Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen P 87/2002
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P 87/02

Urteil vom 11. Juli 2003
II. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber
Krähenbühl

T.________, 1949, Beschwerdeführerin, vertreten durch das Vormundschaftsamt
Biel, Amtsvormundschaft I, Zentralstrasse 49, 2501 Biel,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 30. Oktober 2002)

Sachverhalt:

A.
Die 1949 geborene T.________, für welche seit 8. Mai 2000 eine freiwillige
Beistandschaft unter Einschluss der Einkommens- und Vermögensverwaltung
besteht, bezieht Ergänzungsleistungen zur Rente der Invalidenversicherung.
Diese beliefen sich Anfang September 2001 auf Fr. 2705.- monatlich. Damals
hielt sich T.________ in der Klinik W.________ auf. Am 13. September 2001
musste sie sich im Rahmen eines fürsorgerischen Freiheitsentzugs in die
Anstalt X.________ begeben. Nachdem sie hiegegen erfolgreich rekurriert hatte
und diese Institution am 3. Oktober 2001 wieder verlassen konnte, kam sie
zunächst im Haus A.________ in B.________ unter bis sie mit Hilfe ihres
Beistands eine betreute Wohnsituation in der Villa C.________ in B.________
fand, wo sie am 8. November 2001 eintrat.

Die seit September 2001 erfolgten Wechsel der Aufenthaltsorte meldete der
Beistand von T.________, der Ausgleichskasse des Kantons Bern am 11. Dezember
2001 im Rahmen eines Gesuchs um Anpassung der Ergänzungsleistungen. Die Kasse
nahm in der Folge eine Neuberechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs vor und
stellte fest, dass T.________ für die Zeit ab 1. September 2001 bis 31.
Januar 2002 insgesamt Fr. 7540.- zu viel ausbezahlt worden waren. Am 5.
Februar 2002 erliess sie eine entsprechende Rückerstattungsverfügung, welche
unangefochten in Rechtskraft erwachsen ist.

Ein am 1. März 2002 eingereichtes Gesuch um Erlass der Rückerstattungsschuld
lehnte die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 23. April 2002 ab, weil der
Antragstellerin die Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug nicht zugebilligt
werden könne.

B.
Die gegen die ablehnende Verfügung vom 23. April 2002 gerichtete Beschwerde
mit dem Begehren um Erlass der Rückerstatttungsschuld von Fr. 7540.- wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 30. Oktober 2002 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt T.________, vertreten durch ihren
Beistand, den Erlass der Rückerstattungsschuld im Teilbetrag von Fr. 5364.-
beantragen. Auf die Aufforderung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
vom 7. März 2003 hin, innert 14 Tagen einen Kostenvorschuss von Fr. 500.- zu
bezahlen, verbunden mit der Androhung, im Unterlassungsfall auf das erhobene
Rechtsmittel nicht einzutreten, ersucht sie mit Schreiben vom 14. März 2003
um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.

Die Ausgleichskasse schliesst unter Hinweis auf ihre im vorinstanzlichen
Verfahren eingereichten Rechtsschriften und den angefochtenen kantonalen
Entscheid auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführerin die rechtskräftig
festgestellte Rückerstattungsschuld über Fr. 7540.- erlassen werden kann.
Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Rückerstattungspflicht als
solche oder die Höhe des zurückverlangten Betrages beanstandet wird, kann
darauf nicht eingetreten werden, da die diesbezügliche Verfügung vom 5.
Februar 2002 rechtskräftig geworden ist, sodass darauf im vorliegenden
Verfahren nicht mehr zurückgekommen werden kann.

1.2 Nach ständiger Rechtsprechung geht es bei der Frage nach dem Erlass einer
Rückerstattungsschuld nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen im Sinne von Art. 132 OG (BGE 122 V 223 Erw. 2, 136
Erw. 1, 112 V 100 Erw. 1b, je mit Hinweisen). Das Eidgenössische
Versicherungsgericht hat daher lediglich zu prüfen, ob das vorinstanzliche
Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Die gesetzlichen Grundlagen für eine Rückforderung unrechtmässig bezogener
Ergänzungsleistungen (vgl. Art. 3a Abs. 7 lit. f ELG in Verbindung mit Art.
27 Abs. 1 ELV und Art. 47 Abs. 1 Satz 1 AHVG) sind im kantonalen Entscheid
zutreffend dargelegt worden, worauf verwiesen wird. Richtig sind auch die
vorinstanzlichen Ausführungen über die Voraussetzungen für einen Erlass der
Rückerstattungsschuld (vgl. Art. 3a Abs. 7 lit. f ELG in Verbindung mit Art.
27 Abs. 1 ELV und Art. 47 Abs. 1 Satz 2 AHVG), insbesondere über die bei der
Beurteilung der Erlassvoraussetzung des guten Glaubens zu beachtenden
Kriterien (vgl. auch BGE 122 V 223 Erw. 3, 112 V 103 Erw. 2c, 110 V 180 f.
Erw. 3c). Dasselbe gilt hinsichtlich der den Bezügern von
Ergänzungsleistungen, ihrem gesetzlichen Vertreter und bestimmten
Drittpersonen und Behörden, welchen die Ergänzungsleistung ausbezahlt wird,
obliegenden Pflicht, der Durchführungsstelle von jeder Änderung der
persönlichen und von jeder ins Gewicht fallenden Änderung der
wirtschaftlichen Verhältnisse unverzüglich Mitteilung zu machen (Art. 24
ELV), und der Auswirkungen einer Verletzung dieser Meldepflicht auf die Frage
nach dem Erlass einer Rückerstattungsschuld (BGE 112 V 103 Erw. 2c).

2.2 Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 23. April
2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw.
1.2).

3.
3.1 Hinsichtlich der Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts ist praxisgemäss zu unterscheiden zwischen dem guten
Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter
den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann oder ob er bei
zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen.
Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand und ist
daher Tatfrage, die nach Massgabe von Art. 105 Abs. 2 OG von der Vorinstanz
verbindlich beurteilt wird. Demgegenüber gilt die Frage nach der gebotenen
Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht,
festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen
Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE 122 V 223 Erw. 3, ARV
1998 Nr. 41 S. 237 Erw. 3, je mit Hinweisen).

3.2 Das kantonale Gericht hat zur Frage nach dem Unrechtsbewusstsein des -
auch mit der Einkommens- und Vermögensverwaltung betrauten - Beistandes,
dessen Verhalten sich die Beschwerdeführerin grundsätzlich anrechnen lassen
muss (vgl. bei Vormundschaft: BGE 112 V 105 f. Erw. 3b und c; bei
Beistandschaft: nicht veröffentlichter Entscheid C. vom 12. Juni 2003 [P
20/03]), nicht ausdrücklich Stellung genommen, sondern sich darauf
beschränkt, das Vorliegen des guten Glaubens unter dem Gesichtspunkt der
groben Fahrlässigkeit zu prüfen. Der angefochtene kantonale Entscheid enthält
demnach hinsichtlich des Unrechtsbewusstseins keine für das Eidgenössische
Versicherungsgericht verbindlichen Feststellungen, sodass einer freien
Überprüfung im letztinstanzlichen Verfahren nichts im Wege steht.

4.
4.1 Die Beschwerdeführerin hat in den Monaten September bis November 2001
ihren Wohn- resp. Aufenthaltsort mehrmals gewechselt. Dazu, dass dies jeweils
nicht unverzüglich der mit der Durchführung des Ergänzungsleistungswesens
betrauten Behörde gemeldet wurde, führt ihr Beistand in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wie schon in der dem kantonalen Gericht
eingereichten Beschwerdeschrift aus, die Unterbringungsorte in der Zeit
zwischen September und November 2001 seien Versuche oder Übergangslösungen
gewesen, bis sich mit dem Eintritt in die Villa C.________ am 8. November
2001 wieder eine stabile Wohnlösung abzeichnete; im Wissen um den
provisorischen Status habe er der Ausgleichskasse die veränderten
Wohnsituationen pauschal im Rahmen eines Revisionsgesuchs vom 11. Dezember
2002 (recte: 2001) gemeldet.

Objektiv betrachtet liegt damit zwar insofern eine Meldepflichtverletzung
vor, als der Ausgleichskasse von den verschiedenen Wohnortswechseln nicht
jeweils sofort Mitteilung gemacht wurde. Ob dies dem Beistand - entsprechend
dem von der Ausgleichskasse im kantonalen Verfahren eingenommenen Standpunkt
- bereits als den guten Glauben beim Leistungsbezug ausschliessende grobe
Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann, ist angesichts der bezüglich der
künftigen Wohnsituation in den knapp drei Monaten ab September bis November
2001 herrschenden Unsicherheit fraglich, kann doch immerhin davon ausgegangen
werden, dass seitens des Beistands immer die Absicht bestand, die
eingetretenen Veränderungen in der Lebenslage der Beschwerdeführerin
raschmöglichst bekannt zu geben und ihren Anspruch auf Ergänzungsleistungen
der neuen Situation anzupassen. Dafür, dass der Beistand davon absah, solange
er davon ausgehen musste, dass die jeweiligen Wohnverhältnisse nur
vorübergehend Bestand haben und kurzfristig mit erneuten Änderungen zu
rechnen ist, kann immerhin ein gewisses Verständnis aufgebracht werden. Ob
sich der Vorwurf eines grobfahrlässigen Verhaltens, das der Anerkennung des
nunmehr geltend gemachten guten Glaubens beim Leistungsbezug entgegenstehen
würde, dennoch rechtfertigen lässt, braucht indessen nicht abschliessend
geklärt zu werden.

4.2 Entscheidend ins Gewicht fällt, dass sich der Beistand der
Beschwerdeführerin gemäss seinen eigenen Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Tatsache bewusst war, dass mit dem
Verlassen der Klinik W.________, deren Kosten einen massgeblichen Bestandteil
der Grundlagen für die Festsetzung der ausgerichteten Ergänzungsleistungen
bildeten, auch Änderungen dieses Anspruchs verbunden sein können. Tatsächlich
räumt er selber ein, mit einer - wenn auch erheblich geringeren -
Rückerstattungsforderung gerechnet zu haben. Damit steht aber fest, dass er
beim Bezug der Ergänzungsleistungen spätestens ab Mitte September 2001 nicht
mehr darauf vertrauen konnte, dass der Beschwerdeführerin die ausgerichteten
Beträge in dieser Höhe auch tatsächlich vollumfänglich zustehen. Selbst wenn
er, wie ebenfalls geltend gemacht wird, ursprünglich davon ausgegangen sein
sollte, mit dem Aufenthalt in der Anstalt X.________ erhöhe sich der
Leistungsanspruch, muss ihm entgegengehalten werden, bei zumutbarer Sorgfalt
die Möglichkeit gehabt zu haben, seinen diesbezüglichen Irrtum entweder
selbst zu erkennen oder zumindest durch eine einfache Rückfrage bei der
Ausgleichskasse in Erfahrung zu bringen. Da er der durch die häufigen
Wohnortswechsel bedingten allfälligen Entwicklung der Anspruchsberechtigung
offenbar nicht die notwendige Beachtung schenkte, kann ihm der Vorwurf nicht
erspart bleiben, nicht das Mindestmass an Aufmerksamkeit aufgewendet zu
haben, welches jedem verständigen Menschen in gleicher Lage und unter den
gleichen Umständen als beachtlich hätte einleuchten müssen (BGE 110 V 181
Erw. 3d mit Hinweisen). Auch unter Berücksichtigung der sich überstürzenden
Ereignisse kann dies nicht als bloss leichte Nachlässigkeit gewertet werden.
Vielmehr ist von einer groben Pflichtwidrigkeit auszugehen, weshalb der
Berufung auf die Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug kein Erfolg beschieden
sein kann.
Desgleichen musste sich der Beistand der Beschwerdeführerin bei der
Entgegennahme der Zahlungen, die nach der am 11. Dezember 2001 erfolgten
Meldung der veränderten Verhältnisse noch auf der Basis der von der
Ausgleichskasse bis dahin berücksichtigten Ergänzungsleistungsberechnung
ausgerichtetet wurden, bewusst sein, dass diese den tatsächlichen
Leistungsanspruch überstiegen.

5.
Weil die Frage nach dem Erlass einer Rückerstattungsschuld
rechtsprechungsgemäss nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen im Sinne von Art. 134 OG betrifft (Erw. 1.2 hievor),
ist das Verfahren kostenpflichtig (Umkehrschluss aus Art. 134 OG). Die
Gerichtskosten sind grundsätzlich von der unterliegenden Beschwerdeführerin
zu tragen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Ihr kann jedoch
die beantragte unentgeltliche Prozessführung gewährt werden (Art. 152 in
Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die
Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen war (BGE 125 V 202 Erw. 4a
und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art.
152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege werden sie einstweilen auf
die Gerichtskasse genommen.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 11. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der II. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: