Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 94/2002
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2002
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2002


K 94/02

Urteil vom 16. Dezember 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiberin
Weber Peter

Firma X.________ AG, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans-Jürg Tarnutzer, Hartbertstrasse 1, 7002
Chur,

gegen

Öffentliche Kranken- und Unfallversicherungen AG, Schulstrasse 1, 7302
Landquart, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Martin
Schmid, Hartbertstrasse 11, 7002 Chur

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 3. Mai 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1972 geborene F.________ war bis Ende April 2001 bei der Firma X.________
AG als Gipser angestellt und über diese bei der Öffentlichen Kranken- und
Unfallversicherungen AG (nachfolgend: OeKK) kollektiv taggeldversichert. Am
8. Februar 2000 wurde er aufgrund eines Leistenbruchs rechts im Spital
Y.________ herniotomiert. Die Operation verlief problemlos und er konnte am
11. Februar 2000 nach Hause entlassen werden. Der damalige Hausarzt Dr. med.
K.________ attestierte dem Versicherten im ärztlichen Zeugnis vom 8. März
2000 für die Zeit vom 8. Februar bis 5. März 2000 eine 100%ige und
anschliessend eine 50%ige Arbeitsunfähigkeit. Der neue Hausarzt Dr. med.
W.________, der die Praxis übernommen hatte, schrieb den Versicherten bis zum
5. Oktober 2000 weiterhin zu 50 % arbeitsunfähig. Nachdem sich dieser trotz
diverser Aufforderungen vonseiten der OeKK zum Heilungsverlauf nicht
äusserte, attestierte der Vertrauensarzt der OeKK, Dr. med. G.________, im
Nachhinein eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % für die Zeit vom 8. Februar bis
5. März 2000 und von 50 % für die Zeit vom 6. März bis 19. April 2000. Die
weitergehende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von Dr. med. W.________
bezeichnete er als unverständlich (Bericht vom 18. Mai 2001). Eine erneute
Nachfrage des Vertrauensarztes Dr. med. T.________ vom 18. Juli 2001 beim
Hausarzt des Versicherten über den Grund der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit
blieb ebenfalls unbeantwortet. Mit Verfügung vom 26. November 2001 stellte
die OeKK fest, dass sie die versicherten Taggelder für die Zeit vom 8.
Februar bis 5. März 2000 aufgrund einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit und
anschliessend bis 19. April 2000 aufgrund einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit
geleistet habe und lehnte die Auszahlung weiterer Taggelder ab 20. April 2000
mangels rechtsgenüglichem Nachweis einer krankheitsbedingten
Arbeitsunfähigkeit ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 30. Januar
2002 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden ab (Entscheid vom 3. Mai 2002).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Firma X.________ AG beantragen,
in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die OeKK zu verpflichten, ihr
als Arbeitgeberin von F.________ Taggeldleistungen nach KVG auf der Basis
einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit auch für die Zeit vom 20. April bis 4.
Oktober 2000 zu erbringen.
Während die OeKK auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der sozialen Krankenversicherung
geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner
nach dem massgebenden Zeitpunkt des Einspracheentscheides (hier: 30. Januar
2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen unberücksichtigt zu
bleiben haben, sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

1.2 Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zum Beweiswert und zur
richterlichen Beweiswürdigung von ärztlichen Berichten (BGE 122 V 160 Erw.
1c; vgl. auch BGE 125 V 352 ff. Erw. 3) zutreffend wiedergegeben. Dasselbe
gilt für den im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 125 V 195, vgl. auch 126 V 360 Erw. 5b
mit Hinweisen). Darauf kann verwiesen werden.
Zu betonen bleibt, dass der Sozialversicherungsprozess vom
Untersuchungsgrundsatz beherrscht ist. Danach hat das Gericht von Amtes wegen
für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen
Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht
uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten der
Parteien (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen). Der
Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer
Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess
tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im
Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt,
die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese
Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist,
im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes aufgrund einer Beweiswürdigung einen
Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat,
der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Versicherte in der Zeit vom 20. April bis
4. Oktober 2000 krankheitsbedingt arbeitsunfähig war und ihm damit auch für
diese Zeit ein Anspruch auf Taggelder zusteht (Art. 72 Abs. 2 KVG).

2.1 Die Vorinstanz stützte sich in ihrem ablehnenden Entscheid bei der
Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit nach dem 20. April 2000 auf die
Ausführungen der Ärzte des Spitals Y.________, des ersten Hausarztes Dr. med.
K.________ und des Vertrauensarztes Dr. med. G.________, würdigte diese als
übereinstimmend und tat die abweichenden Angaben des zweiten Hausarztes Dr.
med. W.________ als nicht begründet ab. Demgegenüber vertritt die
Beschwerdeführerin u.a. die Auffassung, die Verwaltung habe nicht alles ihr
Zumutbare zu Abklärung des Sachverhalts unternommen. Das Verwaltungsgericht
hätte beim Vorliegen von sich widersprechenden medizinischen Berichten
weitere Abklärungen treffen müssen und sich nicht einfach mit der
Feststellung begnügen dürfen, das Arbeitsunfähigkeitszeugnis von Dr. med.
W.________ sei offensichtlich unzureichend belegt.

2.2 Aufgrund der Arztberichte des Spitals Y.________ (Operationsbericht vom
8. Februar 2000 und Austrittsbericht vom 10. Februar 2000) ist von einer
komplikationsfreien Leistenbruchoperation des Versicherten und einem
problemlosen peri- und postoperativen Verlauf auszugehen. Der Versicherte
konnte am 11. Februar 2000 das Spital unter der Auflage verlassen, während
sechs Wochen das Heben schwerer Lasten zu vermeiden. Danach stand er bei Dr.
med. K.________ und anschliessend bei seinem Praxisnachfolger Dr. med.
W.________ in Nachbehandlung. Im ärztlichen Zeugnis vom 8. März 2000
attestierte Dr. med. K.________ eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit vom 8.
Februar bis 5. März 2000 und "seither 50 %". Im Krankentag-Kontrollblatt der
OeKK bescheinigte er jedoch ab 6. März bis 18. April 2000 eine
Arbeitsunfähigkeit von 80 % und ab 19. April eine solche von 50 %. Dr. med.
W.________ bestätigte im gleichen Kontrollblatt nach dem ersten Arztbesuch
des Versicherten vom 12. Mai 2000 weiterhin eine 50%ige Arbeitsunfähigkeit
bis 4. Oktober 2000. Dies geschah aufgrund von ärztlichen Besuchen vom 6.
Juni, 25. Juli und 5. Oktober 2000. Die Angaben von Dr. med. K.________
erscheinen mithin als widersprüchlich. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz
kann somit nicht gesagt werden, der Vertrauensarzt Dr. med. G.________
bestätige diese Beurteilung in seinem Bericht vom 18. Mai 2001. Vielmehr geht
er von einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % vom 8. Februar bis 5. März 2000 und
von 50 % vom 6. März bis 19. April 2000 aus. Er stützte sich bei seiner
Einschätzung auf ärztliche Taggeld-Atteste auf dem Formular der OeKK, auf den
Operations- und Austrittsbericht des Spitals Y.________ (vom 10. Februar
2000) sowie auf telefonische Gespräche mit Dr. med. M.________ (vom 16. Mai
2001), Dr. med. K.________ (vom 17. Mai 2001) und der OeKK (vom 18. Mai
2001). Zu diesen Telefongesprächen findet sich nichts in den Akten. Die
abweichende Einschätzung zu Dr. med. K.________ wird nicht begründet. Es wird
lediglich ausgeführt, die von Dr. med. W.________ bestätigte
Arbeitsunfähigkeit sei für ihn unverständlich. Auffällig sei auch, dass Dr.
med. W.________ trotz mehreren Aufforderungen keinen schriftlichen Bericht
geliefert habe, ebenso die seltenen Konsultationen bei der langen
Arbeitsunfähigkeit.
Bei dieser Ausgangslage kann entgegen der Vorinstanz nicht von einer
übereinstimmenden Sachverhaltsdarstellung der verschiedenen andern Ärzte
gesprochen werden. Zudem erfüllen weder die Aussagen des Dr. med. K.________
noch diejenige des Vertrauensarztes die Kriterien, welche
rechtsprechungsgemäss für beweiskräftige ärztliche Entscheidungsgrundlagen
gelten (BGE 125 V 352 ff. Erw. 3), weshalb darauf nicht ohne weiteres
abgestellt werden kann. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht bemängelt,
handelt es sich beim vertrauensärztlichen Bericht vom 18. Mai 2001 um eine
Schätzung der Arbeitsunfähigkeit im Nachhinein. Aktuelle Befunde liegen keine
vor. Nachdem der Vertrauensarzt vom zuständigen Hausarzt auch nach
mehrmaligen Nachfragen die erforderlichen Angaben nicht erhielt, hätte er in
Anwendung von Art. 57 Abs. 6 KVG den Versicherten unter vorgängiger
Benachrichtigung des behandelnden Arztes persönlich untersuchen können und
auch müssen. Eine retrospektive Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit vermag ein
ärztliches Attest, das ausgewiesenermassen aufgrund von
Patientenuntersuchungen erstellt wurde, nicht ohne weiteres zu entkräften.
Zwar sind im Nachhinein und nach Abschluss des Heilungsprozesses
weitergehende Abklärungen zur Festlegung des Grades der Arbeitsunfähigkeit
schwierig, entgegen der Auffassung der Vorinstanz jedoch nicht unmöglich. So
verfügt, wie die Beschwerdeführerin vorbringt, der Bezirksarzt, Dr. med.
E.________, über die entsprechenden Aufzeichnungen des Dr. med. W.________,
der offenbar bereits im Jahre 2001 kaum mehr ansprechbar war. Zudem kann
nachträglich ein Bericht der Arbeitgeberin über die Beschwerden des
Versicherten und dessen Arbeitseinsatz eingeholt werden und allenfalls im
Rahmen eines externen Gutachtens anhand der vorhandenen medizinischen
Unterlagen die Arbeitsunfähigkeit in der fraglichen Zeit neu beurteilt
werden.

2.3 Zusammenfassend ergibt sich, dass eine abschliessende Beurteilung des
medizinischen Sachverhalts bzw. der Arbeitsunfähigkeit in der fraglichen Zeit
aus den dargelegten Gründen nicht möglich ist, ohne dass dies als (sich zu
Lasten des Versicherten auswirkende) Beweislosigkeit betrachtet werden kann
(vgl. Erw. 1.2 hievor), da mit Blick auf die Ausführungen der
Beschwerdeführerin nicht ausgeschlossen ist, dass weitere Untersuchungen eine
Klärung herbeizuführen vermöchten (BGE 121 V 208 Erw. 6a, 117 V 264 Erw. 3b).
Indem Vorinstanz und Verwaltung auf zusätzliche Abklärungen verzichteten,
verletzten sie einerseits die ihnen durch den Untersuchungsgrundsatz
auferlegte Pflicht zur vollständigen Abklärung des rechtserheblichen
Sachverhalts und anderseits den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Mithin
ist die Sache zur Durchführung weiterer Abklärungen im Sinne der Erwägungen
an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 3. Mai 2003
sowie der Einspracheentscheid vom 30. Januar 2002 aufgehoben werden und die
Sache an die Öffentliche Kranken- und Unfallversicherungen AG zurückgewiesen
wird, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den
Taggeldanspruch des Beschwerdeführers vom 20. April bis 4. Oktober 2000
erneut befinde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Öffentliche Kranken- und Unfallversicherungen AG hat dem Beschwerdeführer
für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 16. Dezember 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: