Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 42/2002
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K 42/02

Urteil vom 21. Januar 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiberin
Kopp Käch

P.________, 1997, Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Eltern und diese
vertreten durch Notar Richard Martin, Neuengasse 20, 3011 Bern,

gegen

VISANA, Juristischer Dienst, Weltpoststrasse 19/21, 3000 Bern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 12. März 2002)

Sachverhalt:

A.
Die 1997 geborene P.________ stürzte am 2. Oktober 2000 von einem Stuhl und
zog sich dabei eine Schädigung an Zahn 61 (Kronenfraktur mit
Pulpabeteiligung) zu. Der erstbehandelnde Zahnarzt Dr. med. dent. H.________
verwies das Kind zur Weiterbehandlung an Frau Dr. med. dent. G.________.
Anlässlich der Konsultation vom 19. Oktober 2000 nahm die Zahnärztin zwei
Fotos auf und vermerkte im Formular "Zahnschäden gemäss KVG; Befunde/
Kostenvoranschlag", das Kind tobe und sei völlig unkooperativ; die Extraktion
des Zahnes sei in Narkose vorgesehen. Die Visana teilte Frau Dr. med. dent.
G.________ mit Schreiben vom 24. Oktober 2000 mit, der Kostenvoranschlag für
die vorgesehene Behandlung könne nicht innert zehn Arbeitstagen beurteilt
werden. Am 27. Oktober 2000 nahm die Zahnärztin in der Klinik S.________ die
Zahnextraktion unter Narkose vor und sanierte zusätzlich zwei kariöse Zähne.
Die Klinik stellte den Eltern der Versicherten am 8. November 2000 Rechnung
über den Betrag von Fr. 1399.30.

Am 17. November 2000 anerkannte die Visana ihre Leistungspflicht bezüglich
Behandlung an Zahn 61 (Extraktion), verneinte indessen die Übernahme der
Zusatzkosten für die Hospitalisation und Anästhesie, da die Karies an den
Zähnen 54 sowie 64 nicht durch das Unfallereignis entstanden sei. Mit
Schreiben vom 22. November 2000 legte die behandelnde Zahnärztin dar, die
Narkose sei zur Extraktion des abgebrochenen Zahnes erforderlich gewesen.
Durch die gleichzeitige Sanierung der kariösen Läsionen seien bezüglich
Narkose keine Mehrkosten entstanden. Die übrigen Kosten für die Sanierung
dieser beiden Zähne würden nicht der Krankenkasse in Rechnung gestellt. Nach
mehrmaligem Beizug des Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. X.________ lehnte
die Visana mit Verfügung vom 28. Juni 2001 die Übernahme der Kosten der
Rechnung der Klinik S.________ von Fr. 1399.30 ab, mit Ausnahme des bereits
vergüteten Betrages von Fr. 60.45 für eine Lokalanästhesie und eine
Extraktion. An diesem Standpunkt hielt die Krankenkasse mit
Einspracheentscheid vom 24. August 2001 fest.

B.
Mit Beschwerde liessen die Eltern von P.________ beantragen, die Visana sei
zu verpflichten, ihnen den Betrag von Fr. 1399.30 zuzüglich 5 % Zins seit dem
18. Juni 2001 zu bezahlen. Die Visana schloss unter Hinweis auf eine
vertrauensärztliche Beurteilung des Dr. med. T.________, FMH Innere Medizin,
FMH Allgemeinmedizin, vom 13. November 2001 auf Abweisung der Beschwerde. Mit
Entscheid vom 12. März 2002 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die
Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lassen die Eltern von P.________ den im
vorinstanzlichen Verfahren gestellten Antrag erneuern. Gleichzeitig geben sie
ein Schreiben der Frau Dr. med. dent. G.________ vom 14. April 2002 zu den
Akten.

Die Visana schliesst unter Hinweis auf eine Beurteilung des Vertrauensarztes
Dr. med. A.________, FMH für Anästhesiologie, vom 4. Juni 2002 auf Abweisung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Bezugnehmend auf die Stellungnahme der Visana lassen die Eltern von
P.________ an ihrer Beschwerde festhalten und geltend machen, die
vertrauensärztliche Beurteilung vom 4. Juni 2002 sei aus den Akten zu weisen,
da das Beweisverfahren abgeschlossen sei.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
Massgebend für die Beurteilung der Gesetzmässigkeit der angefochtenen
Verfügung ist der Sachverhalt, der zur Zeit des Einspracheentscheids gegeben
war (BGE 122 V 422 Erw. 4a, 121 V 366 Erw. 1b, je mit Hinweisen). Im Rahmen
der erweiterten Kognition sind auch neue Tatsachenbehauptungen und
Beweismittel zulässig.

1.2 Die Beschwerdeführerin hat mit ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde eine
Stellungnahme der behandelnden Zahnärztin vom 14. April 2002 neu aufgelegt,
wozu sie berechtigt war (BGE 127 V 353). Wenn die Beschwerdegegnerin diese im
Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens ihrem Vertrauensarzt unterbreitet und
mit ihrer Stellungnahme dessen schriftliche Meinungsäusserung auflegt, ist
dagegen in Anbetracht der Wahrung des rechtlichen Gehörs nichts einzuwenden,
zumal die Beschwerdeführerin nochmals Gelegenheit erhalten hat, sich dazu zu
äussern. Entgegen deren Auffassung ist sodann das Beweisverfahren nicht
abgeschlossen worden.

2.
Die Vorinstanz hat die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über den
Anspruch auf Leistungen der sozialen Krankenversicherung für zahnärztliche
Behandlungen bei Unfall (Art. 1 Abs. 2 KVG, Art. 28 KVG, Art. 31 Abs. 2 KVG)
und über die Voraussetzungen der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und
insbesondere der Wirtschaftlichkeit der Behandlung (Art. 32 Abs. 1 KVG, Art.
56 Abs. 1 KVG) zutreffend dargelegt. Richtig ausgeführt hat das kantonale
Gericht sodann, dass die zum altrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgebot nach
Art. 23 KUVG entwickelten Grundsätze auch im Rahmen des KVG ihre Gültigkeit
bewahrt haben (BGE 126 V 339 Erw. 2b, 124 V 365 Erw. 1b mit Hinweisen).
Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier: 24. August
2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1,
121 V 366 Erw. 1b).

3.
Unbestritten ist vorliegend, dass die Krankenkasse grundsätzlich aus der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die Behandlung des
frakturierten Zahnes als Unfallfolge aufzukommen hat, dass indessen die
gleichzeitige Sanierung zweier kariöser Zähne nicht zu ihren Lasten geht.
Streitig und zu prüfen ist somit einzig die Frage, ob die für die Entfernung
des Milchzahnes durchgeführte Vollnarkose das Erfordernis der
Wirtschaftlichkeit der Behandlung im Sinne von Art. 32 Abs. 1 und Art. 56
Abs. 1 KVG erfüllt.

3.1 Die Krankenkasse begründet die Verweigerung der Übernahmen der
Hospitalisations- und Anästhesiekosten damit, dass die Extraktion des
frakturierten Milchzahnes unter Vollnarkose unangemessen und nicht
wirtschaftlich sei. Eine Behandlung in Vollnarkose wäre erst dann zu
rechtfertigen gewesen, wenn nachweisbar alle Möglichkeiten der Sedation
ausgeschöpft worden wären und der Eingriff trotzdem nicht durchführbar
gewesen wäre. Sie stützt sich dabei auf die Beurteilungen ihrer
Vertrauenszahnärzte und Ärzte Dr. med. dent. X.________, Dr. med. T.________
und Dr. med. A.________.

3.2 Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber geltend, im konkreten Fall sei
keine kostengünstigere Lösung für die notwendige zahnärztliche Behandlung
möglich gewesen. Dem erstbehandelnden Zahnarzt Dr. med. dent. H.________ sei
es nicht gelungen, das Kleinkind so zu beruhigen, dass die notwendige
Extraktion habe vorgenommen werden können, weshalb er die weitere Behandlung
an Frau Dr. med. dent. G.________, kompetente und ausgewiesene Zahnärztin für
Angstpatienten und Kinder, übergeben habe. Diese habe, bevor sie sich zum
Schritt der Vollnarkose entschieden habe, ebenfalls versucht, das Kind mit
Beruhigungsmitteln ruhig zu stellen, was ihr indessen nicht gelungen sei.
Trotz einer allfälligen Verabreichung von Beruhigungsmitteln hätte die Gefahr
einer Abwehr durch das Kind bestanden und bei Abgabe einer Spritze wären nach
Aussage der behandelnden Zahnärztin sogar tödliche Verletzungen möglich
gewesen. Kritisiert wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor allem das
einseitige Abstellen auf die vertrauensärztlichen Stellungnahmen.

4.
Die Vorinstanz hat die verschiedenen Berichte der behandelnden Zahnärztin vom
22. November 2000 und 27. Februar 2001 sowie die vertrauensärztlichen
Beurteilungen des Dr. med. dent. X.________ vom 20. Januar und 17. März 2001
und des Dr. med. T.________ vom 13. November 2001 gewürdigt und ist zum
Schluss gekommen, dass es bei der Extraktion des frakturierten Milchzahnes um
einen relativ geringfügigen Eingriff ging, dessen Dringlichkeit
ausgeschlossen werden könne. Unter diesen Umständen wäre ein kurzes Zuwarten
und ein neuerlicher Abgabeversuch von Beruhigungsmitteln angezeigt gewesen.
Da die von Dr. med. dent. G.________ am 27. Oktober 2000 vorgenommene
Vollnarkose somit durch eine wesentlich weniger kostspielige Behandlung
ersetzbar gewesen wäre, könne sie nicht als wirtschaftlich gelten und falle
nicht unter die Leistungspflicht der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung. Diesen Ausführungen ist beizupflichten. Daran
vermögen die im Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren neu aufgelegten
ärztlichen Beurteilungen nichts zu ändern. Während Dr. med. dent. G.________
im Schreiben vom 14. April 2002 an ihrem bereits vertretenen Standpunkt
festhält, kommt der Vertrauensarzt der Krankenkasse in der Beurteilung vom 4.
Juni 2002 im Wesentlichen zur gleichen Auffassung wie die bereits
beigezogenen Vertrauensärzte, wonach nämlich kein notfallmässiger Eingriff
vorliege und die Möglichkeiten der Sedation nicht voll ausgeschöpft worden
seien. Bei einem zweizeitigen Vorgehen hätte seiner Meinung nach die Sedation
genügend Wirkung gezeigt, um eine Lokalanästhesie mit einer feinen Nadel
setzen zu können. Bei korrekter Anwendung sei die von Frau Dr. med. dent.
G.________ befürchtete tödliche Verletzungsgefahr nicht vorhanden. Die
Extraktion könne nach der Lokalanästhesie schmerzfrei durchgeführt werden.
Eine Intubaktionsnarkose, wie vorliegend durchgeführt, sei seiner Ansicht
nach nur zu rechtfertigen, wenn nachweisbar alle Möglichkeiten der Sedation
ausgeschöpft seien und der Eingriff unter vorerwähnten Massnahmen trotzdem
nicht durchführbar sei. Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde das
einseitige Abstellen auf die vertrauensärztliche Beurteilung des Dr. med.
T.________ kritisiert wird, ist dem entgegenzuhalten, dass diese - wie
erwähnt - sowohl mit der Beurteilung des Dr. med. dent. X.________, der sich
wiederum in einer Versammlung verschiedener Vertrauenszahnärzte
rückversichert hatte, wie auch mit derjenigen des Dr. med. A.________
übereinstimmt. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin hat sich Dr.
med. dent. X.________ denn auch dahingehend geäussert, dass eine Narkose im
konkreten Fall nach einstimmiger Meinung der versammelten Vertrauenszahnärzte
nicht gerechtfertigt war. Seine Empfehlung im Schreiben vom 17. März 2001,
die Narkosekosten in Anbetracht der Kosten für eine juristische
Auseinandersetzung zähneknirschend zu übernehmen, hat auf die Beurteilung des
Erfordernisses der Wirtschaftlichkeit der Behandlung keinen Einfluss. Ebenso
wenig können unter diesem Gesichtspunkt - wie das kantonale Gericht dargelegt
hat - andere Umstände wie beispielsweise der teure Einkauf als Belegärztin in
die Klinik S.________, die belastende Tätigkeit als Spezialistin für
Angstpatienten und Kinder usw. mitberücksichtigt werden. Bei dieser Sachlage
ist die Verneinung der Leistungspflicht im Rahmen der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung für die Hospitalisations- und Anästhesiekosten
nicht zu beanstanden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 21. Januar 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: