Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.105/2003
Zurück zum Index II. Zivilabteilung 2003
Retour à l'indice II. Zivilabteilung 2003


5C.105/2003 /bie

Urteil vom 25. Juni 2003
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
Gerichtsschreiberin Scholl.

A. ________, Berufungsklägerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Stutz, Bahnhofstrasse 42, 5401 Baden,

gegen

B.________, Berufungsbeklagten.

Besuchsrecht,

Berufung gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für
Vormundschaftswesen
als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde, vom 4. März 2003.

Sachverhalt:

A.
A. ________ und B.________ haben einige Zeit im Konkubinat gelebt. Im Jahr
2001 wurde ihre Tochter C.________ geboren, für welche die
Vormundschaftsbehörde D.________ ihnen am 25. Oktober 2001 die gemeinsame
elterliche Sorge zusprach. Mitte 2002 lösten A.________ und B.________ ihren
gemeinsamen Haushalt auf, und es entstand Streit über das Besuchs- und
Sorgerecht für C.________.

B.
Mit Entscheid vom 6. Dezember 2002 sprach das Bezirksamt Baden A.________ das
alleinige Sorgerecht für C.________ zu. B.________ wurde ein wöchentliches
Besuchsrecht zugestanden, wobei die Ausübung unter Aufsicht der Mutter in
deren Wohnung zu erfolgen habe und die Festlegung des zeitlichen Beginns und
der zeitlichen Ausdehnung in das Ermessen der Inhaberin des Sorgerechts
gelegt wurde. Dagegen erhob B.________ Beschwerde beim Obergericht des
Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche
vormundschaftliche Aufsichtsbehörde. Das Obergericht trat am 4. März 2003
wegen Fristversäumnis auf die Beschwerde nicht ein, regelte jedoch
gleichzeitig das Besuchsrecht von Amtes wegen neu: Es legte fest, B.________
stehe das Recht zu, C.________ jeweils am Samstag zwischen 9.00 Uhr und 17.00
Uhr zu sich auf Besuch zu nehmen.

C.
A.________ gelangt mit eidgenössischer Berufung an das Bundesgericht. Sie
beantragt im Wesentlichen die Aufhebung des angefochtenen Entscheids in Bezug
auf das gewährte Besuchsrecht. Zudem stellt sie ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.

Es ist keine Berufungsantwort eingeholt worden. Das Obergericht hat keine
Gegenbemerkungen angebracht.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gegen Anordnungen über den persönlichen Verkehr ist die Berufung an das
Bundesgericht gegeben (Art. 44 lit. d OG). Die Berufung ist rechtzeitig
erhoben worden und richtet sich gegen einen Endentscheid eines oberen
kantonalen Gerichts, der nicht mehr durch ein ordentliches kantonales
Rechtsmittel angefochten werden kann (Art. 54 Abs. 1 und Art. 48 Abs. 1 OG).
Mit eidgenössischer Berufung kann nur die Verletzung von Bundesrecht mit
Einschluss der durch den Bund abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge
beanstandet werden. Ausdrücklich der staatsrechtlichen Beschwerde vorbehalten
ist aber die Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger (Art. 43 Abs. 1
OG). Soweit die Berufungsklägerin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
geltend macht, insbesondere weil sie durch das Obergericht nicht angehört
worden sei, kann demnach nicht auf die Berufung eingetreten werden. Ebenfalls
der Überprüfung des Bundesgerichts entzogen, ist im Berufungsverfahren die
Anwendung kantonalen Rechts.

2.
Zunächst ist darüber zu befinden, ob das Obergericht in seiner Funktion als
zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde überhaupt befugt
gewesen ist, von Amtes wegen den rechtskräftigen Entscheid des Bezirksamtes
abzuändern.

2.1 Aufgabe der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde ist die Überwachung der
Tätigkeit der unteren Vormundschaftsbehörden (Langenegger, Basler Kommentar,
N. 4 zu Art. 361 ZGB; Geiser, Die Aufsicht im Vormundschaftswesen, ZVW 1993
S. 209; Schnyder/Murer, Berner Kommentar, N. 67 zu Art. 361 ZGB).
Insbesondere nimmt sie diese Aufsichtsfunktion im Einzelfall auf Beschwerde
hin wahr (Art. 420 Abs. 2 und Art. 450 ZGB). Dies schliesst jedoch nicht aus,
dass die Aufsichtsbehörde von Amtes wegen tätig wird: Stösst sie selber oder
durch eine Anzeige auf einen Entscheid, welcher mit schweren Mängeln behaftet
ist, kann sie gestützt auf ihre Aufsichtspflicht auch ausserhalb eines
Beschwerdeverfahrens korrigierend eingreifen (Andreas Schwarz, Die
Vormundschaftsbeschwerde, Diss. Zürich 1968, S. 31; Geiser, Aufsicht, a.a.O.,
S. 217; Ders., Basler Kommentar, N. 9 der Vorbemerkungen zu Art. 420-425 ZGB;
Egger, Zürcher Kommentar, N. 3 zu Art. 420 ZGB).

2.2 Im vorliegenden Fall hat das Bezirksamt den zeitlichen Beginn und die
zeitliche Ausdehnung des Besuchsrechts ins Gutdünken der Berufungsklägerin
gestellt. Wie das Obergericht zutreffend ausführt, ist diese Anordnung nicht
vollstreckungsfähig. Bei der Vollstreckung eines Besuchsrechts hat der
Berechtigte die Übergabe des Kindes nach den im Urteil festgelegten
Modalitäten wie Zeitpunkt und Dauer zu verlangen (BGE 118 II 392 E. 4a S.
393). Dies setzt voraus, dass die Besuchsordnung in einer Weise konkretisiert
worden ist, dass sie bestimmt ist oder ohne weiteres bestimmt werden kann
(Hegnauer, Berner Kommentar, N. 151 zu Art. 275 ZGB). Diesen Anforderungen
genügt der Entscheid des Bezirksamtes in keiner Weise. Angesichts der vom
Obergericht festgestellten Kommunikationsprobleme zwischen den Parteien hat
das Bezirksamt auch nicht davon ausgehen können, dass die Eltern fähig sein
würden, die offenen Einzelheiten einvernehmlich zu regeln (BGE 81 II 313 E. 3
S. 317 f.; Hegnauer, a.a.O., N. 37 zu Art. 275 ZGB). Auf Grund der krassen
Fehlerhaftigkeit des bezirksamtlichen Entscheids hat es somit grundsätzlich
in der Kompetenz des Obergerichts als vormundschaftliche Aufsichtsbehörde
gelegen, von Amtes wegen berichtigend einzugreifen.

3.
Die Berufungsklägerin rügt die konkrete Ausgestaltung des Besuchsrechts durch
das Obergericht in verschiedener Hinsicht als bundesrechtswidrig.

3.1 Das Obergericht hat ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte vorliegen
würden, dass das Kindeswohl mit der unbeaufsichtigten Ausübung des
Besuchsrechts durch den Berufungsbeklagten gefährdet wäre. An diese
tatsächliche Feststellung ist das Bundesgericht im Berufungsverfahren
gebunden (Art. 63 Abs. 2 OG). Die von der Berufungsklägerin angebrachte
Kritik an dieser Beweiswürdigung der Vorinstanz ist nicht zulässig (BGE 119
II 84 E. 3 S. 85; 128 III 390 E. 4.3.3 S. 398). Angebliche Aktenwidrigkeiten
und willkürliche Beweiswürdigung sind mit staatsrechtlicher Beschwerde zu
rügen.

3.2 Die Berufungsklägerin beanstandet, dass weder psychologische und
psychiatrische Untersuchungen des Berufungsbeklagten noch ein
kinderpsychiatrisches Gutachten angeordnet worden seien.

Das Einholen eines Gutachtens ist eine Beweismassnahme, welche die Behörde
auf Grund des im Kindesrecht geltenden Untersuchungsgrundsatzes anordnen
kann, aber nicht muss; der Entscheid darüber liegt in ihrem pflichtgemässen
Ermessen (Urteil des Bundesgerichts 5C.210/2000 vom 27. Oktober 2000, E. 2c,
publ. in: FamPra 2001 S. 606; Sutter/Freiburghaus, Kommentar zum neuen
Scheidungsrecht, 1999, N. 18 zu Art. 145 ZGB; Hegnauer, a.a.O., N. 49 zu Art.
275 ZGB). Insbesondere da das Obergericht keinerlei Anhaltspunkte einer
Gefährdung des Kindeswohls festgestellt hat, liegt im Verzicht auf eine
Begutachtung keine Bundesrechtsverletzung. Ebenso wenig besteht dadurch der
Bedarf nach Vervollständigung des Sachverhaltes im Sinne von Art. 64 Abs. 1
OG.

3.3 In Kinderbelangen, namentlich für die Regelung des Besuchsrechts, gilt
uneingeschränkt die Offizialmaxime (BGE 120 II 229 E. 1c S. 231; 122 III 404
E. 3d S. 408). Das Obergericht ist daher nicht an Parteianträge gebunden und
kann auch Anordnungen treffen, welche die Vorinstanz nicht in Erwägung
gezogen hat. Der Vorwurf der Berufungsklägerin, ein unbegleitetes
Besuchsrecht sei vor Bezirksamt nie Prozessthema gewesen, erweist sich daher
als unbegründet. Aus den gleichen Gründen ist auch der angebliche Verzicht
des Berufungsbeklagten auf sein Besuchsrecht unbeachtlich, zumal es das
Obergericht für fraglich gehalten hat, ob die Verzichtserklärung absolut
gemeint sei und sich nicht bloss auf die unhaltbare Besuchsrechtsanordnung
des Bezirksamtes bezogen habe.

3.4 Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und das
unmündige Kind haben gegenseitig Anspruch auf angemessenen persönlichen
Verkehr (Art. 273 Abs. 1 ZGB). Der persönliche Verkehr dient in erster Linie
dem Interesse des Kindes. Oberste Richtschnur für die Ausgestaltung des
persönlichen Verkehrs ist das Kindeswohl, das anhand der Umstände des
konkreten Einzelfalls zu beurteilen ist (BGE 123 III 445 E. 3b S. 451). Das
Besuchsrecht wird im Einzelnen nach richterlichem Ermessen festgesetzt (Art.
4 ZGB), weshalb das Bundesgericht entsprechende Entscheide nur mit einer
gewissen Zurückhaltung überprüft (BGE 120 II 229 E. 4a S. 235; 127 III 351 E.
4a S. 354).

Zumindest ein Teil der Lehre geht davon aus, dass ein externes Besuchsrecht
erst ab dem 3. Altersjahr des Kindes angebracht sei (Hegnauer, a.a.O., N. 80
zu Art. 273 ZGB, mit Hinweis). Das Bundesgericht hat sich bisher zu dieser
Frage noch nicht geäussert. Im vorliegenden Fall jedenfalls hat das
Obergericht durch die Gewährung eines solchen sein Ermessen nicht
überschritten, auch wenn die Tochter der Parteien erst zwei Jahre alt ist.
Das Obergericht hat einerseits keine Gefährdung ihres Kindeswohls durch die
unbeaufsichtigte Ausübung des Besuchsrechts durch den Berufungsbeklagten
festgestellt, andererseits auch berücksichtigt, dass angesichts der
Spannungen zwischen den Parteien ein von der Berufungsklägerin
beaufsichtigtes Besuchsrecht wenig praktikabel sei. In Anbetracht dieser
sachgerechten Erwägungen liegt keine Verletzung von Art. 273 Abs. 1 ZGB vor.

4.
Damit ist die Berufung abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens wird die Berufungsklägerin kostenpflichtig
(Art. 156 Abs. 1 OG). Sie schuldet dem Berufungsbeklagten allerdings keine
Parteientschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren, zumal keine
Berufungsantwort eingeholt wurde.

5.
Die Berufungsklägerin hat für das bundesgerichtliche Verfahren ein Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt. Die unentgeltliche
Rechtspflege ist einer Partei zu bewilligen, die bedürftig und deren Sache
nicht aussichtslos ist (Art. 152 Abs. 1 OG). Als aussichtslos sind nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung Prozessbegehren anzusehen, bei denen die
Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die
deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein
Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und
Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind
als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen
Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess
entschliessen würde (BGE 125 II 265 E. 4b S. 275; 127 I 202 E. 3a und b S.
204, je mit Hinweisen).

Die vorliegende Eingabe hat in weiten Teilen aus unzulässiger Kritik an der
Beweiswürdigung des Obergerichts bestanden. Auch soweit auf die Berufung
eingetreten werden konnte, haben sich die Gewinnaussichten als deutlich
geringer als die Verlustgefahren dargestellt. Dem Gesuch kann demnach wegen
Aussichtslosigkeit nicht stattgegeben werden, womit die Frage der
Bedürftigkeit nicht zu prüfen ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Berufungsklägerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche
Aufsichtsbehörde, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Juni 2003

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: