Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 35/2002
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K 35/02
K 36/02

Urteil vom 29. März 2004

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari,
Lustenberger und Ursprung; Gerichtsschreiberin Riedi Hunold

K 35/02
CSS Kranken-Versicherung AG, Rösslimattstrasse 40, 6005 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

W.________, 1992, Beschwerdegegner, handelnd durch seine Eltern S.________
und I.________, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hebeisen,
Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen,

und

K 36/02
W.________, 1992, Beschwerdeführer, handelnd durch seine Eltern S.________
und I.________, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hebeisen,
Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen,

gegen

CSS Kranken-Versicherung AG, Rösslimattstrasse 40, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden
(Entscheid vom 16. Januar 2002)

Sachverhalt:

A.
W. ________ (geboren 1992) ist bei der CSS Versicherung (heute: CSS
Kranken-Versicherung AG; nachfolgend: CSS) unter anderem im Rahmen des
Obligatoriums krankenpflegeversichert. Nach Abklärung durch ihren
Vertrauensarzt lehnte die CSS mit Schreiben vom 18. Januar 2000 das Gesuch um
Kostengutsprache für die von Dr. med. K.________, Facharzt für Pädiatrie,
verordnete Ergotherapie ab, da es sich um keine Pflichtleistung nach KVG
handle. Nachdem weitere Arztberichte eingereicht wurden, lehnte die CSS mit
Verfügung vom 30. August 2000, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 21.
Dezember 2000, die Übernahme der Ergotherapiekosten ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 16. Januar 2002 teilweise gut und verpflichtete die
CSS zur Übernahme der Kosten bis Juli 2000.

C.
Sowohl die CSS als auch W.________ führen Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die
CSS beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids, soweit sie damit
verpflichtet werde, die Kosten für die Ergotherapie zu übernehmen und eine
Parteientschädigung zu bezahlen. Demgegenüber verlangt W.________, die CSS
sei zu verpflichten, die Kosten für die durchgeführte ergotherapeutische
Behandlung bis zum 26. Januar 2001 zu übernehmen.

Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau schliesst auf Abweisung der beiden
Verwaltungsgerichtsbeschwerden. Sowohl die CSS als auch W.________ beantragen
die Abweisung der gegnerischen Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt
für Sozialversicherung, Abteilung Krankenversicherung (seit 1. Januar 2004 im
Bundesamt für Gesundheit), verzichtet auf eine Stellungnahme.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da den beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden derselbe Sachverhalt zu Grunde
liegt, sich die gleichen Rechtsfragen stellen und die Rechtsmittel den
nämlichen vorinstanzlichen Entscheid betreffen, rechtfertigt es sich, die
beiden Verfahren zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu erledigen (BGE
128 V 126 Erw. 1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 128 V 194 Erw. 1).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die CSS die Kosten der Ergotherapie des
Versicherten von Januar 2000 bis Januar 2001 zu übernehmen hat.

2.1 Die Vorinstanz bejahte die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV,
indem sie sich auf ein von einer interdisziplinären Konsenskonferenz von
Ärzten und Versicherern entwickeltes Erfassungsblatt (Scoreblatt) abstützte,
gemäss welchem Dr. med. H.________ am 27. November 2001 den Störungen bis
Juli 2000 Krankheitswert zusprach.

2.2 Die CSS vertritt die Ansicht, die blosse Tatsache, dass ein Arzt eine
Therapie verordne, führe noch nicht zur Leistungspflicht der Krankenkasse.
Erforderlich sei das Vorliegen einer Krankheit im Rechtssinne. Die Störungen
des Versicherten beträfen durchwegs die Schule und seien pädagogisch, nicht
aber medizinisch zu behandeln. Die notwendigen Förderungsmassnahmen gingen
nicht zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.

2.3 Dem hält der Versicherte entgegen, die Störungen würden ihn auch im
Alltag behindern. Es handle sich um erhebliche Beeinträchtigungen der
Gesundheit. Ihnen komme auch über den von der Vorinstanz genannten Zeitpunkt
hinaus Krankheitswert zu.

3.
Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für
Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen
dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Diese Leistungen umfassen unter anderem die
Behandlungen, die ambulant von Personen durchgeführt werden, welche auf
Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen
(Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG). Zu diesen Personen, welche auf ärztliche
Anordnung hin und in selbstständiger Weise sowie auf eigene Rechnung
Leistungen erbringen, gehören unter anderem Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen (Art. 46 Abs. 1 lit. b KVV). Gemäss Art. 6 Abs. 1 KLV
übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten der
Leistungen, die auf ärztliche Anordnung hin von Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen erbracht werden, soweit sie der versicherten Person bei
somatischen Erkrankungen durch Verbesserung der körperlichen Funktionen zur
Selbstständigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen verhelfen (lit. a)
oder im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung durchgeführt werden (lit. b).
Die KLV umschreibt somit nicht die einzelnen zu vergütenden Leistungen in der
Ergotherapie, sondern beschränkt sich auf die Formulierung des Ziels (vgl.
Hürlimann, in: Krankenversicherung, Ein Ratgeber aus der Beobachter-Praxis,
Zürich 1998, S. 163). Allgemein gilt im Krankenversicherungsrecht, dass es
sich beim Begriff Krankheit um einen Rechtsbegriff handelt, welcher sich
nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff deckt (BGE 124
V 121 Erw. 3b mit Hinweisen). Demnach ist es letztlich Aufgabe des
Sozialversicherungsgerichts, über die Leistungspflicht der Krankenversicherer
zu entscheiden.

4.
Nachdem vorliegend weder eine psychiatrische Behandlung des Versicherten
erfolgte noch empfohlen wurde, fällt die Übernahme der Kosten der
Ergotherapie gestützt auf Art. 6 Abs. 1 lit. b KLV von vornherein ausser
Betracht.

5.
Zu prüfen bleibt, ob allenfalls eine somatische Erkrankung im Sinne von Art.
6 Abs. 1 lit. a KLV vorliegt.

5.1
5.1.1Ausgangslage ist die Diagnose einer "Entwicklungsstörung der motorischen
Funktionen" (F82, ICD-10). Diese wird gemäss der internationalen
Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation bei den psychischen Störungen
eingeordnet (ICD-10, Kapitel V) und umfasst als Hauptmerkmal eine schwer
wiegende Beeinträchtigung der Entwicklung der motorischen Koordination, die
nicht allein durch eine Intelligenzverminderung oder eine umschriebene
angeborene oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist; üblicherweise
ist die motorische Ungeschicklichkeit verbunden mit einem gewissen Grad von
Leistungsbeeinträchtigungen bei visuell-räumlichen Aufgaben
(Weltgesundheitsorganisation [WHO], Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische Leitlinien, 4. Aufl.,
Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2000, S. 279 ff.; vgl. auch Warnke,
Entwicklungsstörungen, in: Möller/Laux/Kapfhammer, Psychiatrie und
Psychotherapie, Berlin/Heidelberg/New York 2000, S. 1603 ff.).
5.1.2 Diese motorischen Störungen sind bei Kindern häufig. Sie behindern
diese im Alltag und insbesondere in der Schule. Leichten derartigen
Entwicklungsstörungen wird in der Regel durch Massnahmen wie Förderunterricht
in kleinen Gruppen, Besuch einer Einführungsklasse, gezielte
Freizeitaktivitäten wie Judo oder Karate etc. begegnet. Diese stellen
pädagogische Massnahmen dar, da sie auf eine Erziehung im Sinne einer
günstigen Beeinflussung des Verhaltens und der anlagemässig gegebenen
Möglichkeiten zielen (Eugster, Krankenversicherung, Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz. 84 und Fn. 176). Somit
fallen sie - im Gegensatz zu medizinischen Massnahmen - nicht unter die
Leistungspflicht der Krankenversicherer (vgl. bezüglich der mit den
motorischen Störungen verwandten Entwicklungsstörungen schulischer
Fertigkeiten [F 81, ICD-10] Eugster, a.a.O., Rz. 84).

5.1.3 Eine Behandlung dieser motorischen Störungen kann auch im Rahmen einer
Ergotherapie erfolgen.

Bei einer Ergotherapie werden im Allgemeinen alltägliche Lebensverrichtungen
wie Essen, Waschen, Ankleiden, Schreiben oder der Umgang mit anderen Menschen
geübt; daraus erhellt, dass sich Ergotherapie im Rahmen der
Krankenversicherung vor allem auf die Rehabilitation nach einer schweren
Krankheit oder einem schweren Unfall bezieht und die weitestmögliche
Selbstständigkeit im täglichen Leben sowie im Beruf bezweckt (Hürlimann,
a.a.O., S. 163 f.; vgl. auch Pschyrembel, 259. Aufl., Berlin 2002, S. 477).
Demnach ist eine ergotherapeutische Behandlung einer leichten
Entwicklungsstörung, welche vornehmlich mit pädagogischen Mitteln arbeitet,
atypisch und eine restriktive Unterstellung unter Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV
folgerichtig. Ist hingegen eine schwer wiegende Störung gegeben, welche
somatische Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem Alltagsleben
erheblich beeinträchtigen, ist eine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6
Abs. 1 lit. a KLV und somit die Kostenpflicht der Krankenversicherer zu
bejahen.

5.2 Dr. med. H.________, Oberarzt Neuropädiatrie, Klinik X.________,
bestätigt in seinem Bericht vom 8. November 1999 die von Dr. med. K.________
festgestellten Teilleistungsstörungen im Bereich der taktil-kinästhetischen
bzw. verbal-auditiven Wahrnehmung. Komplexe Bewegungen konnten mit erhöhtem
Zeitaufwand durchgeführt werden. Hinweise auf Aufmerksamkeitsstörungen und
damit auf ein psychosomatisches Syndrom (POS) fanden sich nicht.

In seinem Bericht vom 27. Januar 2000 erwähnt Dr. med. K.________ deutliche
Wahrnehmungsstörungen, welche nicht nur den schulischen Bereich, sondern die
Gesundheit des Versicherten beträfen.

Die diplomierte Psychologin F.________, Klinik X.________, stellt im Bericht
vom 27. Januar 2000 ein durchschnittliches kognitives Leistungsniveau mit
einer Schwäche im Bereich der auditiven Merkspanne, Schwierigkeiten bei der
selbstständigen Strukturierung von gespeicherten Inhalten und deren Abrufen
aus dem Gedächtnis sowie feinmotorische Schwierigkeiten fest. Im Übrigen
werden eine normale Affektivität, Kontaktfähigkeit und
Konzentrationsfähigkeit festgehalten.

In seinem Schreiben vom 25. Januar 2001 an den Rechtsvertreter des
Versicherten stellt Dr. med. H.________ die motorische Dysfunktion einer
somatischen Erkrankung im Sinne von Art. 6 KLV gleich. Abgesehen davon, dass
er hiefür keine Begründung angibt, nimmt er auch eine für eine medizinische
Fachperson unzulässige rechtliche Subsumtion vor (AHI 2000 S. 152 Erw. 2c mit
Hinweis).

In einem weiteren Bericht vom 28. April 2001 setzt sich Dr. med. H.________
auf Aufforderung des Rechtsvertreters des Versicherten mit der Stellungnahme
des Vertrauensarztes der CSS auseinander und wiederholt die bereits früher
geäusserten Befunde.

5.3 Nach dem Gesagten ergibt sich aus keinem der Berichte, dass der
Versicherte im hier massgeblichen Zeitpunkt (Herbst 1999) unter einer schwer
wiegenden Störung litt, die ihn in seinen alltäglichen Verrichtungen
erheblich beeinträchtigte und somit den Begriff der somatischen Erkrankung im
Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV erfüllt. Dabei ist unbeachtlich, dass nach
Ansicht des Dr. med. H.________ gestützt auf das Scoreblatt eine
Behandlungsbedürftigkeit ausgewiesen ist (Bericht vom 1. November 2001, im
Auftrag des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau verfasst). Denn
einerseits handelt es sich bei diesem Scoreblatt um ein im Rahmen einer
interdisziplinären Konsenskonferenz von Ärzten und Versicherern
ausgearbeitetes Erfassungsblatt zur Beurteilung der Behandlungsbedürftigkeit
(vgl. SÄZ 2001 S. 1793 ff), welches bei den einzelnen Beurteilungskriterien
einen erheblichen Ermessensspielraum der medizinischen Fachperson zulässt und
somit lediglich ein Hilfsmittel zur Beantwortung der Frage der
Leistungspflicht darstellt. Andererseits hält Dr. med. H.________ in seinem
Bericht nur eine leichte motorische Dysfunktion sowie eine leichte Dyspraxie
fest, womit selbst unter Berücksichtigung der attestierten Fortschritte bei
Aufnahme der Ergotherapie keine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6
Abs. 1 lit. a KLV vorlag.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verfahren K 35/02 und K 36/02 werden vereinigt.

2.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde der CSS Kranken-Versicherung
AG wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 16.
Januar 2002 aufgehoben. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Versicherten
wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 29. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: