Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen P 54/2002
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P 54/02

Urteil vom 17. September 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari und nebenamtlicher Richter
Maeschi; Gerichtsschreiber Krähenbühl

V.________, 1950, Beschwerdeführer, handelnd durch seinen Vormund R.________,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Leistungen, Chutzenstrasse 10,
3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
Bern

(Entscheid vom 3. Juli 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1950 geborene, unter Vormundschaft stehende V.________ ist zufolge eines
psychischen Leidens Bezüger einer Rente der Invalidenversicherung. Ab 1.
Januar 1993 wurden ihm Ergänzungsleistungen ausgerichtet. Am 1. Januar 1994
starb sein Vater J.________ sen., am 1. Juni 1996 dessen zweite Ehefrau
M.________ und am 18. November 1996 dessen geschiedene erste Frau und Mutter
von V.________ A.________. Am 4. September 1998 schlossen  V.________ und
sein Bruder J.________ jun. als gesetzliche Erben einen Teilungsvertrag über
den Nachlass des J.________ sen. und der A.________, wobei Rückstellungen
betreffend die Eigengutforderungen der Erben von M.________ getätigt wurden.
Mit Urteil vom 5. Januar 2001 hiess der Präsident 2 des Gerichtskreises
X.________ die von der Erbengemeinschaft M.________ eingereichte
güterrechtliche Klage insoweit teilweise gut, als die Erbengemeinschaft
J.________, bestehend aus J.________ jun. und V.________, zur Bezahlung eines
Betrages von Fr. 112'053.-, nebst Zins, verpflichtet wurde.

Nachdem der Vormund von V.________ der Gemeindeausgleichskasse Y.________ am
29. Dezember 1998 den Erbfall gemäss Teilungsvertrag mitgeteilt hatte, nahm
die Ausgleichskasse des Kantons Bern eine Neuberechnung der
Ergänzungsleistungen vor und verfügte am 23. November 1999 die Rückerstattung
der ab 1. November 1996 zu viel ausgerichteten Leistungen in Höhe von Fr.
55'560.-; gleichzeitig verneinte sie einen weiteren
Ergänzungsleistungsanspruch für die Zeit ab 1. Juni 1999. Diese Verfügung ist
unangefochten in Rechtskraft erwachsen. Am 22. Dezember 1999 stellte der
Vormund von V.________ ein Erlassgesuch, welches von der Ausgleichskasse mit
Verfügung vom 3. Mai 2000 im Teilbetrag von Fr. 2453.-
(Rückerstattungsforderung ab 1. Januar 1999) gutgeheissen, im Übrigen aber
wegen fehlenden guten Glaubens beim Leistungsbezug (Meldepflichtverletzung)
abgewiesen wurde.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 3. Juli 2002 ab.

C.
Vertreten durch Amtsvormund R.________ führt V.________
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des
angefochtenen Entscheids sei die Rückerstattung der in der Zeit vom 1.
November 1996 bis 31. Dezember 1998 bezogenen Ergänzungsleistungen zu
erlassen; eventuell sei die Rückforderung angemessen herabzusetzen oder die
Sache an die Ausgleichskasse zur Festlegung einer angemessenen Rückerstattung
zurückzuweisen.

Auf die Aufforderung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 19.
September 2002 hin, einen Kostenvorschuss von Fr. 4000.- zu bezahlen, hat der
Vormund von V.________ um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
Mit Zwischenentscheid vom 18. Juni 2003 hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht das Begehren abgewiesen und eine neue Frist gesetzt,
innert welcher der Beschwerdeführer der Zahlungsaufforderung nachgekommen
ist.

Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob dem Beschwerdeführer die rechtskräftig
festgesetzte Rückerstattungsschuld im Restbetrag von Fr. 53'107.- (Fr.
55'560.- - Fr. 2453.-) erlassen werden kann. Soweit sich die
Beschwerdebegehren gegen die Höhe der Rückerstattungsforderung richten, ist
darauf nicht einzutreten. Ob das die güterrechtliche Auseinandersetzung
betreffende Urteil des Präsidenten 2 des Gerichtskreises X.________ vom 5.
Januar 2001 allenfalls Auswirkungen auf die Rückerstattungsschuld hat, ist im
vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen.

2.
2.1 Im vorinstanzlichen Entscheid werden die für den Erlass der
Rückerstattungsschuld geltenden Voraussetzungen (Art. 3a Abs. 7 lit. f ELG in
Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 ELV und Art. 47 Abs. 1 Satz 2 AHVG) und
insbesondere die bei der Beurteilung der Erlassvoraussetzung des guten
Glaubens zu beachtenden Kriterien (vgl. auch BGE 122 V 223 Erw. 3, 112 V 103
Erw. 2c, 110 V 180 Erw. 3c) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt hinsichtlich
der den Bezügern von Ergänzungsleistungen, ihrem gesetzlichen Vertreter und
bestimmten Drittpersonen und Behörden, welchen die Ergänzungsleistung
ausbezahlt wird, obliegende Pflicht, der Durchführungsstelle von jeder
Änderung der persönlichen und von jeder ins Gewicht fallenden Änderung der
wirtschaftlichen Verhältnisse unverzüglich Mitteilung zu machen (Art. 24
ELV), sowie der Auswirkungen einer Verletzung der Meldepflicht auf die Frage
nach dem Erlass einer Rückerstattungsschuld (BGE 112 V 103 Erw. 2c).

Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000, welches in Art. 25 Abs. 1 Satz 2 eine Bestimmung über den Erlass
unrechtmässig bezogener Leistungen enthält, im vorliegenden Fall nicht
anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: 3. Mai 2000) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen
vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw.
1.2).
2.2 Bei der Erlassfrage geht es nach ständiger Rechtsprechung nicht um die
Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen im Sinne von Art.
132 OG (BGE 122 V 136 Erw. 1 und 223 Erw. 2, 112 V 100 Erw. 1b, je mit
Hinweisen). Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat daher lediglich zu
prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist
(Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.3 Hinsichtlich der Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts ist praxisgemäss zu unterscheiden zwischen dem guten
Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter
den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann oder bei
zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen.
Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand und ist
daher Tatfrage, die nach Massgabe von Art. 105 Abs. 2 OG von der Vorinstanz
verbindlich beurteilt wird. Demgegenüber gilt die Frage nach der gebotenen
Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht,
festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen
Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE 122 V 223 Erw. 3, ARV
1998 Nr. 41 S. 237 Erw. 3, je mit Hinweisen).

Vorliegend hat das kantonale Gericht zur Frage des Unrechtsbewusstseins des
Vormundes, dessen Verhalten sich der Beschwerdeführer grundsätzlich anrechnen
lassen muss (BGE 112 V 105 Erw. 3b), nicht ausdrücklich Stellung genommen,
sondern sich darauf beschränkt, das Vorliegen des guten Glaubens unter dem
Gesichtspunkt der Meldepflichtverletzung zu prüfen. Der angefochtene
kantonale Entscheid enthält demnach hinsichtlich des Unrechtsbewusstseins
keine für das Eidgenössische Versicherungsgericht verbindlichen
Feststellungen, sodass einer freien Überprüfung im letztinstanzlichen
Verfahren nichts im Wege steht.

3.
3.1 In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass am 1. Januar 1994 der Vater und
am 18. November 1996 die Mutter des Beschwerdeführers gestorben ist. Als
gesetzliche Erben bildeten der Beschwerdeführer und sein Bruder eine
Erbengemeinschaft und erwarben als solche die Erbschaft mit dem Tode der
Erblasser (Art. 560 Abs. 1 ZGB). Unbestrittenermassen haben weder der
Beschwerdeführer selbst noch sein Vormund die Ausgleichskasse über den
Erbanfall in Kenntnis gesetzt. Erst Ende 1998 nach Unterzeichnung des
Teilungsvertrages ist eine entsprechende Meldung erstattet worden. Dies
obschon in den vom Vormund am 8. Februar 1995 und 16. Juli 1996 ausgefüllten
Gesuchsformularen ausdrücklich nach unverteilten Erbschaften gefragt wird.
Des Weiteren wird der Gesuchsteller im Anmeldeformular darauf aufmerksam
gemacht, dass er jede Änderung in seinen persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen der Gemeindeausgleichskasse sofort und unaufgefordert zu melden
hat. Dem Vertreter des Beschwerdeführers war die Meldepflicht demzufolge
bekannt und es liegt klarerweise eine Verletzung dieser Pflicht vor, was in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht nicht bestritten wird.

3.2 Der Vormund des Beschwerdeführers beruft sich auf den guten Glauben und
macht geltend, es könne ihm oder seinem Vorgänger keine Grobfahrlässigkeit,
sondern höchstens eine leichte Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden. Unter
Hinweis auf die Schwierigkeiten in der Mandatsführung und die unklare
Situation bezüglich der verschiedenen Nachlässe, die keine verlässlichen
Aussagen darüber zugelassen hätte, wie viel der Beschwerdeführer letztlich
erben würde, stellt er sich auf den Standpunkt, es sei nachvollziehbar, dass
die Erbschaft nicht schon früher gemeldet wurde; im Übrigen hätte selbst eine
erfolgte Meldung kaum Anlass zu einer sofortigen Einstellung der
Ergänzungsleistung gegeben, weil sich die Höhe der Erbschaft während Jahren
nicht habe abschätzen lassen und erst mit dem Teilungsvertrag vom September
1998 klar geworden sei, dass dem Beschwerdeführer die im Nachlass befindliche
Liegenschaft zufalle.

3.3 Hiezu ist zunächst festzuhalten, dass für die Anrechnung von
Erbschaftsvermögen der Zeitpunkt des Erwerbs der Erbschaft (Art. 560 ZGB)
massgebend ist und nicht derjenige, in welchem der
Ergänzungsleistungsansprecher über seinen Erbteil effektiv verfügen kann. Der
Anteil an einer unverteilten Erbschaft stellt ab dem Zeitpunkt der Eröffnung
des Erbganges grundsätzlich einen Vermögenswert dar, der auch im Rahmen der
Ergänzungsleistungsberechnung zu berücksichtigen ist (ZAK 1992 S. 327 Erw. 2c
und d). Im Hinblick auf die entsprechende Frage im Gesuchsformular kann sich
der Beschwerdeführer von vornherein nicht darauf berufen, er habe gutgläubig
davon ausgehen dürfen, die Erbschaft erst nach erfolgter Erbteilung melden zu
müssen. Es kann nicht Sache des Leistungsansprechers oder seines Vertreters
sein, über die Erheblichkeit einer anzuzeigenden Änderung zu befinden und
darüber zu entscheiden, ob und gegebenenfalls welche neuen Vermögenswerte zu
melden sind (ZAK 1986 S. 640 Erw. 3d; Urteil K. vom 9. Mai 2003 [P 58/02],
Erw. 3.2). Im Übrigen musste dem Vormund klar sein, dass die Erbschaft zu
einer Verbesserung der Vermögensverhältnisse seines Mündels und damit zu
einer Herabsetzung oder gar Aufhebung der Ergänzungsleistung führen dürfte.

Zu beachten ist indessen, dass eine Anrechnung unverteilten
Erbschaftsvermögens erst dann erfolgen kann, wenn über den Anteil des Erben,
der Ergänzungsleistungen beanspruchen will, Klarheit herrscht. Es stand zwar
fest, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder einzige Erben des
Nachlassvermögens waren. Auch nach Vorliegen der Erbschaftsinventare vom 17.
Januar 1996 und 11. September 1997 blieb der dem Beschwerdeführer effektiv
zustehende Erbanteil indessen weit gehend unbestimmt. Zum einen bestanden
Vorbezüge, über deren Anrechnung sich die Erben zunächst einigen mussten; zum
andern war mit güterrechtlichen Forderungen seitens der Erben von M.________
zu rechnen, welche in der Folge Anlass zu Rückstellungen gaben und
schliesslich zur Verpflichtung der Erben führten, Fr. 112'053.-, zuzüglich
Zins, zu bezahlen. Auch wenn sich das reine Nachlassvermögen laut
Teilungsvertrag vom 4. September 1998 auf Fr. 667'289.15 belief und von einem
anwartschaftlichen Anteil des Beschwerdeführers von schätzungsweise Fr.
200'000.- bis Fr. 300'000.- ausgegangen werden durfte, stand nicht fest, dass
ein Ergänzungsleistungsanspruch auf jeden Fall entfallen wird. Auch erlaubten
die vorhandenen Angaben noch keine Neuberechnung der Ergänzungsleistung.
Insbesondere fehlte es an einer Grundlage für die von der Ausgleichskasse
nachträglich vorgenommene Anrechnung der dem Beschwerdeführer zugefallenen
Liegenschaft. Diesbezüglich bestand erst auf Grund des Teilungsvertrages vom
4. September 1998 Klarheit. Im Anschluss an diesen Vertrag hat der Vormund
die Ausgleichskasse aber vom Vermögenszuwachs in Kenntnis gesetzt.

4.
Bei diesen Gegebenheiten ist dem Vormund des Beschwerdeführers zuzubilligen,
dass nachvollziehbare Gründe für ein Zuwarten mit der Meldung bestanden.
Diese vermögen ihn bezüglich der Meldepflichtverletzung zwar nicht zu
exkulpieren, lassen das Verschulden jedoch in einem milderen Licht
erscheinen. Eine Würdigung der gesamten Umstände führt zum Schluss, dass
keine grobe Pflichtwidrigkeit vorlag, welche die Berufung auf den guten
Glauben ausschliessen würde (BGE 110 V 180 f. Erw. 3c und d). Die Sache ist
daher an die Ausgleichskasse zurückzuweisen, damit diese prüfe, ob auch die
Erlassvoraussetzung der grossen Härte der verlangten Rückerstattung als
erfüllt gelten kann.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten
ist, werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 3.
Juli 2002 und die Verwaltungsverfügung vom 3. Mai 2000 aufgehoben, und es
wird die Sache an die Ausgleichskasse des Kantons Bern zurückgewiesen, damit
diese im Sinne der Erwägungen verfahre und über das Erlassgesuch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4000.- werden der Ausgleichskasse des Kantons Bern
auferlegt. Der vom Beschwerdeführer bezahlte Kostenvorschuss von Fr. 4000.-
wird zurückerstattet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 17. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:
i.V.