu Recht davon ausgegangen, dass der
Entführungsgefahr nicht hinreichend mit einem begleiteten Besuchsrecht
begegnet werden kann. Sie hat auf Grund der Aussage einer für ein
Besuchstreff verantwortlichen Person, die sie diesbezüglich angehört hat,
verbindlich festgestellt, dass es mit dem Einsatz von Kraft möglich ist, ein
Kind aus einem solchen Besuchstreff zu entführen. In der Regel hält sich denn
auch an einem Besuchstreff keine Polizei auf, die eine Entführung verhindern
könnte. Angesichts der Entschlossenheit des Berufungsklägers, das Kind zu
sich zu nehmen, und seiner Neigung zur Gewalt reicht die Anwesenheit Dritter
nicht aus, um in der derzeitigen Situation die Entführungsgefahr in
zumutbaren Grenzen zu halten. Schon aus diesem Grund durfte die Vorinstanz
ohne Bundesrechtsverletzung die Ausübung des Besuchsrechts vorläufig
verweigern.

Beruht ein Entscheid auf mehreren selbständigen Begründungen, deren eine der
Berufung standhält, ist auf die weiteren Rügen gegen die anderen
Entscheidgründe der Vorinstanz (schwere Drohungen gegenüber der
Berufungsbeklagten, durch die Landesverweisung bedingter neuer Bruch der
Beziehung) nicht einzugehen.

3.
Die vorliegende Berufung ist daher abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Da der Berufungskläger unterliegt, wird er kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1
OG). Er ist bedürftig und sein Rechtsbegehren darf nicht als aussichtslos
bezeichnet werden, hatte doch der Bezirksrat Horgen seinem Begehren in der
Hauptsache stattgegeben. Seinem Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtspflege kann demnach entsprochen werden (Art. 152 Abs. 1 und 2 OG). Der
Berufungsbeklagten, die zur Vernehmlassung nicht eingeladen wurde, ist
mangels Umtrieben keine Parteientschädigung zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen; dem
Berufungskläger wird Rechtsanwältin Antigone Schobinger, Gartenhofstrasse 15,
Postfach 9819, 8036 Zürich, als Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Berufungskläger auferlegt,
einstweilen jedoch auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Antigone Schobinger wird aus der Bundesgerichtskasse ein
Honorar von Fr. 1'500.-- entrichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Juli 2003

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: